Kriminalität in Paris:Stadt der Diebe
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Während Touristen den Eiffelturm bestaunen oder in Mona Lisas Lächeln versinken, ziehen ihnen Taschendiebe das Portmonnaie aus der Jacke. Das altbekannte Problem hat in Paris zuletzt massiv zugenommen, sogar ein kompletter Reisebus wurde überfallen. Die Stadt der Liebe fürchtet um Image und Besucher.
Von Stefan Ulrich, Paris
Ein Junimorgen vor dem Palais Royal in Paris: Während man die Fassade des Stadtpalastes bewundert, kullert ein Ring über das Pflaster. Er funkelt golden in der Sonne. Ein junger Bursche tritt hinzu, hebt das Schmuckstück auf, dreht es in der Hand und sagt in gebrochenem Französisch: "Der Ring scheint sehr wertvoll zu sein. Wir haben ihn beide zugleich gefunden. Geben Sie mir 50 Euro, dann können Sie ihn behalten."
Zehn Gehminuten weiter sammeln einige junge Mädchen auf dem Platz vor der Kathedrale Notre Dame Unterschriften für einen angeblich guten Zweck. Während eines der Mädchen auf einen Touristen einredet, versuchen zwei Komplizinnen, ihm von hinten Sachen aus dem Rucksack zu klauen. Doch das Opfer bemerkt das und geht schimpfend weg.
Wer aufmerksam durch Paris läuft, stößt immer wieder auf solche Szenen. Gewiss: Taschendiebe, Trickbetrüger und sonstige Kleinkriminelle machen in allen Touristenmetropolen den Menschen den Urlaub schwer. Doch an der Seine haben sich die Übergriffe in letzter Zeit dramatisch gehäuft. Organisierte Banden plünderten die Fahrgäste in der Metro aus oder beklauten systematisch Besucher in Museen. An einer Ampel wurde sogar ein ganzer Touristenbus überfallen und geplündert.
Sicherheitsleute beklagen, die Täter würden immer öfter gewalttätig. Jetzt reagiert die Stadt mit einem "Aktionsplan für die Sicherheit der Touristen in Paris". 26 Maßnahmen sollen verhindern, dass die Stadt der Liebe - die pro Jahr 29 Millionen Besucher empfängt - zur Stadt der Diebe verkommt.
Strafunmündige Handlanger
Die Probleme haben sich über die letzten Jahre zugespitzt. Polizeibeamte und Kommunalpolitiker sagen, ein Grund dafür seien Banden aus Osteuropa, die an die Seine kämen, um dort auf Beutezug zu gehen. Die Chefs setzten gezielt strafunmündige Minderjährige ein, um Touristen auszunehmen. Der Pariser Abgeordnete und frühere Europa-Staatssekretär Pierre Lellouche sagt, für etliche der Straftaten seien junge Roma verantwortlich, die oft aus Rumänien stammten und in Lagern am Rand von Paris hausten.
"Diese Kinder sind zur Kriminalität verurteilt und die ersten Opfer eines organisierten Systems, das von Clan-Chefs insbesondere von Bukarest aus gesteuert wird", sagt Lellouche. Ein zum Stehlen losgeschicktes Kind könne täglich 200 bis 300 Euro einbringen. "Und von ihnen gibt es Tausende in den französischen Großstädten."
Auch Bosnier sind unter den Tätern. In einem Prozess, der im Mai in erster Instanz zu Ende ging, waren der 60 Jahre alte Clan-Chef Fehim Hamidovic und 21 Komplizen angeklagt. Sie hatten Dutzende zehn bis zwölf Jahre alte Mädchen dazu gezwungen, Passagiere in der Metro zu bestehlen. Die Mädchen mussten sich dabei auf Strecken wie die Linie 1 konzentrieren, die besonders viel von Touristen benutzt werden. Wenn sie abends nicht genug heimbrachten, wurden sie geschlagen oder mit glühenden Zigaretten gepeinigt. Die Ermittler schätzten, der Clan habe allein im Jahr 2009 ungefähr 1,3 Millionen Euro erbeutet.
Eine junge Frau namens Vasvija F. schilderte im Prozess, wie sie einer Gruppe von Mädchen das Klauen beibrachte. Sie selbst sei nie zur Schule gegangen und habe ab ihrem 13. Lebensjahr gestohlen. "Wir kennen nur stehlen, essen, stehlen", sagte sie. "Das ist mein Leben." Hamidovic wurde schließlich zu sieben Jahre Gefängnis verurteilt. Seine Komplizen erhielten zwischen einem und fünf Jahren Haft. Die Staatsanwaltschaft hat Berufung eingelegt. Sie fordert eine schärfere Bestrafung.
Außer diesem Prozess lassen noch zahlreiche andere Ereignisse in diesem Jahr an der Sicherheit in Paris zweifeln. So wurde Ende März eine chinesische Reisegruppe vor einem Restaurant überfallen und um Geld und Pässe beraubt. Auch sonst konzentrieren sich osteuropäische Banden oder junge Ganoven aus der Pariser Banlieue gern auf Touristen aus Asien. Diese haben oft viel Bargeld bei sich, kennen sich in Paris nicht aus und stehen Angriffen hilflos gegenüber. Der chinesische Tourismusverband forderte Frankreich offiziell auf, chinesische Bürger besser zu schützen.
Schutzlos fühlten sich auch die Wärter im Louvre. Das meistbesuchte Museum der Welt musste im April vorübergehend schließen, weil die Angestellten aus Protest gegen die ausufernde Kriminalität streikten. Wie in der Metro machten auch im Museum Banden von Minderjährigen Jagd auf Touristen. Während die Besucher in einer Traube von Menschen der Mona Lisa in die Augen staunten oder von einem Führer die Reize der Venus von Milo erklärt bekamen, war es für die kleinen Diebe ein Leichtes, Geldbeutel, Handys oder Schmuck zu erbeuten.
"Nichts hält sie auf"
Die Wärter klagten, wenn sie eingeschritten seien, hätten die Jugendlichen sie beschimpft, bedroht, bespuckt und gestoßen. "Sie werden immer gewalttätiger", sagte eine Aufseherin des Louvre. "Nichts hält sie auf."
Auch an anderen beliebten Orten, etwa im Eiffelturm, gab es Probleme. Ende Mai schlug schließlich die Luxusbranche an der Seine Alarm. Die Stadt des Lichts werde in Sachen Sicherheit zur "Hölle" für Touristen, kritisierte das Comité Colbert, in dem Marken wie Chanel und Hotels wie das George V zusammengeschlossen sind.
"Paris erwirbt gerade einen Ruf absoluter Unsicherheit." Die Stadt solle sich ein Beispiel an der Null-Toleranz-Politik in New York nehmen. Sonst würden Touristen ausbleiben und Arbeitsplätze verloren gehen.
Stadtverwaltung und Polizei haben den Hilferuf gehört und reagieren. Der Aktionsplan, den Polizeipräfekt Bernard Boucault jetzt vorstellte, verspricht "maximale Sicherheit für die touristischen Zonen". Notre Dame, Louvre, die Champs-Élysées, der Trocadéro, Montmartre und das Marsfeld müssten "sakrosankt" werden. Polizisten in Uniform und in Zivil würden ständig patrouillieren und Verdächtige überprüfen. Auch werde man stärker mit Hotels und den Botschaften zusammenarbeiten, um die vielen Touristen über die Gefahren zu informieren. In der Metro würden Warnansagen erfolgen - auch auf Chinesisch und Japanisch.
Wer dennoch beklaut oder überfallen wird, soll leichter Anzeige erstatten können. Opfer können sich nun in 16 verschiedenen Sprachen an die Kommissariate wenden. Auch auf den Straßen seien ständig mehrsprachige Beamte unterwegs, um Urlaubern zu helfen. Doch auch da heißt es aufpassen. "Manche Gauner geben sich als Polizisten aus", warnt die Präfektur und klärt auf: "Ein echter Polizist verlangt niemals Geld von Ihnen."
Erste Fortschritte soll es schon geben. Das gilt vor allem für den Louvre, wo seit dem Streik der Wärter jetzt auch Polizisten patrouillieren. Das Alarmsystem wurde verbessert, die Videoüberwachung ausgebaut. Eine Beamtin des zuständigen Ersten Kommissariats sagt: "Zur Mittagszeit standen asiatische Touristen bislang im Kommissariat Schlange, jetzt ist das vorbei." Die Anzeigen wegen Diebstahls im Louvre sind schlagartig um 75 Prozent gefallen. Die "pickpockets", wie die Taschendiebe in Paris genannt werden, sollen teilweise auf die Quais an der Seine, den Tuilerien-Garten und den Platz vor dem Palais Royal ausgewichen sein. "Der Louvre ist wieder ein Ort der Ruhe geworden", freut sich der Verwaltungschef Hervé Barbaret. Dennoch sollte man auf der Hut sein, wenn man Mona Lisa in die Augen schaut.