Kolumbien:Träume im Sumpf

Zwei Mädchen gehen im Mompóx am Fluss entlang.

Mompóx, eine Stadt der Wasserwege

(Foto: mauritius images)

Gabriel García Márquez hat Mompóx mit der "Chronik eines angekündigten Todes" berühmt gemacht. Jetzt, zwei Jahre nach Ende des Bürgerkriegs in Kolumbien, erwacht die Stadt am Fluss zu neuem Leben.

Von Tom Noga

Natürlich ist diese Stadt auch mit dem Auto erreichbar. Seit ein paar Jahren jedenfalls, seit eine Brücke den Río Magdalena überspannt. Aber darf man sich Mompóx so nähern? Dieser sagenumwobenen, von Sümpfen umgebenen und fast 100 Jahre von der Welt vergessenen Kolonialstadt, in der "Chronik eines angekündigten Todes" spielt: der Roman von Nobelpreisträger Gabriel García Márquez und auch seine Verfilmung mit Ornella Muti. Stilvoller ist die Anreise über den Fluss. Von Magangué aus, einem aus den Fugen geratenen Dorf, auf dem schon morgens um zehn die komatöse Hitze des karibischen Hinterlandes lastet. Mit La Valerosa, der Tapferen. Das orangefarbene Boot hat zwölf Sitze und ein Sonnendach. Mitreisende? Gibt es nicht.

Der Skipper steuert die Valerosa hinaus auf den Fluss, zwischen Schleppkähne und Containerschiffe. Der Río Magdalena ist die Lebensader Kolumbiens. Zu beiden Seiten des Flusses Schwemmland, die sogenannten Ciénagas: überflutet, so weit das Auge reicht. An einer Mündung biegt Julio auf einen Nebenarm des Flusses ab, den Brazo de Mompóx. Dieser Nebenfluss ist der Grund, warum Mompóx im 20. Jahrhundert der Vergessenheit anheimfiel. Die Stadt lag einst am Río Magdalena und war in der Kolonialzeit ein bedeutender Handelsposten, gegründet im Jahr 1537, um den Wasserweg von den Anden zum Atlantik zu sichern. Weil die Karibikküste häufig von Piraten angegriffen wurde, entwickelte sich Mompóx zum eigentlichen Hafen des spanischen Vizekönigreichs Nueva Granada. Hier wurden das Gold aus den Anden verschifft und Güter aus Europa eingeführt. Ende des 19. Jahrhunderts verzweigte sich der Fluss, ausgelöst wahrscheinlich durch ein Erdbeben in den Anden, und die Stadt fand sich plötzlich am Brazo de Mompóx wieder. Der ist nicht schiffbar, jedenfalls nicht für Boote, die größer sind als die Valerosa.

Einer Fata Morgana gleich tauchen am Horizont drei Kirchtürme auf. Der erste zinnoberrot mit weißen Zierlinien, der zweite weiß mit gelben Ornamenten und rostrotem Ziegeldach. Der dritte ist ockerfarben und rund. Dann die Uferpromenade. Ein Kolonialhaus reiht sich ans nächste: weiß getüncht mit schweren Holztüren und roten Schindeldächern. Die meisten sind einfach. Dazwischen aber liegen regelrechte Paläste mit ausladenden Veranden. Kein moderner Betonbau stört das koloniale Ambiente.

Auf der Hauptstraße wurden viele Kolonialhäuser zu Boutique-Hotels umgebaut

An der Hafentreppe dösen Händler auf Klappstühlen - befallen von der "Zwei-Uhr-Mittags-Mattigkeit", wie Gabriel García Márquez es in der "Chronik eines angekündigten Todes" ausdrückt. Unter ihnen Alfredo Hazbun, ein untersetzter Mittvierziger, dessen Hemd am Körper klebt. Alfredo leitet das Haus der Kulturen in Mompóx. Seinen Großvater hat es vor gut 100 Jahren aus dem Libanon ins karibische Hinterland verschlagen. Wie Ibrahim Nasar, dessen Sohn Santiago im Roman den angekündigten Tod stirbt. Einen Tod, den keiner will, noch nicht einmal die Täter selbst, den zu verhindern sich aber niemand aufraffen kann.

Zur Kolonialzeit war Mompóx eine reiche Stadt. Das lag an der Quintaje: Ein Fünftel des Wertes aller hier umgeschlagenen Waren beanspruchte die Stadt als Steuer. Auf Güter aus Europa. Und natürlich auf das Gold aus den Anden. "Deshalb gibt es hier so viele Goldschmiede", sagt Alfredo, "es war ja immer genug Material zum Bearbeiten da." Alfredo Hazbun spaziert über die Uferpromenade, die Calle 1, im Volksmund: la Calzada. Sie wird bis heute so genannt, weil sie in der Kolonialzeit als einzige Straße gepflastert war. Parallel zur Calzada verläuft die Calle Real del Medio, der königliche Mittelweg. Alfredo grinst: "Dort wohnten und wohnen Leute wie ich, die sich die opulenten Häuser auf der Calzada nicht leisten konnten. Dahinter die Calle de atrás, die "Straße da hinten". "Dort lebten die Armen, die Bediensteten in den Häusern auf der Calzada."

Die Häuser auf der Calzada sind restauriert, die meisten jedenfalls. Halb geöffnete Fenster geben den Blick frei auf herrschaftliche Salons mit antiken Leuchtern und Polstermöbeln, auf blumengeschmückte Innenhöfe, in denen Springbrunnen plätschern. Viele Häuser wurden zu Boutiquehotels umgebaut - für Städter von der Karibikküste, aus Cartagena, Barranquilla und Santa Marta ist Mompóx ein beliebtes Wochenendziel, nur je etwa sechs Autostunden entfernt.

Kolumbien: "Caracas verdanke ich mein Leben, Mompóx meinen Ruhm." Simón Bolívar, der Nationalheld Kolumbiens und vieler anderer südamerikanischer Länder, wird in der Stadt noch heute geehrt.

"Caracas verdanke ich mein Leben, Mompóx meinen Ruhm." Simón Bolívar, der Nationalheld Kolumbiens und vieler anderer südamerikanischer Länder, wird in der Stadt noch heute geehrt.

(Foto: mauritius images)

An einer Straßenecke stehen zwei Arbeiter. Der eine schaufelt Schotter in ein Haus hinein, der andere Schutt heraus. Der An- und Abtransport erfolgt per Schubkarre - die Calzada ist für den Autoverkehr gesperrt. Gegenüber eine Steintafel. Auf ihr sind die acht Besuche Simón Bolívars in Mompóx aufgelistet. Bolívar ist der Nationalheld Kolumbiens. Er kämpfte gegen die Kolonialmacht Spanien und war von 1821 bis 1830 der erste Präsident des unabhängigen Großkolumbiens, das auch Panama, Ecuador und Venezuela umfasste.

Sein erster Besuch in Mompóx im Jahr 1812 war der wichtigste: Bolívar hatte die Schlacht von Puerto Cabello in Venezuela verloren und suchte Unterstützung. In Mompóx bekam er Waffen und, noch wichtiger: ein Heer von 400 Mann, mit dem er auszog und sein Heimatland Venezuela befreite. Daher Bolívars berühmter Spruch: "Caracas verdanke ich mein Leben, Mompóx meinen Ruhm." Bei seinem letzten Besuch 1830 war er als Präsident Kolumbiens zurückgetreten und wollte sich in Cartagena nach Spanien ausschiffen: In "Der General in seinem Labyrinth" fiktionalisiert Gabriel García Márquez diese Reise. Er schildert einen geschlagenen Simón Bolívar. Einen Mann, der erkannt hat, dass er nur der Handlanger des kolumbianischen Geldadels war. "Herr General, wir sind in Mompóx angekommen", sagt sein Diener Palacios. "Mompóx existiert nicht", lautet Bolívars Antwort.

Aus der Schläfrigkeit erwacht

Im real existierenden Mompóx bleibt Alfredo Hazbun vor einem unscheinbaren Haus stehen, der Casa 1734. Der Name bezieht sich auf das Jahr, in dem es erbaut wurde. In der Verfilmung der "Chronik eines angekündigten Todes" lebt hier die Familie Vicario mit der schönen, aber einfältigen Tochter Ángela, gespielt von Ornella Muti. Sie heiratet Bayardo San Román, einen Zugezogenen. In der Hochzeitsnacht stellt der fest, dass sie keine Jungfrau mehr ist und bringt sie in ihr Elternhaus zurück. Ángelas Brüder prügeln den Namen des vermeintlichen Übeltäters aus ihr heraus: Santiago Nasar. Gabriel García Márquez beschreibt ihn als notorischen "Hühnerhabicht, der jedes ziellose Mädchen in jener Berggegend pflückte".

Der Film bringt Mompóx im Jahr 1987 wieder auf die Weltkarte, acht Jahre später wird das historische Zentrum zum Weltkulturerbe der Unesco erklärt. Aber es sollte weitere 15 Jahre dauern, bis die Stadt aus ihrem Dämmerzustand erwachte. Denn in Kolumbien herrschte Bürgerkrieg, weite Teile des Landes wurden von den Rebellen der Farc kontrolliert. "Die Farc lagen auf den Hügelketten an der Straße nach Cartagena und nach Medellín im Landesinneren", erinnert sich Alfredo Hazbun, "Einmal gerieten wir in ein Feuergefecht. Drei, vier Stunden hingen wir fest. Wir hatten wahnsinnige Angst, weil in der Gegend oft Menschen entführt wurden, sie verschwanden einfach. Zum Glück sind jene Zeiten vorbei."

Die Urenkel des Grafen betreiben heute eine Bar. Und wollen mehr

Auf der Plaza de la Concepción, zwischen der gleichnamigen Kirche und der alten Zollstation, die heute ein Markt für Kunsthandwerk ist, warten ein paar Andenkenhändler auf Kundschaft. Rollläden knattern - die ersten Restaurants öffnen. Mompóx ist aus der mittäglichen Schläfrigkeit erwacht. Männer und Frauen schlendern plaudernd vorbei. Auf einer Bank im Schatten der Kirche knutscht ein junges Paar. Im Film wird Santiago Nasar hier von den Brüdern Vicario erstochen. Sie sind von Kneipe zu Kneipe gezogen und haben jedem, der ihnen begegnete, von ihrem Vorhaben erzählt - in der unausgesprochenen Hoffnung, dass jemand sie an dem hindern möge, was ihnen die Familienehre gebietet. Er stellt sich ihnen, obwohl ihn der Vater seiner Verlobten gewarnt hat. Ob es tatsächlich Santiago Nasar war, der Ángela Vicario entjungfert hat, bleibt unklar.

In einer Seitenstraße der Plaza de la Concepción steht eine Schiefertafel. Mit Kreide hat jemand ein Cocktail-Glas drauf gemalt und "Bar" daneben geschrieben. Zeichnung und Wort sind verwischt. Sonst deutet nichts auf ein Gasthaus hin: keine Leuchtreklame, noch nicht einmal ein Namensschild. Der Schankraum ist mit billigem Holz vertäfelt und das Angebot klein: Kaffee, Wasser, Softdrinks, Schnaps und eine Sorte Kekse. Die Bar gehört den Brüdern Taboada. Francisco, dem jüngeren, Architekt von Beruf, mit schulterlangen angegrauten Haaren. Und Miguel, dem älteren, glatzköpfig und menschenscheu. Er ist Zahnarzt, aber wie sein Bruder praktiziert er nicht. Er steht auch nie hinter der Theke. Seine Tage verbringt Miguel Taboada hinten im Haus.

Ein sehr altes Haus ist dies. Und typisch für die Kolonialzeit. Mit vier Meter hohen Räumen, fensterlos, um die Hitze fernzuhalten. Wo heute die Bar ist, war früher der Salon - hier pflegte der Hausherr seine Gäste zu empfangen. Daneben liegen der Haupteingang und die Diele, die in den Empfangsraum der Familie führt. Dahinter der Patio: offen mit weit überstehendem, Schatten spendenden Dach, mit einer Madonnenstatue, aus der alle Farbe gewichen ist, und einem Springbrunnen, dessen Betrieb eingestellt wurde. Der Patio war das eigentliche Wohnzimmer, von ihm gehen Küche und Schlafräume ab. Weiter hinten die Stallungen und die Räume fürs Gesinde. Besser gesagt: was von ihnen übrig ist.

Die Taboadas stammen von den ersten Adligen ab, die es im 16. Jahrhundert in die Kolonie Nueva Granada verschlug. Ihre Vorfahren haben für die Krone gekämpft und später für die Unabhängigkeit, die dem Land die Freiheit gab, ihnen aber den Grafentitel nahm. Ein Urgroßvater in zehnter Generation hat dieses Haus Ende des 16. Jahrhunderts gebaut. Überall hängen verblichene Gemälde und Fotos: die Ahnengalerie der Taboadas. Überall alte Möbel: ein Stehpult, eine rostige Waschmaschine, nicht elektrisch, sondern mit einer Kurbel zu bedienen, eine Vitrine, in der feinstes chinesisches Porzellan verstaubt. Und überall Regale, die sich unter Büchern und Manuskripten biegen. "Dieses Haus symbolisiert meine Identität", sagt Miguel Taboada, "mit allem, was sich darin befindet." Und wie er da steht inmitten der Überbleibsel aus vier Jahrhunderten, wirkt er wie eine von Gabriel García Márquez ersonnene Figur. Wie einer aus der Sippe der Buendías in "100 Jahre Einsamkeit", die verurteilt sind, die vor langer Zeit prophezeite Familiengeschichte zu leben. Oder wie Santiago Nasar, dessen Tod so vermeidbar und unnütz und doch zwangsläufig ist.

Abends in der Bar ohne Namen. Während die Restaurants auf der Plaza de la Concepción gut besucht sind, bleiben die Brüder Taboada unter sich. Miguel hat sich in ein Buch über die Genealogie vertieft, Francisco erzählt von dem, was er "unser Projekt" nennt: "Wir werden unser Elternhaus in ein Boutique-Hotel umwandeln. Leider sind unsere Mittel sehr begrenzt, und einen Investor, der uns reinredet, wollen wir nicht. Deshalb die Bar. Aus den Einnahmen werden wir den Umbau finanzieren, nach und nach." Ein schickes Hotel also. Eine Fantasie? Wo sonst könnte sie Realität werden als in dieser sagenumwobenen, von Sümpfen umgebenen und fast 100 Jahre von der Welt vergessenen Kolonialstadt.

Reiseinformationen

Anreise: KLM und Lufthansa fliegen von München nach Cartagena, hin und zurück ab etwa 800 Euro, Weiterfahrt nach Mompóx mit Toto Express, Telefon: 0057 / 310 707 08 38.

Übernachten: Casa Amarilla, elf rustikal eingerichtete Zimmer in einem Kolonialhaus, betrieben von einem englischen Journalisten und seiner kolumbianischen Frau, DZ ab 37 Euro, www.lacasaamarillamompos.com; La Portal de la Marquesa, Palast, der zu einem der schönsten Boutique-Hotels Kolumbiens umgebaut wurde, DZ ab 63 Euro, www.portaldelamarquesa.com

Weitere Auskünfte: Proexport Colombia, Telefon: 069 / 130 23 83, www.procolombia.co/en

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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