Kreuzfahrt:Im Gokart nach Alaska

Größer, bunter, lauter: Auf der "Norwegian Bliss" reisen 4000 Passagiere. Die werden mit Spektakeln unterhalten, damit sie nicht merken, wie viele Menschen hier aufeinander sitzen.

Von Jürgen Schmieder

Was einem von einer Kreuzfahrt auf der Norwegian Bliss für alle Lebenszeit in Erinnerung bleiben wird, das ist die schlechte Laune des Anweisers an der Gokart-Bahn auf dem obersten Deck dieses Schiffs. Der junge Mann ist kolossal (und übrigens völlig zu Recht) genervt von Leuten, die lieber Selfies machen, statt ihm zuzuhören, und diese Miesmuffeligkeit fällt deshalb so auf, weil man sonst auf diesem Schiff derart hemmungslos mit Heiterkeit und Frohsinn übergossen wird, dass selbst der deutsche Tourist, der ja im Urlaub gerne über alles und alle motzt, angesichts dieser permanenten Druckbespaßung plötzlich selbst heiter und frohsinnig wird.

Die Norwegian Bliss ist unterwegs von Seattle in Richtung Alaska, es ist die erste Ausfahrt nach der Taufe an Pier 66 dieser wunderbaren Stadt an der amerikanischen Pazifikküste. Es heißt immer wieder, ein Kreuzfahrtschiff sei eine schwimmende Kleinstadt - was natürlich völliger Blödsinn ist, weil in Kleinstädten keine Broadway-Musicals aufgeführt werden und es dort weder Casinos noch Duty-Free-Läden oder gar Sonnenuntergangs-Lounges gibt. Wenn schon ein Vergleich, dann dieser hier: Es ist, als hätte jemand ein Hotel vom Las Vegas Boulevard entfernt und auf ein Schiff gepackt, und wie in der sündigen Stadt gilt auf der Bliss: Wer diese Art des Urlaubs doof findet, der dürfte diese paar Tage für die größtmögliche Strafe auf Erden halten. Wer sich jedoch darauf einlässt, der dürfte kaum etwas Schöneres kennen auf der Welt.

Es lassen sich immer mehr Leute darauf ein, die Branchenvereinigung Cruise Lines International Association prognostiziert in diesem Jahr weltweit mehr als 27 Millionen Passagiere. Die Kreuzfahrt-Industrie wächst rasant, alleine zwischen April und Dezember werden zehn neue Schiffe auf die Ozeane geschickt. Es heißt, dass ein Veranstalter, der jetzt kein neues Schiff in Auftrag gegeben hat, in den kommenden acht Jahren keines mehr bekommen werde, und so wie die Hotels in Las Vegas mit immer verrückteren Attraktionen um Gäste buhlen, so werden auch die Alleinstellungsangebote auf diesen Schiffen immer wahnwitziger.

Auf der Bliss gibt es die bereits erwähnte Gokart-Bahn mit erstaunlich flinken Elektrofahrzeugen, es gibt eine Lasertag-Arena und eine Wasserrutsche, in der man kurzzeitig über Bord geschossen wird. Auf Deck 15 gibt es die "Observation Lounge", ein knapp 1900 Quadratmeter großer und hufeisenförmiger Ballsaal mit Ledersesseln und Samtliegen und Blick auf Ozean oder Alaska, der einem wie die Laune des Gokart-Mitarbeiters für alle Lebenszeit in Erinnerung bleiben wird.

Frage: Warum ist diese wahrlich spektakuläre Lounge angesichts von bis zu 4004 Passagieren auf diesem Schiff nicht permanent überfüllt? Für eine Antwort muss man sich ein paar Tage lang auf diese Form des Reisens einlassen und dieses Schiff erkunden.

Ein paar Beobachtungen: Die meisten der 1716 Crewmitglieder müssen unsichtbare Heinzelmännchen sein. Wer zum Beispiel im Spa sein Handtuch liegen lässt und nur drei Sekunden im eiskalten "Snow Room" verbringt, der stellt danach fest, dass dieses Handtuch auf wundersame Weise gegen ein unbenutztes getauscht worden ist. Eine intensive Suche nach dem Handtuchkobold bleibt erfolglos, dafür liegt bei der Rückkehr zur Liege schon wieder ein neues da.

Zweite Erkenntnis: Das Publikum ist erstaunlich bunt gemischt. Es gibt Millennials auf der Suche nach witzigen Orten für Selfies, drei junge Frauen aus Kanada wollen in jeder der 13 Bars jeweils mindestens einen Cocktail trinken (und schaffen das an jedem Tag wieder), eine Familie mit drei Kindern macht es sich am Pool gemütlich, ein älteres Pärchen probiert die "Silent Disco" (Leute mit Kopfhörern tanzen gemeinsam zu verschiedenen Musikrichtungen, was genauso lächerlich aussieht, wie es sich anhört) im Nachtclub Social aus.

Nach zwei Tagen vermutet der deutsche Tourist, dass dieser Gokart-Aufseher auf Anweisung von ganz oben schlecht gelaunt ist, damit eben genau dieser deutsche Tourist sagen darf: "Endlich ein normaler Typ auf diesem Schiff!" Ansonsten sind sämtliche Mitarbeiter und Passagiere dermaßen schweinegut drauf, dass es am zweiten Tag beinahe zum Eklat kommt.

Der deutsche Tourist hat sich in eine Ecke der "Slice H20" auf Deck 17 zurückgezogen, einer Aussichtsplattform ganz hinten auf dem Schiff. Er möchte gerade nicht bespaßt werden, sondern einfach mal ein bisschen alleine sein mit seinen Gedanken. Da kommt eine Mitarbeiterin, sie fragt ganz ohne Ironie: "Sind Sie traurig, Sir?"

Stets beschwipst, nie betrunken

Was würde diese junge Frau wohl machen, wäre die Antwort: "Oh ja, ich bin sogar sehr traurig!" Das will man ihr nicht antun, sondern versichert Heiterkeit und Frohsinn und bestellt sogleich ein alkoholisches Getränk, das bei erfahrenen Kreuzfahrern allgemein anerkannte entwarnende Signal.

Wie schon gesagt: Man muss sich darauf einlassen, und dabei hilft auf so einem Schiff ein beschwipster Zustand. Nicht betrunken, wohlgemerkt, das ist ungefähr so verpönt wie Hawaiihemd und kurze Hosen beim eleganten Dinner in einem der 19 Restaurants an Bord. Die Verachtung, die Sturzbetrunkenen entgegenschlägt, ist absolut.

Das Beschwipstsein dagegen wird als erstrebenswerter Zustand gefördert durch die so genannten "Cocktails on Tap", und auch wenn vorher gemixte und dann über Zapfhähne ausgeschenkte Drinks zunächst wie eine lukullische Barbarei klingen: Die Dinger schmecken, trotz eines Übermaßes an Obst und Gemüse am und im Glas.

Man muss damit erst einmal zurechtkommen, dass man ein paar Tage lang quasi permanent ein kleines bisschen Alkohol im Blut hat, so wie man damit zurechtkommen muss, dass man von seiner Kabine auf Deck 12 (vorne links) zum Steakhouse auf Deck 8 (ganz hinten) an sechs Bars, einer Zigarrenlounge und zwei Bonbonläden vorbeikommt und sich fühlt wie Odysseus bei der Vorbeifahrt an der Insel der Sirenen. Oder dass man auf dem Weg vom Nachmittagssnack zur Rasur in den Pool hüpfen oder an einem Yogakurs teilnehmen könnte.

Man verläuft sich erstaunlich selten, was daran liegt, dass auf diesem Schiff die Köpfe der Fische auf dem Teppich immer dorthin zeigen, wo vorne ist. Nur im Casino landet man auf wundersame Weise immer wieder, so wie man auch in einem Hotel in Las Vegas stets auf wundersame Weise immer wieder im Casino landet.

Es ist unendlicher Spaß, der einem auf dieser Ausfahrt angeboten wird, es ist Druckbespaßung mit einer Präzision, die sonst nur in Disneyland oder bei Raketenstarts zu bestaunen ist. Es ist immer was los auf diesem Schiff, und es ist nicht nur deshalb immer was los, damit die Passagiere immer was zu tun haben und irgendwann gar nicht mehr wissen, wohin mit all der Heiterkeit und all dem Frohsinn. Es ist dringend notwendig, dass immer an möglichst vielen Orten was los ist, weil dieses Schiff nur so funktionieren kann. Es braucht diese Attraktionen, damit 4000 Passagiere nicht aneinander verrückt werden.

Nehmen wir zum Beispiel mal die Zeit um zehn Uhr abends: Es beginnt auf Deck 7 vorne das Musical "Havana", bis zu 800 Leute sitzen im Theater. Im Social, das später zur "Silent Disco" und noch später zum Nachtclub wird, bespielt ein Komiker 250 Gäste, und in The Cavern unterhält eine fantastische Beatles-Coverband 300 Menschen. Im Atrium gibt es Livemusik für 400 Passagiere, in der tollen Bierbar einen wunderbaren Pianisten, und natürlich soll ja etwa die Hälfte der Passagiere noch immer beim Abendessen sein. Rechnet man nun noch die Alleinstellungsangebote wie Gokart und Lasertag hinzu, fragt man sich: Wer soll überhaupt noch in der Observation Lounge sein? Um kurz nach 22 Uhr sind nicht mal 70 Leute da. Herrlich.

All die Attraktionen sind also eine dringend notwendige Strategie, die Passagiere so zu verteilen, dass es nirgends klaustrophobisch wird. Es ist faszinierend, das zu beobachten, so wie es faszinierend ist, immer wieder die gleichen Leute zu treffen auf diesem Schiff: Der Führer der Kneipentour, die täglich um 14 Uhr beginnt, tanzt spätnachts in der Disco, der australische Rentner grüßt einen - stets mit einer anderen Rentnerin am Arm - erst überschwänglich und später mit der Routine eines Mannes, der weiß, dass er gerade von einem jungen Kerl bewundert wird.

Und auch dem Typen von der Gokart-Bahn begegnet man noch einmal auf Deck 5 vor dem Videospielraum. Er sieht einen an und erinnert sich, dann, und das ist jetzt kein Witz, lächelt er derart freundlich, dass man gar nicht anders kann, als dieses Lächeln zu erwidern.

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A photograph by J Allan Cash

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