Kiryas Joel bei New York:Eine Welt für sich

In der Kleinstadt Kiryas Joel bei New York leben orthodoxe Juden nach eigenen strengen Regeln. Englisch lernen ihre Kinder im Fremdsprachenunterricht. Besuch in einer anderen Welt.

Clemens Tangerding

Die schönste Strecke von New York City nach Kiryas Joel führt am Greenwood Lake vorbei. Auf dem Wasser liegen Segelboote, geschmückt mit amerikanischen Flaggen. Am Ufer stehen Holzhäuser, von denen ebenfalls das Star Spangled Banner weht. In einer stillen Bucht besitzt der Baseballstar Derek Jeter von den New York Yankees ein Schloss. Vom Nordzipfel des Sees bis in die Kleinstadt Kiryas Joel sind es nur wenige Kilometer.

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Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit, angemessene Sprache wählen: Wer Kiryas Joel besuchen will, muss sich an die Regeln der Satmar-Chassidim halten.

(Foto: Getty Images)

Und plötzlich ist man in einer anderen Welt.

Am Ortseingang heißt die Aufschrift auf einer Holztafel Besucher willkommen. Doch richtig willkommen ist der Gast nur, wenn er sich an die Regeln hält, die nach dem Gruß aufgelistet sind: "Nur lange Hemden und Hosen tragen, Ausschnitt bedecken, eine angemessene Sprache wählen, Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit einhalten." Schlösser finden sich hier nicht mehr. Kiryas Joel ist der ärmste Ort der USA.

Es gibt, so hat es der jüngste landesweite Zensus aus dem Jahr 2011 ergeben, keine Gemeinde mit mehr als 10.000 Einwohnern, in der das Pro-Kopf-Einkommen so gering ist wie in KJ, wie es die Leute dort abkürzen. Es liegt bei nur 6000 US-Dollar pro Jahr. Im Bundesstaat New York, zu dem die Stadt gehört, beträgt es 31.000 US-Dollar. Einer Familie stehen durchschnittlich 20.000 Dollar im Jahr zur Verfügung, 35.000 Dollar weniger als dem Durchschnitt von New York. 70 Prozent der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze.

"Es gibt hier eben nicht viel Arbeit", versucht David Wieder, einer der Bewohner Kiryas Joels, die Lage zu erklären. Um Jobs zu finden, müssten die Bewohner Kiryas Joels ins Umland fahren. "Aber dort", sagt der 27-Jährige, "wollen nur wenige hin." Denn in KJ leben fast ausschließlich ultraorthodoxe Juden, die der Bewegung der Satmar-Chassidim angehören. Für sie ist die Welt draußen die Welt der Gojim, der Fremden.

Englisch lernen die Kinder in der Schule

David Wieder ist einer der wenigen, die jeden Morgen die Gemeinde verlassen, um einem Job in dieser Welt der Fremden nachzugehen. Seine Firma stellt Kabel für Schiffe her. Wieder muss häufig nach den passenden englischen Worten suchen, wenn man sich mit ihm unterhält. In KJ sprechen sie Jiddisch. Die Sprache des Landes, in dem sie leben, lernen die Schüler im Fremdsprachenunterricht.

David Wieder hat lange Schläfenlocken, wie alle Männer und Jungen im Ort trägt er eine Kippa auf dem kurz geschorenen Haar. Zwei Kinder haben er und seine Frau - zwei weniger als die Durchschnittsfamilie in Kiryas Joel. Pro Haushalt wohnen hier im Durchschnitt 5,6 Personen, im Bundesstaat New York sind es 2,6. Das Ehepaar lebt in einem der vielen Neubaugebiete an den Hängen der Berge, die den Ort umgeben.

Im Tal dominieren die weißen Pfeiler der Großen Synagoge das Stadtbild. Männer dürfen sie in Begleitung von Chassidim besichtigen, Frauen nicht. Daneben steht ein Einkaufszentrum. Supermärkte, kleine Läden, ein Fleischer und ein Imbiss mit Gastraum reihen sich aneinander. Es gibt Pommes und Cola und viel Ketchup wie überall in den USA, aber die Burger sind aus koscherem Fleisch.

Cafés sucht der Besucher vergebens, aber an einem Hang liegt ein kleines Restaurant. Viel los ist nicht in der Gaststätte. Die Bewohner von Kiryas Joel laden sich lieber gegenseitig nach Hause ein. Etwas abseits steht ein kleines Krankenhaus. Autos schieben sich auf den Parkplatz vor der Mall und auf der anderen Seite wieder heraus. Sie fahren in die Wohnviertel, die sich wabenförmig um das Zentrum legen.

Die Gemeinde wächst rasant

Die Häuser sind schlicht. In vielen Vorgärten liegt Müll. Auf den Gehsteigen schieben Frauen Kinderwagen vor sich her, neben ihnen gehen weitere Söhne und Töchter, die bereits die traditionelle Kleidung der Chassidim tragen. Überall auf den ehemals bewaldeten Hängen wird gebaut; bald werden die Häuser bis zum Hügelkamm reichen. Die Gemeinde wächst rasant. Rund 23.000 Einwohner zählt Kiryas Joel. Man heiratet bereits im Alter von 18 bis 20 Jahren. Verhütung ist streng verboten, die Scheidungsrate verschwindend gering.

Gegründet hat den Ort ein Holocaust-Überlebender: 1974 zog Rabbi Joel Teitelbaum, ein gebürtiger Ungar, mit 40 Familien aus dem New Yorker Stadtteil Williamsburg in das dünn besiedelte Waldgebiet nahe des Greenwood Lake, nur eine gute Autostunde nördlich von New York City entfernt. In der Metropole war es der chassidischen Gemeinde zu eng geworden. Immer wieder waren Konflikte um den knappen Wohnraum mit Afroamerikanern und Hispanics ausgebrochen.

Die Gemeinde, die seit 1977 als eigenständige Stadt existiert, benannte sich nach dem Vornamen des Rabbis: "Stadt des Joel". Als Teitelbaum 1979 starb, musste der Trauerzug auf den Highway ausweichen. Es kamen 100.000 Chassidim, um ihrem geistlichen Oberhaupt die letzte Ehre zu erweisen.

Hochburg der Demokraten

Einfach ist das Verhältnis zwischen den Strenggläubigen und ihren nichtjüdischen Nachbarn nicht. "Die Leute hier sind nicht besonders glücklich über die Menschen von Kiryas Joel", sagt Sandy Leonard, die das höchste politische Amt des Gemeindeverbundes Monroe bekleidet, zu dem Kiryas Joel gehört. "Sie sondern sich nicht nur durch ihre Kleidung und ihre Lebensweise ab, sondern vor allem dadurch, dass sie stets das Maximale herausholen wollen." KJ hat viel schlechte Presse bekommen in den vergangenen Monaten. Immer wieder haben Kommentatoren, Blogger und Lokalpolitiker der Gemeinde vorgeworfen, auf Kosten des Staates zu leben.

Leonard, die Lokalpolitikerin, ist Republikanerin. Und damit inzwischen eine Ausnahme in dem Bezirk, der früher von den Republikanern dominiert worden ist. Die Bewohner von Kiryas Joel wandelten ihn auf Geheiß ihres Rabbis - der vorgibt, für wen sie stimmen sollen - in eine Hochburg der Demokraten um. Bei Sandy Leonard machten sie eine Ausnahme. Sie bestätigten die Republikanerin im Amt, weil sie sich trotz aller Kritik immer wieder für die Belange der Chassidim einsetzt. Leonard versteht ihre besonderen Anliegen und hört ihnen länger zu, als andere es tun.

Spaltung innerhalb der Gemeinde

Mit den Bewohnern von Kiryas Joel ins Gespräch zu kommen, ist nicht leicht. Aber wenn es gelingt, und die Männer von ihrem Leben in KJ erzählen, dann vergleichen sie dieses gerne mit der Welt der Gojim: "Bei euch lassen sich fast alle scheiden, bei uns so gut wie niemand", sagt etwa ein älterer Herr, den man vor seinem schicken Holzhaus antreffen kann, der aber seinen Namen nicht preisgeben möchte. "Eure Frauen haben jegliche Scham verloren, unsere nicht." Und ein Schneider erzählt, dass vor einiger Zeit ein achtjähriger Junge aus einer chassidischen Familie in Brooklyn von den Eltern als vermisst gemeldet wurde. "Es kamen damals 5000 von uns, um den Eltern zu helfen", erinnert sich der Mann, der selbst neun Kinder hat. "Wenn bei den Gojim ein Kind verschwindet, wissen nicht einmal die Nachbarn davon." Angesichts des starken Zusammenhalts in der Gemeinde verwundert es nicht, dass niemand über die Spaltung sprechen möchte, die es in KJ seit einigen Jahren gibt.

Auf Joel Teitelbaum, der ohne Kinder starb, folgte sein Neffe als Rabbi. Dieser hinterließ bei seinem Tod 2006 zwei Söhne, Aaron und Zalmen, die beide Führungsansprüche erheben und jeweils ihre Anhänger um sich scharen. Der tiefe Riss, der sich durch Kiryas Joel zieht, wird durch den Platzmangel noch verschärft. Die Gemeindeverwaltung will im Umland Grundstücke ankaufen, doch die umliegenden Dörfer wehren sich dagegen. Eine paradoxe Situation: Kiryas Joel, das so viel Mühe darauf verwendet, sich von der Außenwelt abzuschotten, rückt näher und näher an die Welt der Gojim heran.

Im Konflikt mit der Versuchung

Sich außerhalb aufzuhalten, ohne sich in diese Welt hineinziehen zu lassen, das sei schwierig, sagt David Wieder. "Niemand würde mir sagen, ich soll nicht draußen arbeiten. Aber wenn ich in der Firma bin, spüre ich in meiner Seele, dass ich anders erzogen wurde."

Wieder macht sich Gedanken darüber, wie es wäre, wenn "du irgendwann dem folgst, was du da siehst". Allerdings scheint die Bindung an seine Gemeinde so stark zu sein, dass er dieser Versuchung bislang nicht erlegen ist. "Glück hat nichts mit Geld zu tun", so erklärt David Wieder seine Lebensphilosophie. "Was dich glücklich macht, sind deine Familie und die Traditionen, denen du folgst."

Informationen:

Anreise: mit der Lufthansa von München nach New York, hin und zurück ab 461 Euro; www.lufthansa.de. Weiter mit dem Mietwagen. Von Midtown Manhattan bis Kiryas Joel sind es etwa 90 Kilometer. Unterkunft: In Kiryas Joel gibt es kein Hotel. 20 Kilometer vom Ort entfernt, in Greenwood Lake, liegt das New Continental Hotel, DZ ab 66 Euro, www.newcontinentalhotel.com Weitere Auskünfte: www.iloveny.com

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