Süddeutsche Zeitung

Klettersteig:Im Reich des Adlers

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Die Ferrata delle Aquile am Paganella-Hochplateau bietet grandiose Ausblicke bis zum nördlichen Ende des Gardasees. Schwindelfrei sollte man aber schon sein. Man vertraut hier eher den Händen als den Beinen.

Von Helmut Luther

So ein feucht-kühler Spätsommermorgen am Paganella-Hochplateau hat auch sein Gutes: Man muss nicht mit Busladungen von Möchtegern-Alpinisten mit dem Sessellift zur Schutzhütte La Roda hinauffahren und dann am Einstieg des Adler-Klettersteiges in der Warteschlange stehen. Andererseits: Aus dem Nonstal naht ein schwarz-violettes Wolkengebirge, das Silberfäden vor sich hertreibt, erste Tropfen fallen bereits. Von den 20 Bergsteigern, deren Ziel der Klettersteig ist, warten 17 Männer und Frauen darauf, loszugehen. Sie sind in ihr Klettersteig-Set geschlüpft und scharren vor der Hütte ungeduldig mit den Füßen. Aber drinnen lehnen drei drahtige Kerle am Tresen und kräuseln ihre wettergegerbten Stirnen. Das sind die Profis mit dem Bergführerabzeichen an der Brust.

"Sie haben Lust und wir nicht", sagt ein Mittfünfziger mit goldenem Ohrring und weißer Mähne. "Wenn das Wasser an den Ärmeln herein- und bei den Hosenbeinen herausrinnt, macht es keinen Spaß", sekundiert ein Kollege, mit Blick hinaus zu den Kunden. Sie haben keine Ahnung, was die Silberfäden vor den Wolken bedeuten: ein Gewitter zieht auf. Aber dann dreht überraschend der Wind. "Los geht's", sagt Claudio Kerschbaumer, einer der drei Guides, und schultert den Rucksack. Seine Kollegen treten ebenfalls vor die Hütte und nehmen ihre Gruppen ins Schlepptau.

Der Adler-Klettersteig führt auf einen Vorgipfel der 2125 Meter hohen Cima Roda am Paganella-Massiv. Die Paganella-Hochebene schiebt sich wie ein Ozeandampfer auf den im Süden glitzernden Gardasee zu. Den Bug bildet die Cima Roda, und genauso steil und glatt wie eine Schiffswand mutet der Adler-Klettersteig an, er ragt nur sehr viel höher hinauf. Sein Name verspricht nicht zu viel. Der Steig beginnt oben, und führt zunächst 200 Meter abwärts, um nach einigen Querungen über ausgesetzte Pfeiler wieder hinauf zur Abbruchkante zu gehen, alles in kompaktem, weiß leuchtendem Dolomitgestein.

An recht harmlosen Latschenkiefern vorbei über Schrofen eine Rinne hinunterstapfend, zeigt Claudio Kerschbaumer nach rechts auf eine teilweise überhängende Felswand: "Das Übungsgebiet lokaler Kletterhelden wie Bruno Detassis und Cesare Maestri!" Letzterer erwarb sich zweifelhaften Ruhm als Schöpfer der "Kompressorroute" auf den Cerro Torre in Patagonien, die er 1970 dank eines benzinbetriebenen Kompressors bezwang. Ein alpinistischer Anfänger ist freilich auch der 55-jährige Kerschbaumer nicht. Er fuhr mit dem Rad vom Denali in Alaska Richtung Süden bis zum Aconcagua in den argentinischen Anden, bestieg beide Berge und unterwegs jeden weiteren lohnenden Gipfel. Ein Jahr war er unterwegs. Einen Alleingang durch die Eiger-Nordwand musste Kerschbaumer wegen einer Schulterverletzung durch Steinschlag abbrechen. "Dass ich zurückkletterte, war eine Kurzschlusshandlung - hinauf zum Gipfel wäre es leichter gewesen", erzählt der Bergführer, allerdings nur auf Nachfrage. Er ist eher ein Typ, dem man die Worte aus der Nase ziehen muss.

Den vor drei Jahren mit Stahlseilen und Eisenstiften eingerichteten Klettersteig bezeichnet Kerschbaumer als mittelschwer. Mittelschwer? Beim Queren auf schmalen Fußleisten und später, als es senkrecht auf messerscharfen Kanten hinaufgeht, kommen doch Zweifel auf - und werden noch größer beim erst Anfang August neu hinzugekommenen Pendel-Quergang sowie zwei Hängebrücken aus doppeltem Stahlseil: eins für die Füße und zwei zum Festhalten sowie Einklinken der Karabiner auf Schulterhöhe, die sich zwischen zwei Felszacken spannen und beim Hinübergehen bedenklich schwanken.

Viel Luft unter dem Hosenboden bedeutet für nicht hundertprozentig Schwindelfreie: Man vertraut eher den Händen als den Beinen und klammert sich an den Stahlseilen fest. Wer da ohne Handschuhe unterwegs ist, hat am nächsten Tag Muskelkater in den Armen und eventuell Blasen an den Bürohänden. Nach einer letzten Hängeleiter gibt es eine Rast auf einer holzgezimmerten Adler-Plattform.

Der Ausblick ist atemberaubend: Die Stadt Trient mit Fabrikhallen östlich im Etschtal muss man nicht bewundern. Aber den Nordzipfel des Gardasees mit weißen Segelbooten, die weiter im Süden über die Wellen gleiten! Näher im Sarcatal reihen sich zwischen Reben und Felsbrocken weitere Seen aneinander, etwa der türkis schimmernde Lago di Lamar direkt unter dem Klettersteig, die Wasseroberfläche vom Wind geriffelt, wie mit einer Gänsehaut überzogen.

So richtig stellt sich das Hochgefühl allerdings erst beim Mittagessen und beim Betrachten der Fotos im Rifugio Dosso Larici ein. Herausragend das Knödeltris mit Hirschragout, die Polenta mit Steinpilzen auf Kerschbaumers Teller sieht auch nicht übel aus. Auch ein Känguruschnitzel hat es auf die Karte geschafft. Vielleicht das Richtige für die Mountainbiker am Nebentisch, die nach der Rast auf Downhill-Strecken den Berg hinunterrasen werden.

Beim Abstieg aus dem Reich der Adler geht es hinab in den Wald - dorthin, wo die Bären wieder eine Heimat finden sollen. Rosario Fichera aus Fai della Paganella widmet sich ihrem Schutz. Er nimmt den Besucher mit auf einen Spaziergang ins Bärenrevier. Der Ort liegt auf einer Sonnenterrasse mit Blick zum Etschtal, nur 15 Autominuten von Mezzocorona an der Brennerautobahn entfernt. Trotzdem wähnt man sich hier in einer anderen Welt: Bis auf einige Hotels am Dorfrand stehen die Häuser dicht aneinandergedrängt, mit Gemüsegarten und aufgeschichtetem Brennholz unterm Dach.

Fichera führt den Besucher über einen von Steinmauern flankierten Feldweg, vorbei an Wiesen auf Trockensteinterrassen, wo Bauern das letzte Heu einbringen. Er geht hinein in einen Buchenwald. Forest Bathing Park nennt das lokale Tourismusamt den Buchenwald - das den Bäumen entströmende ätherische Öl soll wohltuend auf Spaziergänger wirken. Fichera ist nicht so überzeugt. "Ein Waldspaziergang wäre gesundheitsfördernder, wenn man sein Mobiltelefon zwischendurch ausschalten würde", meint er achselzuckend.

Schließlich schraubt sich der Pfad auf eine Hügelkuppe direkt über dem Etschtal hinauf. Ausgrabungen brachten hier Reste einer Rätersiedlung aus dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend ans Licht: für Laien ein Steinhaufen inmitten wuchernder Vegetation. Fichera aber sieht hier ein prähistorisches Dorf voller Geheimnisse, mit einem Verteidigungsring, Kochstellen und Vorratshäusern sowie einem etwas abseits stehenden, L-förmigen Priesterhaus. Ihn fasziniert dieser Ort so sehr, dass er einen Roman darüber geschrieben hat. "Auf der Suche nach Gräbern habe ich mich über die Felsen abgeseilt", sagt Fichera und zeigt auf einen mit dornigen Hecken bedeckten Abhang Richtung Etschtal - ohne Kratzer wird es nicht abgegangen sein.

Schließlich ist er im Bärenrevier. Eine letzte, vom Aussterben bedrohte Population hat im Gebiet überlebt. 1999 wurden im Rahmen des Projekts "Life Ursus" im Naturpark Adamello-Brenta einige Bären aus Slowenien hier angesiedelt. Sie haben sich gut mit den einheimischen Artgenossen vermischt, die Population vermehrt sich. Im "Haus des Bären" in Spormaggiore, einem Dorf auf der nordwestlichen Seite des Hochplateaus, können Besucher sich umfassend über das Projekt informieren.

Rosario Fichera erinnert sich noch genau an den Moment, als der erste Braunbär seines Lebens in freier Wildbahn auf ihn zukam. "Es war 20.48 Uhr an einem Tag Ende Juni", erzählt er. Der 60-Jährige zeigt auf einen Stein hinter Büschen und eine rostige Eisenschranke, hinter der er mit der Kamera im Anschlag hockte. Zwar dreht Rosario Fichera auch Naturfilme, aber für gute Aufnahmen habe es damals leider nicht gereicht.

"Der Bär witterte mich und verdrückte sich ins Dickicht."

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Quelle:
SZ vom 05.09.2019
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