Konstantinopel:Stadt aller Städte

Konstantinopel: Edmondo De Amicis: Istanbul, Hauptstadt der Welt. Aus dem Italienischen von A. Kopetzki. Corso im Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2014. 192 S., 39,90€.

Edmondo De Amicis: Istanbul, Hauptstadt der Welt. Aus dem Italienischen von A. Kopetzki. Corso im Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2014. 192 S., 39,90€.

De Amicis war ein kluger Schwärmer. Seine Reportage über Konstantinopel macht sinnlich erfahrbar, was die Stadt noch im 19. Jahrhundert war: der Nabel der Welt.

Von Stefan Fischer

Dieser verdammte Nebel. "Zehn Jahre lang muss man sich wünschen, Konstantinopel zu sehen, zehn Jahre, in denen man unzählige Winterabende damit zubringt, melancholisch die Orientkarte zu betrachten und mit der Lektüre Hunderter Bücher seine Phantasie zu entzünden . . .", schreibt Edmondo De Amicis über die Zeit des Wartens, in der er die Reisekasse angespart hat. Und dann soll der lausige, zufällig heraufziehende Nebel einem das Erlebnis einer alle Sinne betörenden Einfahrt in den Bosporus verwehren - weil man nicht sieht, was man zu erblicken so sehnlich wünscht? Der Nebel reißt noch rechtzeitig auf, De Amicis, obwohl aufs Beste vorbereitet, wird überrumpelt von dem Anblick.

"Istanbul, Hauptstadt der Welt" heißt der bei Corso verlegte Band, für den Annette Kopetzki Texte aus De Amicis' 1878 erschienenem Reisebericht "Constantinopoli" ausgewählt und ins Deutsche übersetzt hat, ergänzt durch eine Reihe historischer Fotografien. Es dauert ein wenig, bis man dem italienischen Romancier Glauben schenkt und Konstantinopel tatsächlich als das ansieht, was die Stadt seiner Auffassung nach zu jener Zeit ist: Stadt aller Städte. Das, was Rom in der Antike war und New York heute ist. "Reiseschriftsteller verlieren dort den Verstand", schreibt De Amicis und lästert über ein halbes Dutzend von ihnen: "Perthusier stammelt . . ., der Visconte di Marcellus wird ekstatisch, Lamartine dankt Gott." Auch Edmondo De Amicis braucht eine Weile, um sich zu sammeln. Dann aber ist er ein aufmerksamer, kluger, unvoreingenommener Besucher, dessen Neugier und Begeisterungsfähigkeit sich nicht verschleißen.

De Amicis führt einem Istanbul oder eben Konstantinopel, wie die Stadt damals noch hieß, im Detail vor Augen. Es sei die beste Zeit, "um die mohammedanische Bevölkerung" zu erleben, so De Amicis; im vorigen Jahrhundert "war sie zu gleichförmig und wird es im nächsten Jahrhundert vermutlich wieder sein". Das Sultanat ist just an seinem Ende angelangt, das Osmanische Reich wird zur konstitutionellen Monarchie. Nur Wochen, bevor De Amicis den Çırağan-Palast besucht, hatten dort "noch die Odalisken des erhabenen Herrschers gesessen", die Haremsdienerinnen also. Der Reisende erlebt, wie sich die Machtzentren zu Touristenattraktionen wandeln - noch aber ist das sultanische Konstantinopel präsent, noch leben Eunuchen in der Stadt, noch ist die Globalisierung in keiner anderen Stadt so weit vorangeschritten. Es ist eine Globalisierung, die noch nicht alles egalisiert hat, sondern eine "märchenhafte Konfusion" nach sich zieht: Seitenlang beschreibt De Amicis, auf der Brücke übers Goldene Horn stehend, die Menschen, ihre Kleidung und ihr Gebaren - der osmanische Hof war bis eben noch das Zentrum der Welt, entsprechend viele Abgesandte leben hier. Diese Vielfalt bringt eine große Freiheit mit sich, gerade jetzt, da der absolute Machtanspruch des Sultanhauses nicht mehr durchzusetzen ist.

Was Edmondo De Amicis am meisten beeindruckt, ist: Jeden Stadtteil, "den man zuvor vom Meer oder den Anhöhen aus sah", betritt man "wie ein Bühnenbild, das man zuvor von den Theaterrängen aus bewundert hat. Und man staunt, dass dieses Durcheinander ärmlicher, hässlicher Dinge eine so schöne Illusion erzeugen konnte." Er gibt sich ihr immer wieder freudig hin.

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