Kreuzfahrt in Amazonien:"Baden im Amazonas? Ohne Wunde kein Problem"

Lesezeit: 6 Min.

Bei einer Amazonas-Flusskreuzfahrt werden Passagiere zu Abenteurern - und schwimmen in Gewässern, in denen sie nicht allein sind.

Von Sven Weniger

Wenn der Wasserpegel sinkt, geht den Fischen die Luft aus, erklärt Raimundo, den sie Pires, Untertasse, nennen, weil er morgens stets einen Becher Tee mit sich herumträgt. "Sie kommen an die Oberfläche und schnappen nach Sauerstoff. Da warten schon die Seeschwalben und haben leichtes Spiel." Bei Sonnenaufgang steuert der glatzköpfige Bootsmann des Flussdampfers Amazon Clipper Premium sein langes Kanu in den Kanal zum Lago dos Reis, dicht gefolgt vom jungen Kollegen Roberto, der eine weitere Gruppe zur ersten Exkursion des Tages fährt. Die weite Lagune auf der Insel Terra Nova, Kinderstube vieler Fischarten, ist frühmorgens eine tödliche Falle.

Schwarzmantel-Scherenschnäbel ziehen ihre Schnäbel wie offene Scheren im Flug durchs Wasser und schnappen sich japsende Jungwelse. Reiher tauchen nach Beute, Rabengeier warten am Ufer auf verendete Tiere, die an ihnen vorbeitreiben. "Unser Ökosystem ist kein Idyll", sagt Pires, "toter Fisch stinkt." Hoch oben am Ufer schälen sich bunte Holzhäuser einer Siedlung aus den Schatten der Nacht. "Am Ende der Trockenzeit ist der Amazonas wie eine Badewanne mit offenem Abfluss, in die kein Wasser mehr nachläuft", fügt der Bootsmann hinzu.

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(Foto: mauritius images)

Ein Krokodil im Amazonasdelta.

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(Foto: mauritius images)

Ein Mädchen mit einem Papagei auf dem Boot von Manaus nach Belem.

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(Foto: mauritius images)

Ein Mann mit seinem Kanu auf dem Amazonas.

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(Foto: Amazon Clipper)

Die Amazon Clipper Premium.

Der Amazonas ist der gewaltigste Strom der Erde. Er ist die Quelle des Lebens für 24 Millionen Brasilianer, die in seinem Einzugsgebiet leben, das 20-mal so groß wie Deutschland ist. Von der Wassermenge, die aus dem größten Regenwald des Planeten zum Atlantik fließt, könnte man jedem Menschen auf der Welt alle halbe Minute einen Liter zu trinken geben oder alle drei Tage den Bodensee füllen. Der Fluss entzieht sich unserer Vorstellungskraft.

Wenige kommen dem Amazonas näher. Noch weniger kommen auf ein Schiff wie das von Jaime Coelho da Silva. In Manaus begrüßt der 60-jährige Kapitän in schneeweißer Uniform die zwei Dutzend Touristen an Bord seines 30 Meter langen Flussschiffs mit zwei Kabinendecks zu dieser gemächlichen Flussreise durch den Regenwald. Bis zu deren Ende wird niemand mehr den uniformierten Kapitän sehen, nur noch Jaime, der in der Hitze des tropischen Alltags wie die acht Crewmitglieder in T-Shirt und Shorts lebt.

Auch die Passagiere vergessen bald den englischen Namen des solide aus Stahl und Holz in Manaus gebauten Dampfers mit der rasselnden Klimaanlage und stampfenden Dieselmaschine. Er ist sechs Tage lang einfach ihr schwimmendes Zuhause auf einer Reise hinein nach Amazonien.

4000 Gewitter, in jedem Augenblick

Amazonien wird oft als Indikator für den Zustand des Weltklimas zitiert. Fischsterben, Überschwemmungen, Trockenperioden finden den Weg in die Schlagzeilen der Medien. Reiseführer Franz Schuler liefert weitere wissenswerte Fakten: "Viertausend Gewitter entladen sich über dieser ungeheuren Landmasse mit ungezählten Flüssen in jedem Augenblick gleichzeitig." Deren Wasser käme oft erst nach Wochen hier in Manaus an. Da spiele es überhaupt keine Rolle, wenn es, wie gerade jetzt, eine Zeit lang nicht regnet, erklärt der 35-Jährige, der schon lange in Manaus lebt. Vielleicht, wenn tausend Gewitter ausfielen?

Doch wo, und aus welchem Grund? Sind es übliche Anomalien? Menschengemachte? Niemand weiß es. Der Amazonas kann in der Regenzeit um 20 Meter steigen und später ebenso schnell fallen.

Das Extreme ist hier die Regel

Am Hafenkai von Manaus stehen die Hochwasserstände der vergangenen 100 Jahre. Die größten Überschwemmungen verteilen sich gleichmäßig zwischen 1909 und 2009. Hier ist das Extreme die Regel. Für die Menschen heißt das: Wer an der Schlagader eines ganzen Kontinents lebt, muss den Finger immer am Puls haben.

"Jeden Tag messen Hydrologen zentimetergenau den Pegel, damit wir wissen, was als Nächstes passiert", sagt Franz Schuler. "Kommt die Flut, geht alles rasend schnell." Noch lässt sie auf sich warten. Bei Niedrigwasser treten traumhafte Strände aus dem Flussbett hervor. Nachmittags setzt Kapitän Jaime das Schiff, das wegen seines geringen Tiefgangs weit in die Seitenarme vordringen kann, einfach aufs Ufer zum erfrischenden Bad im Amazonas, mit Sprung von Bord und Sonnenbad auf dem feinen, hellen Ufersand.

Schwimmen im Amazonas? Da war doch was - Piranhas. "Doch", sagt Pires, "die sind überall." Sehen kann man sie nicht. Weder im Río Solimões, wie die Brasilianer den Oberlauf des Amazonas bis Manaus nennen, noch im Río Negro, dem Schwarzen Fluss, der dort auf ihn trifft. Trüb sind sie beide, der eine wie Latte macchiato, der andere wie Espresso.

Kilometerweit laufen sie im selben Flussbett unvermischt nebeneinander her und wollen sich nicht vereinen. Zu unterschiedlich sind Dichte, Fließgeschwindigkeit, Temperatur und pH-Wert. Die meisten Fischarten des Solimões könnten im Río Negro, der ungeheure Mengen Biomasse zersetzt, nicht überleben. Er ist ihnen schlicht zu sauer. Piranhas können. Doch sie wollen Blut.

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"Ohne Verletzung der Haut hat man kein Problem mit ihnen", wiegelt der Bootsmann treuherzig ab. Deshalb hat er einen Deal mit Simone, der Köchin unseres Flussdampfers: Morgen gibt sie ihm Frischfleisch aus der Kombüse, damit angeln die Passagiere die Einlage für ihre Fischsuppe. Es ist ein wenig wie in Kindertagen, wenn erwachsene Männer und Frauen ihre Nylonschnüre mit Haken und Ködern aus den Kanus werfen, fiebrig in die trübe Brühe starren, an den Leinen zupfen, sobald sich etwas regt. Aber sie beißen, und wie.

Zappelnd werden grimmig schauende Wesen an Bord gezogen, handtellergroß und rot-silbrig glänzend. Wehe dem Unkundigen, der zugreift, um die Fische vom Haken zu lösen; auch Pires, Roberto und Franz haben Respekt vor Piranha-Zähnen. Zu kleine Fische gehen gleich wieder über Bord. Eine Stunde später hat Simone ihre Suppeneinlage.

Jeder Passagier entscheidet selbst, wie nahe er dem Bootsalltag auf dem Amazonas kommen will. Jaimes Brücke, eine kleine Kajüte auf dem Vorschiff, in der er auch schläft, steht allen offen. Simone, die mit Kollegin Raimunda jeden Tag ein neues Festmahl an lokalen Gerichten auftischt, hat nichts gegen neugierige Besucher in der Kombüse am Heck. Wer früh genug aufsteht, kann mit Pires zum Angeln fahren; oder nachts mit Roberto zum Speerfischen, dann aber auf kiloschwere Buntbarsche, die später in der Pfanne landen.

Den meisten Passagieren genügen die Ausflüge, fast ein Dutzend sind es in der kurzen Zeit. Sie sind spannend genug und führen in das fein verästelte Labyrinth aus Nebenflüssen und Kanälen von Amazonas und Río Negro. Da jagt Roberto schon mal hinter einem Opossum im Unterholz her. Pires lässt einen erlegten Piranha als Köder im Wasser treiben und verführt einen Seeadler dazu, sich im Sturzflug die Beute zu greifen.

Wer will mal ans Ruder?

Franz lockt Totenkopfäffchen mit Bananen ans Ufer. Und die Baumfrösche springen von selbst ins Boot. Faultiere im Geäst, Kaimane unterm Blattwerk, Chamäleons, die wie Lianen wirken - Roberto und Pires sehen alles mit geübten Augen, dafür brauchen wir Europäer eine Ewigkeit.

Schon eine Stunde stromaufwärts im Río Negro ist die Zivilisation verschwunden. Auf dem Fluss, der fast doppelt so lang wie der Rhein ist, begegnet man den ganzen Tag lang keinem einzigen Schiff, so spärlich ist die Besiedlung hier. Jaime überlässt Passagieren zum Spaß das Ruder, viel passieren kann ja nicht. Nur nachts auf dem Sonnendeck ist am Horizont der schwache Lichtschein von Manaus zu sehen. Der Rest ist ein impressionistischer Sternendom auf tintenschwarzer Leinwand.

Täglich gibt es kurze Vorträge an Bord über Tierwelt, Klima, Umweltfragen. Vom Wasser aus erleben wir das Biotop Regenwald als überwältigendes, undurchdringliches Chaos. Bei Wanderungen wird daraus ein perfekt aufeinander abgestimmtes Puzzle Tausender Pflanzen- und Tierarten, die in fein austarierter Abhängigkeit voneinander existieren. Meterhoch in den Bäumen findet sich Treibholz, das die letzte Flut dort abgelegt hat.

Bei Niedrigwasser sieht man an der ausgespülten Uferböschung, wie dünn die Humusschicht ist, auf der alles Leben wächst. Urwaldriesen fallen dort wie Streichhölzer ins Wasser. Wilder Reis steigt als grasgrüner Teppich auf flachen Inseln aus dem Fluss; bis zur nächsten Regenzeit - ein Kreislauf aus Leben und Tod.

Früher durften nur Wissenschaftler hierher

Während im Süden Amazoniens Holzindustrie, Brandrodung und Sojaplantagen den Wald verwüsten, sind Anstrengungen, ihn bei Manaus zu bewahren, offensichtlich erfolgreicher. Am fünften Tag erreichen wir Anavilhanas. Der Flussarchipel ist größer als das Saarland und Brasiliens jüngster Nationalpark. Vierhundert unbewohnte Inseln mitten im Río Negro, von denen drei Viertel bei Hochwasser untergehen. Dann schauen monatelang nur noch die Kronen der Wälder aus dem Fluss. "Um Touristen hierherzubringen, wurden die Anavilhanas 2008 eigens umgewidmet", sagt Reiseleiter Schuler. "Vorher durften nur Wissenschaftler zur Vogelbeobachtung kommen. So gab es für die Indios in den Dörfern keinerlei Einkommensquelle."

Heute kommen Birdwatcher aus aller Welt, kaufen den Bewohnern der Region Kunsthandwerk ab und übernachten in einfachen Gästezimmern. Naturtourismus, das glaubt auch Bootsmann Pires, ist die einzig nachhaltige Zukunft. Früher schüttelte er den Kopf, wenn die Passagiere der Amazon Clipper mit ihren Kameras seltenen rosa Delfinen, Hoatzin-Hühnern und Speerreihern nachstellten, Getier, dem er tagtäglich über den Weg lief.

Mittlerweile hat er selbst den größten Zoom von allen auf seinem Fotoapparat und zeigt anderen stolz seine gestochen scharfen Aufnahmen. Die Kamera liegt stets griffbereit im Kanu neben der Teetasse. Die Fremden bescherten ihm eine neue Perspektive auf seine alte Heimat.

© SZ vom 22.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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