Süddeutsche Zeitung

Konstanz und die Schweizer:Liebe Nachbarn

Konstanz ist eine schöne Stadt. Und der Bodensee: ein Traum. Das sehen auch viele Gäste aus der Schweiz so, die gerne die Läden leerkaufen. Doch nicht alle finden das toll.

Von Josef Kelnberger

Ach, Konstanz, du Schöne, du Flatterhafte. Sehr unterschiedliche Menschen haben das Schicksal der lebensfrohen Stadt am See geprägt, die schon immer ein Ort der Begegnungen war. Päpste und Könige, Politiker und Kaufleute, Zuhälter und Huren - ja, auch Prostituierte, darüber wird noch zu sprechen sein am Beispiel der imposanten Imperia. Und immer ging es, im weitesten Sinne, auch um Kaufen und Verkaufen. "Denk ich an den Bodensee, tut mir gleich der Beutel weh", reimte anlässlich des Konstanzer Konzils vor 600 Jahren der Minnesänger Oswald von Wolkenstein. Wenn nun eines fernen Tages ein Geschichtsschreiber zurückblicken wird auf den Beginn des 21. Jahrhunderts in Konstanz, auf den Wirtschaftsboom, die Staus, die Wohnungsnot, so wird der Blick auch auf Peter Herrmann fallen. Auf einen Mann, der den Geist unserer Zeit kennt wie kein Zweiter. Er ist ein Experte für den Kosmos des Kaufens.

Es ist einer dieser vernebelten Wintertage, an denen die Feuchtigkeit direkt aus dem See zu kriechen scheint und die Sonne nie zu sehen ist. Peter Herrmann, 45, leitet das Shoppingcenter Lago, das am Rand der historischen Altstadt liegt. Er empfängt seinen Gast in seinem penibel aufgeräumten Büro. Herrmann ist ein sanfter, seitengescheitelter Mann, nur das bunt gezackte Hemd deutet einen Hauch von Extravaganz an. Er kann sich hineinfühlen in das Denken und Fühlen von Käufern bis hin zu der Art, wie Aspirin-Packungen in einer Apotheke gestapelt werden müssen. Herrmann hatte zuvor Shoppingcenter in Schwedt an der Oder und in Magdeburg aufgebaut, aber das Lago, das ist sein Lebenswerk. Und so gehen seine Gedanken nun zurück zum 6. September 2003, einem Samstag. Er saß auf der Bahnhofsbrücke und malte sich aus, wie das Center am See funktionieren könnte. Im Zentrum der Überlegungen stand der Schweizer Kunde, von dem Herrmann weiß: "Er gönnt sich was." Konstanz litt damals unter massivem Kaufkraftschwund. Das neue Center sollte die Stadt beleben, das war der Auftrag, es war auch sein Anspruch. Peter Herrmann sagt mit heiligem Ernst: "Für mich ist das ein ideeller Wert."

Geld, aber auch Verkehr ohne Ende

Niemand in Konstanz bezweifelt, dass die Eröffnung des Lago mit seinen Marken wie Zara oder Massimo Duti und seiner gehobenen Gastronomie eine Initialzündung für die Stadt war. Die einst etwas schläfrige Innenstadt hat sich herausgeputzt, der starke Kurs des Schweizer Franken leistete seinen Beitrag. Die Zahl der Übernachtungen ist von 420 000 auf 650 000 gestiegen. Peter Herrmann, ein Oberbayer, ist mit Frau und zwei Kindern hier heimisch geworden. Das Freizeitangebot, der See, die nahen Berge. Er will nicht mehr weg. So geht das vielen, das war immer so, aber inzwischen ist eine Situation erreicht, die vielen der alteingesessenen "Konschtanzer" nicht mehr behagt. Sie fragen sich: Was bringt uns der ganze Boom?

Geld, aber auch Verkehr ohne Ende. Statistiker haben ermittelt: Der Verkehr stößt an 120 Tagen im Jahr an seine Kapazitätsgrenze, die Autos quetschen sich täglich über die alte und neue Rheinbrücke durch die Innenstadt bis zur Grenze. Und dann ist da noch die Stadtflucht. Die Immobilienpreise steigen immer weiter, bei Neuvermietungen gibt es nirgendwo in Deutschland höhere Aufschläge als in Konstanz. Viele junge Familien können sich das nicht mehr leisten.

Invasoren mit goldenen Kreditkarten

Das Verhältnis zu den Schweizern ist, auch wenn das niemand offen ausspricht, im Alltag manchmal angespannt. Im Lago machen die Schweizer mehr als ein Drittel der jährlich fast zehn Millionen Kunden aus. Viele kommen schon morgens, um hier zu frühstücken, viele gehen abends noch ins Kino oder ins Restaurant. Ihre Einkaufswägen sind voll bis oben hin, und Qualität geht vor Preis. Schweizer verfügen über mehr Geld, sie zahlen bis zu einem Drittel weniger als zu Hause, sie können sich die Mehrwertsteuer rückerstatten lassen. Manchen Deutschen geht das auf den Geist, wenn sie an der Kasse warten müssen, weil die Schweizer sich den Ausfuhrbeleg erstellen lassen, genauso wie es ihnen auf den Geist geht, wenn sie hinter SUVs mit Schweizer Kennzeichen im Stau stehen. Ein Grenzübergang zur Nachbarstadt Kreuzlingen ist seit April dauerhaft für Autos gesperrt. Der Shoppingverkehr war unerträglich geworden.

Die Invasoren mit den goldenen Kreditkarten aus dem Nachbarland, das sich selbst manchmal ganz gerne abschottet - wissen sie, welchen Ruf sie haben?

Ein Café in der Altstadt. Man sucht nach entspannten Menschen, die sich, in den Worten von Peter Herrmann, was gönnen können - und landet am Tisch von Yvonne und Marcel Arnold aus Bern. Ihre so himmlisch blonde Tochter, drei Jahre alt, mit der sie im allgemeinen Trubel plaudern, als säßen sie zu Hause im Wohnzimmer, heißt tatsächlich Celeste. Schweizer Invasion? Yvonne Arnold, die als Übersetzerin für die Bundesverwaltung arbeitet, schaut erschrocken aus ihren großen blauen Augen. Oh nein, sie würden keine Shoppingliste abarbeiten in Konstanz. Früher ist sie mit ihrem Mann in den Adventsurlaub nach Paris gereist, mit Kind finden sie Konstanz nun einfach gemütlicher. Ihre Schweizer Freunde erklärten sie für verrückt, aber sie schätzen die Altstadt, das Freizeitangebot, die kurzen Wege. Und wenn sie doch einkaufen, dann wollen sie die Mehrwertsteuer nicht zurück, darauf beharrt Yvonne Arnold. Was Marcel Arnold noch loswerden will: An dem Klinikum in Bern, an dem er als Neurologe arbeitet, sei jeder dritte Chefarzt ein Deutscher, das hat nicht allen gefallen. Aber man habe sich aneinander gewöhnt, sagt er lächelnd.

So werden aus Schweizern, die angeblich deutsche Straßen verstopfen und deutsche Luft verpesten, im persönlichen Gespräch schnell die nettesten Menschen der Welt. Ihre Probleme können sie ohnehin nur gemeinsam lösen, die Konstanzer und die Schweizer, so nah, wie sie aufeinanderhocken da unten am Bodensee.

Knapp zwei Stunden sind es nach Stuttgart, knapp eine zum Flughafen Zürich. Bei einem unvoreingenommenen Blick auf die Landkarte müsste man eigentlich Konstanz mit der Schweizer Stadt Kreuzlingen zusammenlegen und dem Kanton Thurgau zuschlagen. Selbst in der Stadtverwaltung gibt es Menschen, die die 80 000 Einwohner von Konstanz zu den 20 000 Einwohnern Kreuzlingens addieren und so die sechstgrößte Stadt der Schweiz errechnen. Das ist der Bezugsrahmen für die Politik. Diese "Inselsituation", südlich des Seerheins noch an Deutschland hängend, aber der Schweiz eng verbunden, mache gerade das Selbstverständnis der Konstanzer aus, sagt Uli Burchardt, der Oberbürgermeister. Er sei als Jugendlicher nach Kreuzlingen zum Einkaufen gefahren, jetzt sei es eben mal umgekehrt.

In Uli Burchardts Amtszimmer kann man die große Geschichte der Stadt einatmen. Es riecht in den liebevoll sanierten Zunfthäusern, in denen die Stadtverwaltung untergebracht ist, nach altem Holz. Burchardt steht für die neueste Wendung der Geschichte. Es war ein grüner Oberbürgermeister, der die Tore der Stadt dem Finanzkapitalismus öffnete, denn der Eigentümer des Lago ist die Union Investment. Und ein CDU-Mann ist seit zwei Jahren damit beschäftigt, die Folgen zu verwalten. Wobei Burchardt zugibt, dass er für CDU-Verhältnisse ein "bunter Hund" ist. Der lässig gebundene Schal, der Hang zur Ironie, die Coolness. Der 43-Jährige hat auch von den 17 000 Studenten in der Stadt jede Menge Stimmen erhalten. Burchardt gibt sich durch seine Mitgliedschaft bei Attac als Globalisierungskritiker zu erkennen, hat ein Buch namens "Ausgegeizt" geschrieben, in dem er die verheerende Wirkung des Billigwahns geißelt. Sein Glaube an die soziale Marktwirtschaft habe ihn in die CDU geführt, sagt er.

Ist das Gemütliche wirklich charakteristisch für diese Stadt?

Jedenfalls hat der Bau von billigen Wohnungen für junge Familien höchste Priorität. "Diese Entmischung der Gesellschaft", sagt er, "die dürfen wir nicht zulassen." Was das Stauproblem betrifft, so lässt er auch sehr kostspielige und ungewöhnliche Lösungen prüfen. Wassertaxi, eine neue Straßenbahn, sogar den Bau einer Seilbahn. Demnächst schon soll der Ring um die historische Altstadt unterbrochen, der Bahnhofsplatz soll zur Flaniermeile werden. In Computersimulationen funktioniert das System prächtig, aber die Skepsis ist groß. In einer Bürgerversammlung bekam Burchardt von einer Frau zu hören: "Wir Konstanzer erkennen unsere Stadt nicht mehr, das charakteristisch Gemütliche ist verloren gegangen."

Aber das Gemütliche, auch das Verschlafene, ist es wirklich charakteristisch für diese Stadt? Die Frage geht an Roger Simon. Er ist, wenn es Nacht wird über Konstanz, draußen im Gewerbegebiet anzutreffen, auf halbem Weg zur Insel Reichenau, dem Ort der mittelalterlichen Hochkultur und der Gemüsebauer.

Der Name "Imperia" leuchtet auf dem Firmenschild, angelehnt an die Imperia, die am Ufer des Bodensee steht, acht Meter hoch, kaum verhüllt in ihrer weiblichen Pracht, seit 1993 das ironische Wahrzeichen der Stadt. Nie stand das Werk des Bildhauers Peter Lenk besser als jetzt, exakt 600 Jahre nach Beginn des Konzils in Konstanz. Zehntausende Besucher brachten Unsummen Geld in die Stadt am Bodensee, ehe nach vier Jahren die Kirchenspaltung überwunden, ein neuer Papst gewählt und zwei Reformatoren verbrannt waren. Unter die Gäste mischten sich Hunderte Dirnen, die man damals "Hübschlerinnen" nannte. Simon nennt sie heute, weil er mit der Zeit geht, in seinem Club "Frauen mit Top-Qualität". Man weiß ja, was die Schweizer wünschen: "Tipptopp" ist dort die höchste Auszeichnung.

Roger Simon hat mal als Türsteher gearbeitet im Arabellahaus, direkt am Bahnhofsplatz, als das Stadtzentrum bei den Schweizern noch als "Bums-Bonanza" galt. Er hat damals viele Schweizer verhauen, die sich danebenbenahmen, und er erzählt nun ausführlich, warum das nicht mehr in die Zeit passt, Kunden zu verhauen, wiewohl er noch könnte, trotz seiner 66 Jahre. Er zwickt sich in den Bauch, kein Gramm Fett, und Muskelberge spannen sich unter dem engen T-Shirt wie bei einem Jungen. Aber verhauen, wie gesagt, das vergrault nur Kunden, und man muss um jeden Kunden kämpfen, denn die Schweizer kommen nicht mehr in Scharen wie früher. Die strengen Alkoholkontrollen drüben kosten ihn viel Kundschaft.

Roger Simon führt den Gast durch sein Etablissement, die Frauen machen gerade Pizzapause, man wünscht guten Appetit allseits. Der wilde Mann von einst gilt mittlerweile als seriöser Bordellbetreiber, keine Zuhälter in seinem Laden, faire Bedingungen für die Frauen, behauptet er zumindest. Nun hofft er auf eine Marktbereinigung, denn es gibt zu viele rote Lichtlein im Gewerbegebiet, wohin man die Szene verbannt hat. Man könnte nun mit Simon eine Diskussion beginnen darüber, wie zeitgemäß sein Gewerbe noch ist. Aber man kann es auch lassen, weil sich manche Dinge am See, die seit 600 Jahren hervorragend laufen, nun mal nicht ändern.

Herr Simon wird wohl erst mal nicht in Rente gehen, so viel ist sicher, bei dem Andrang. Über die Schweizer, von denen Konstanz nun mal lebe, will er kein böses Wort verlieren. Aber er hat einen Vorschlag zur Lösung der Verkehrsprobleme: Die Stadt sollte den Gästen größere Straßen bauen. Größere Straßen und mehr Parkhäuser.

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Quelle:
SZ vom 20.12.2014
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