25 Jahre Super-GAU in Tschernobyl (5):Ausflug in die Todeszone

Lesezeit: 8 min

Noch heute leiden Hunderttausende an den Folgen des Reaktorunfalls, doch das Grauen von Tschernobyl ist längst zur Attraktion geworden: Touristen besuchen die Sperrzone als Tagesausflug.

Matthias Kolb

In keinem Ukraine-Reiseführer fehlt der Hinweis auf die Tagestouren nach Tschernobyl. Der australische Lonely Planet nennt die Reise "the world's weirdest day trip", doch es sind nicht nur Backpacker, die sich in die Sperrzone wagen, sondern auch in Kiew stationierte Diplomaten, Umweltschützer sowie wohlhabende Ukrainer. Die folgende Reportage erschien im Herbst 2008 auf sueddeutsche.de , also zu einer Zeit, als weder der Autor noch die meisten Leser von der Existenz eines Atomkraftwerks in Fukushima gehört hatten. Im Text sowie in der Bildstrecke wurden lediglich die zeitlichen Bezüge angepasst. (Anm. d. Red.)

Slideshow: Besuch in Tschernobyl
:Willkommen in der Sperrzone

Ein Jahrmarkt, auf dem nie Kinder spielten, und Klassenzimmer, in denen die Farben der Propaganda noch leuchten - ein Besuch.

Eine Audioslideshow von Matthias Kolb

Die Fahrt nach Tschernobyl beginnt mit Kaffee von McDonald's. Der weiße Kleinbus von Sergei Ivantschuk wartet morgens neben dem Schnellrestaurant im Zentrum Kiews auf seine Kunden. Ein Kaffee zum Mitnehmen, das muss als Frühstück genügen für jene Touristen, die den Unglücksreaktor sehen wollen.

135 Kilometer von der ukrainischen Hauptstadt entfernt geschah am 26. April 1986 eine der größten Atomkatastrophen aller Zeiten: Um 1:23 Uhr explodierte in Tschernobyl der Reaktor 4. Eine Fläche von fast 150.000 Quadratkilometern wurde radioaktiv verstrahlt. Eine Fläche, auf der mehr als sieben Millionen Menschen lebten.

Wie viele Kinder und Erwachsene an den Folgen gestorben oder schwer erkrankt sind, kann niemand genau sagen, auch der Ukrainer Ivantschuk nicht. Seit acht Jahren organisiert er die Tagestouren. Er weiß, was seine westlichen Kunden als Erstes hören wollen: "Man muss sich ziemlich blöd anstellen, um heute in Tschernobyl kontaminiert zu werden", sagt er, während sich der Bus durch den dichten Kiewer Berufsverkehr kämpft.

Die Reise sei sicher, wenn man einige Regeln einhalte: Immer auf den asphaltierten Wegen bleiben, nicht auf Gras treten und "Äpfel sollten Sie lieber nicht essen." Die Passagiere nicken erleichtert.

Vorne sitzt ein schwedisches Fernsehteam, dahinter zwei finnische Studenten, zwei Norweger auf Geschäftsreise, vier weitere Schweden sowie ein Südafrikaner. Der will "the world's weirdest day trip" machen, wie der Reiseführer "Lonely Planet" schreibt.

Andere kritisieren den Katastrophentourismus. "Die Menschen gieren nach immer neuen starken Eindrücken", meint etwa die Weißrussin Svetlana Alexijewitsch. Die Autorin hat jahrelang Augenzeugen interviewt, ihre Berichte sind so bestürzend, dass man das Buch "Chronik der Zukunft" weglegt und aus dem Fenster blickt.

Pilze und Äpfel am Straßenrand

Auf der Fahrt in Richtung Norden werden die Straßen immer schmaler, man sieht weite Wälder und einfache Häuser. Ein alter, hellblauer Lada macht bereitwillig Platz, über die Felder zuckeln Pferdewägen. Am Wegrand stehen dickeingepackte Frauen mit Kopftüchern und bieten Pilze und Obst an. "Habt ihr gesehen, wie groß die Äpfel waren", witzelt der kleine Norweger und spricht aus, was viele denken.

Um halb elf ist der Name Tschernobyl auf einem Straßenschild zu lesen, wenig später beginnt die 30 Kilometer große Sperrzone. "Kontrollpunkt Disjatki" steht auf einem Schild, der Bus stoppt vor dem Schlagbaum.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wieso die Welse in der Sperrzone so riesig sind.

Katastrophentourismus in Tschernobyl
:Ausflug in die Todeszone

25 Jahre nach dem Atomunfall leiden Hunderttausende an den Folgen. Das Grauen ist zur Attraktion geworden: Touristen besuchen die Sperrzone als Tagesausflug.

Matthias Kolb

Ein Soldat lässt sich die Pässe geben. Wahrend er kontrolliert, greift Ivantschuk zum Mikrofon: "Willkommen in der Sperrzone." Danach verteilt er drei Dosimeter, mit denen sich die Strahlung messen lässt. Der Bus fährt an und wie gebannt blicken alle auf die Digitalzahlen des roten Apparats der Marke Jupiter. 15 Mikroröntgen pro Stunde, dann 18. Die Belastung sei noch ähnlich ungefährlich wie in Kiew, sagt Ivantschuk.

Der GAU in Tschernobyl: Fotograf Igor Kostin
:In der Hölle

Der Fotograf Igor Kostin hat Tschernobyl zu seinem Lebenswerk gemacht: Wie kein anderer hat er über Jahre hinweg die Folgen des Super-GAUs in der damaligen Sowjetunion dokumentiert. Eine Auswahl an Bildern.

Nach wenigen Metern kommt uns ein Auto entgegen, später geht ein Mann die Straße entlang. Zwischen 2000 und 4000 Menschen leben in der Sicherheitszone, es gibt Geschäfte und eine Bar, die Strom- und Gasleitungen ragen quer über die Straßen, denn der Boden ist verseucht. "Die Leute arbeiten bei der Polizei, der Feuerwehr, in der Verwaltung oder als Förster".

Ein Waldbrand hätte verheerende Folgen, denn die Hitze könnte den radioaktiven Staub aufwirbeln. Wegen der Strahlenbelastung bleibt jeder maximal zwei Wochen im Sperrgebiet. Der Kleinbus hält vor einem gelben Gebäude - einer Außenstelle des Katastrophenschutzministeriums, denn bis heute braucht jeder Besucher eine Sondergenehmigung und Kindern ist der Zutritt verboten.

Eintritt auf eigenes Risiko

Dort wartet der zweite Sergei, der die Gruppe als Führer begleiten und auf die Einhaltung der Regeln achten wird. Ivantschuk liest einen englischen Text vor, wonach jeder Besucher versichert, dass er auf eigenes Risiko hier sei und das Ministerium nicht verklagen werde, wenn es ihm gesundheitlich schlechter gehen sollte. Jeder zögert, bis ein Schwede als Erster unterschreibt. Alle folgen seinem Beispiel und die Fahrt zum Reaktor kann beginnen.

Als Erstes tauchen die Rohbauten der Reaktoren 5 und 6 am Ufer des Flusses Pripjat auf. Sie wurden nie fertiggestellt und rosten seitdem vor sich hin. Etwas weiter hinten stehen die vier fertigen Reaktoren, wo seit 1976 billiger Strom produziert wurde. Ivantschuk legt den Dosimeter auf den Boden, 40, 42, die Zahlen klettern nach oben und bleiben bei etwa 60 stehen. Führer Sergei drängt zur Eile, der Zeitplan ist eng.

Nächster Stopp: Eine Eisenbahnbrücke neben dem dritten Reaktor, der zwar vor acht Jahren abgestellt wurde, doch noch immer als aktiv gilt, weil in ihm noch Brennstäbe lagern. Deswegen fahren jeden Morgen Tausende Ingenieure, Arbeiter und Angestellte aus der Schlafstadt Slawutytsch mit der Eisenbahn nach Tschernobyl und abends wieder zurück.

Es ist streng verboten, die anderen Reaktoren des AKW zu fotografieren, doch Ivantschuk will sowieso etwas anderes zeigen: "Im Fluss leben riesige Welse", verkündet er und reißt große Stücke von einem Laib Brot herunter und wirft sie ins Wasser. "Sind die Fische mutiert?", fragt einer der Schweden. Ivantschuk lacht und erklärt: Die Fische würden aus einem anderen Grund so riesig: Es gebe kaum Konkurrenz und reichlich Futter. Es taucht aber kein Wels auf, der Herbst scheint ihnen zu kalt zu sein.

Das Problem mit dem Sarkophag

Wenig später erreicht die Gruppe ihr Ziel: Gegenüber dem Reaktor 4 steht das Informationszentrum, das alle Touristen besuchen müssen. Im Zimmer steht ein Modell des Reaktors, durch das Fenster sieht man das Original. An den Wänden sind die Fahnen all jener Länder angebracht, die den neuen, 150 Meter hohen Sarkophag finanzieren. Er soll 2012 fertig sein, doch Zeitpläne gleichen in der Ukraine eher Vorschlägen. Die alte Schutzhülle ist rissig und droht einzustürzen.

Neben dem Modell steht eine Frau mit roten Haaren: Sie erklärt den Gästen auf Englisch, was am frühen Morgen des 26. April 1986 wegen eines missglückten Versuchs passierte: Die Turbinen versagen, die Zufuhr mit Kühlwasser wird eingeschränkt, es entwickelt sich eine enorme Hitze, die Rohre bersten, der Wasserdampf reagiert mit dem Graphitmoderator des Kerns und der Reaktor fliegt in die Luft.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie sich die Natur ihren Platz in der Sperrzone zurückerobert.

Der Kern wurde völlig zerstört, unzählige radioaktive Partikel entstiegen in die Luft - 500 Mal mehr als beim Abwurf der Atombombe über Hiroshima. Während die Dame erzählt, versucht man, sich an den Frühling 1986 zu erinnern: Ein Kindergartenfest wurde abgesagt, damals war der Sandkasten tabu, aber sonst? Die Bilder des zerborstenen Reaktors ziehen am inneren Auge vorbei, aber die hat man später gesehen, sie gehören zum kollektiven Gedächtnis der Menschheit.

Ein Denkmal für die Helden

Draußen ist wieder Fotozeit: Der Reaktor 4 steht als grauer Quader in der Landschaft. Nach einer kurzen Schamfrist erfolgt das Gruppenbild, die Zahlen auf dem Dosimeter steigen und steigen, 500 Mikroröntgen, je näher man dem Reaktor kommt - er bleibt in 100 Meter Entfernung.

Ein Denkmal erinnert an die "Helden, die damals die Welt gerettet" haben: 800.000 Liquidatoren wurden damals eingesetzt, oft junge Soldaten, die Schutt wegschaffen mussten. Experten schätzen, dass viele nicht registriert wurden und bis heute keine medizinische Hilfe oder Entschädigung erhalten haben. Selbst wer registriert ist, erhält nur eine karge monatliche Rente und jährlich eine kostenlose Kur auf der Krim.

Der Bus verlässt das Gelände des Kraftwerks, passiert einen weiteren Kontrollpunkt und fährt an einem steinernen Schild mit der Aufschrift "Pripjat" vorbei. Nun befindet sich die Gruppe in der Zehn-Kilometer-Sperrzone.

Eine verlassene Schlafstadt

Pripjat ist untrennbar mit dem Atomkraftwerk verbunden: Als der Bau der AKW 1970 begann, wurde die Schlafstadt für die künftigen Ingenieure und Arbeiter aus dem Boden gestampft. Es war eine Musterstadt mit 47.000 Einwohnern, die Sowjetfunktionäre stolz ausländischen Gästen zeigten: Das Durchschnittsalter lag bei 28 Jahren, wegen eines Babybooms mussten bereits neue Kindergärten gebaut werden.

Kurz nach der Katastrophe versammelten sich die Menschen auf Brücken und Balkonen und beobachteten das "himbeerfarbene Glühen des Reaktors". Wenige Tage nach dem GAU wurde die gesamte Stadt evakuiert, und so verrottet Pripjat langsam vor sich hin.

Immer wieder seien die Häuser gereinigt und abgewaschen worden, doch es war vergeblich. Noch heute liegt die Radioaktivität zwischen den Stelen der Balkone bei 4000 Mikroröntgen, sagt Ivantschuk und berichtet, dass insgesamt 216.000 Menschen umgesiedelt wurden. Unzählige Haus- und Nutztiere mussten getötet werden.

Beklemmungen und Misstrauen

Die Wohnhäuser, der Kulturpalast Energetik, die Kaufhäuser und Kindergärten, alles in Pripjat ist leer und sich selbst überlassen. Über verwachsene Wege läuft Ivantschuk zu einer Schule, hinter ihm im Gänsemarsch die Gruppe.

Im Erdgeschoss liegen alte Schulbücher auf dem Boden, an der Garderobe hängen ein paar Haken, der Boden ist mit Scherben bedeckt, überall liegen Stühle. An der Wand finden sich noch die typisch sowjetischen Plakate, im Schrank stehen Ukrainisch-Lehrbücher, von der Feuchtigkeit beschädigt.

Es ist surreal, durch diese Häuser zu laufen, vieles erinnert an den hektischen Aufbruch vor 25 Jahren, als die Bewohner damit rechneten, nach wenigen Monaten zurückzukommen.

Lesen Sie auf der letzten Seite, warum der Autoscooter und das Riesenrad in Pripjat nie benutzt wurden.

Zugleich wird man misstrauisch: Die Puppe auf dem Kinderstuhl, die Kinderschuhe auf der Treppe. Sicher hat sie jemand drapiert für ein Foto, vielleicht sogar das schwedische Fernsehteam oder ein anderer Tourist. Das beklemmende Gefühl, wie ein Einbrecher durch eine leere Wohnung zu laufen, weicht dem Ansporn, diese Manipulationen zu entdecken, doch sicher sein kann man sich nie. Die Beklemmung bleibt.

Riesenrad und Autoscooter

Der bizarrste Ort in Pripjat ist der Vergnügungspark - kurz vor der Katastrophe aufgebaut, um die Kinder der Werktätigen zu erfreuen. Seit 1986 stehen Riesenrad, Autoscooter und Karussells an diesem Ort, doch niemand ist je damit gefahren - der Park sollte am 1. Mai eröffnet werden, dem wichtigsten Feiertag der Sowjetunion.

Hier wird klar, wodurch sich die Katastrophe von Tschernobyl von anderen unterscheidet: Sie hört nie auf und lässt sich nicht durch Abriss und Wiederaufbau ungeschehen machen. Nach Expertenmeinungen ist dieser Flecken Erde die nächsten 24.000 Jahre verseucht, die Auswirkungen für die Liquidatoren, deren Kinder sowie die Menschen in den angrenzenden Regionen ungewiss.

Noch etwas wird in Pripjat überdeutlich: Wie unerträglich schwer das Leben für die Menschen gewesen sein muss, die ihre Heimat verlassen mussten und nun nicht mehr zurückkommen dürfen. In den vergangenen Jahren sind jedoch knapp 300 alte Menschen in die 30-Kilometer-Zone zurückgekehrt: Diese Rücksiedler, samosely genannt, leben in ihren alten Häusern, pflanzen Obst und Gemüse und werden von den Behörden toleriert. Einige Touren bieten Besuche bei den samosely an, doch Ivantschuk hat sich heute dagegen entschieden: "Wir sollten die alten Herrschaften in Ruhe lassen", sagt er.

Tour endet im Katastrophenschutzministerium

Stattdessen fährt der Bus am Roten Wald vorbei, dem am stärksten verstrahlten Gebiet: Das Messgerät erreicht bis zu 2000 Mikroröntgen. "Draußen ist es fünf Mal stärker", sagt Ivantschuk lakonisch. Damals seien die Tiere in Scharen aus dem Wald geflohen, die Menschen seien in der Gegend geblieben.

Die Tour endet in dem gelben zweistöckigen Gebäude des Katastrophenschutzministeriums, dessen Einrichtung an die Sowjetzeit erinnert: Alle müssen sich auf die silberne Platte eines altertümlichen Messgeräts stellen, die Hände seitlich an zwei Eisenplatten halten. Der Apparat blinkt dann etwa rot oder grün auf - an diesem Tag sind alle grün, also sauber, doch die beiden Sergeis sind bereits beim Mittagessen.

"Die Lebensmittel werden von Kiew angeliefert, keine Sorge", erklärt Sergei. Es gibt Borschtsch, Salat, Brot und für jeden Tisch eine Flasche Wodka, die sich schnell leert. Keiner möchte über die Risiken der Atomenergie reden, das Gesehene erscheint zu überwältigend für vermeintlich kluge Analysen.

Am Kontrollpunkt Disjatki klettern die Touristen genau wie die Arbeiter auf eine altersschwache Messstation, wieder müssen die Hände auf kaltes Eisen gedrückt werden. Bevor die Farbe auf rot oder grün umspringt, schiebt ein Mann von hinten und zeigt auf die Wartenden hinter ihm.

Informationen

Die Tagestouren nach Tschernobyl werden von mehreren Agenturen in Kiew angeboten, etwa von Solo East Travel ( www.tourchernobyl.com). Je nach Anzahl der Teilnehmer variiert der Preis: In einer Gruppe von etwa zwölf Personen kostet die Fahrt etwa 150 US-Dollar, wer alleine reisen will, muss etwa 450 Dollar bezahlen.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: