Süddeutsche Zeitung

Kasino-Metropole Macau:Asse im Ärmel

Der Glücksspiel-Boom scheint abzuflauen: Zehn Jahre nach der Rückgabe an China besinnt sich Macau auf alte Qualitäten.

Jochen Temsch

Plötzlich springt die Holztür auf. Ein feuchtwarmer Luftzug fährt herein. Die Kerzen flackern, lassen Schatten tanzen auf den Azulejos, den weißblauen Kacheln an den Wänden. António Neves Coelho stellt sein Glas Portwein ab und erhebt sich. Vor den Gästen seines kleinen Restaurants António stehen Schälchen mit Oliven, scharfer Chouriço-Wurst und Pata-Negra-Schinken, den der Chef am Tisch frisch von der Keule gesäbelt hat. Fast alles, was er zubereitet, importiert er aus seiner alten Heimat. António Coelho schließt die Tür. "Hier drin ist Portugal", sagt er, "und da draußen ist Macau."

Im Dezember 2009 ist es zehn Jahre her, dass die ehemalige portugiesische Kolonie am Perlflussdelta an China zurückgegeben und wie das 70 Kilometer entfernte Hongkong zur weitgehend autonomen Sonderverwaltungszone erklärt worden ist. Orte wie das António sind rar geworden. Die Regierung in Portugal holte ihre Leute nach Hause.

Wer bleiben wollte, bezahlte mit dem Verlust seiner Beamtenprivilegien. Von einst 10 000 Portugiesen unter den 560 000 Einwohnern Macaus sind nur noch 2000 übrig. "Weihnachtsgeschenk", nennen die Verbliebenen den Rückholungserlass sarkastisch.

Doch nicht, dass Coelho auf seine Landsleute angewiesen wäre. Die meisten seiner Gäste sind Chinesen, Japaner und Koreaner. Die sparsamen Portugiesen essen lieber zu Hause. Es sind Ingenieure, Lehrer, Juristen und Geschäftsleute, die für zwei, drei Jahre nach Macau kommen, in dieser Zeit möglichst viel Geld machen und wieder zurückkehren wollen. Coelho aber bleibt. Er ist 61 Jahre alt, hat in der Armee in Afrika gekämpft; er hat sich scheiden lassen und die Entfernung zu seinem alten Leben gesucht. Er sagt: "In meinem Alter muss man niemanden mehr anlügen, auch nicht sich selbst."

Vor seiner Holztür also ist Macau. Das Lokal liegt mitten in Taipa Village, dem Teil der Zone, der am europäischsten aussieht. Niedrige, 100-jährige Kolonialstilhäuser, enge, verwinkelte Gassen und gusseiserne Laternen verleihen dem Viertel eine in diesem Teil der Welt skurril anmutende mediterrane Atmosphäre. Die endet abrupt an den Rändern des Quartiers, wo das moderne Macau Taipa Village umzingelt. Grell erleuchtete Hotelkasino-Kolosse erheben sich in der Nacht wie die Kampfmaschinen in Steven Spielbergs "Krieg der Welten".

Das ist das bombastische, kitschige, unfassbar viel Geld verschlingende und ausspuckende Macau - das Las Vegas Asiens. Im vergangenen Jahr wurde die Stadt von 30 Millionen Besuchern überrannt. Die meisten kommen vom chinesischen Festland und von Hongkong, wo das Glücksspiel verboten ist. Sie zocken einen Tag lang mit kurzen Nudelsuppen-Pausen, dann fahren sie wieder nach Hause.

Für das historische Zentrum mit dem Senatsplatz und seinem wellenförmig verlegten Schwarzweiß-Pflaster bleibt den meisten keine Zeit. Hier hat Harald Brüning sein Büro. Der deutsche Herausgeber der unabhängigen Tageszeitung Macau Post Daily verfolgt das Geschehen in seiner Wahlheimat schon seit 25 Jahren. Er meint: "Im Gegensatz zu Europa wird das Glücksspiel in Asien nicht religiös oder ideologisch als schlecht definiert."

Auch die Spielweisen unterscheiden sich seiner Beobachtung nach grundsätzlich: "Die Chinesen ergeben sich einem positiven Fatalismus. Sie versuchen einfach ihr Glück, während Europäer das Kasino mit rationalen Strategien austricksen wollen."

Mehr Einnahmen als in Las Vegas

Vielleicht liegt es an diesem ungehemmten Spieltrieb - jedenfalls haben die Hasardeure vom Perlfluss die Zocker in der Wüste Nevadas längst übertrumpft. Seit 2006 nehmen die Kasinos, Lotterien und Rennplätze Macaus mehr ein als die in Las Vegas - 2008 waren es etwa elf Milliarden Euro.

Es gibt viele Möglichkeiten, als Tourist zu dieser Bilanz beizutragen. Zum Beispiel im Canidrome mit seinen nächtlichen Windhundrennen. Zuerst werden die dürren Tiere an der Leine vorgeführt. Die Profiwetter taxieren die Flitzer ganz genau. Unter anderem schauen sie darauf, ob sich die Tiere erleichtern, denn das tun Hunde, wenn sie aufgeregt sind, und aufgeregte Hunde laufen angeblich schneller.

Dann surrt ein weißer Plüschhase mit wackelnden Ohren auf einer Schiene durch die Arena, die Hunde hecheln hinterher. Eine halbe Minute später ist das Spektakel vorbei: Der vermeintlich todsichere Gewinner ist Vorletzter, der vorher schläfrig wirkende Hund, der überhaupt kein Häufchen machen musste, hat gewonnen - und das Geld ist weg.

Noch schneller geht es in den Erdgeschossen der Kasinos, wo die leger gekleideten Tagesausflügler ihre Ersparnisse bei Roulette und Black Jack setzen und dabei nicht einmal richtig hinsehen. In den oberen Stockwerken ergehen sich derweil die wohlhabenden High Roller in Suiten mit eigenen Aufzügen, Karaokeräumen und privaten Spieltischen. Einsätze von einer Million Euro sind hier keine Seltenheit, sagen die Hotelangestellten.

Nachdem ein Polizeichef und Politiker beim Verprassen von unterschlagenen Steuergeldern aufgeflogen sind, ist es Funktionären vom Festland verboten zu spielen - offiziell jedenfalls. In der Politik Macaus dagegen hat das Glücksspiel oberste Priorität. 35 Prozent der Bruttoeinnahmen der Kasinos werden als Quellensteuer eingezogen - das macht drei Viertel aller Haushaltseinnahmen aus.

Ausländische Konsortien investieren

Bis 2002 war das Glücksspiel-Monopol in der Hand des mächtigen Hongkonger Tycoons Stanley Ho. Dem 87-Jährigen gehört halb Macau. Sein Hotel Lisboa war einst wie ein Synonym der Stadt. Heute wirkt der verwinkelte Komplex mit Einkaufspassage und verrauchten Spielsalons heruntergekommen. Im Untergeschoss bieten weiß gekleidete Mädchen aus der chinesischen Provinz schon mittags ihre Körper zwischen Uhrengeschäften und Garküchen feil.

Nebenan hat Ho kürzlich das neue Wahrzeichen Macaus eröffnet: das Grand Lisboa in Form einer protzigen goldenen Lotusblüte, die mit mehr als 200 Metern Höhe die Stadtansicht dominiert.

Aber heutzutage dürfen auch ausländische Konsortien bauen, darunter die gleichen, die in Las Vegas investieren. Das erste so entstandene Kasino, das Sands, kostete rund eine Milliarde Euro - und holte die Summe innerhalb von nur elf Monaten wieder herein.

Schon am Eröffnungsabend blockierten 30.000 Spielwütige die Straßen vor dem Kasino und stürmten die Spieltische noch vor dem Ende der Einweihungszeremonie. Seitdem hat Macau immer bizarrere Dimensionen angenommen.

Um mehr Platz für die Geldabwurfgebäude zu schaffen, wird das Meer aufgeschüttet. Macau, ein Verbund der gleichnamigen Halbinsel und der Inseln Taipa und Coloane, umfasst heute 29 Quadratkilometer - Ende der siebziger Jahre war es nur halb so groß.

Die Investoren überbieten sich mit Superlativen. Derzeit liegt das Hotelkasino The Venetian vorne, das sogar seinen Zwilling in Las Vegas übertrifft: mit täglich 60 000 Besuchern, einer Million Quadratmetern Geschossfläche, dem größten Kasino der Welt mit 800 Spieltischen und 3000 Automaten, mit 3000 Suiten und einem Konzertsaal für 15 000 Besucher.

Darüber türmt sich eine gigantische Einkaufspassage im Venedig-Look, inklusive Rialtobrücke, Campanile und gechlorten Kanälen, auf denen französisch sprechende Gondolieri Touristen unter einem künstlichen Himmel umherstaken.

Alle Bauprojekte liegen auf Eis

Die Idylle ist so falsch wie trügerisch. Neuerdings liegen alle Bauprojekte auf Eis. Die globale Finanzkrise hat den sagenhaften Boom Macaus gestoppt. Überdies hat die Regierung in Peking die Einreisen der Festland-Chinesen beschränkt. Und in Zukunft wollen auch andere Länder vom Spielfieber profitieren.

So planen etwa Taiwan und Singapur, Kasinos zuzulassen - was Macau zusätzlich Gäste kosten könnte. In der aktuellen Bedrängnis hat der erfolgsverwöhnte Tourismus-Direktor Macaus, João Manuel Costa Antunes, die Devise ausgegeben, Macau solle sich jetzt verstärkt als Ort der Geschichte, der Kultur und des Lebensgenusses positionieren, um neue Nachfrage zu schüren.

Wegen der Kultur kommen vor allem Europäer nach Macau. Deutsche wohnen gerne abseits der Kasinos auf der relativ grünen und wenig bebauten Insel Coloane, wo es zum Beispiel die heimelige Pousada de Coloane mit Meerblick, Holzmöbeln und Azulejos an den Wänden gibt. Von dort aus erkunden die Gäste das historische Zentrum Macaus um die berühmte Fassade der ausgebrannten Jesuitenkathedrale São Paulo, das die Unesco als Weltkulturerbe führt.

Die Portugiesen haben Macau 1557 gepachtet, um Handel zu treiben und zu missionieren. Es war der erste Brückenschlag zwischen Europa und China. Doch schon 300 Jahre später ging die Glanzzeit zu Ende. Die Engländer gründeten Hongkong, dessen Tiefseehafen die schweren Handelsschiffe von Macau weglockte.

So verlegte man sich Mitte des 19. Jahrhunderts auf anrüchigere Geschäfte: Sklavenhandel, Opium, Prostitution und Glücksspiel. Macau erwarb sich einen Ruf als Sündenpfuhl Asiens, den es immer noch nicht ganz los ist. Aber es entstand auch eine einzigartige Kultur.

Toleranz auf engstem Raum

"Macau ist ein Unikum - eine Stadt der Kontraste und verschiedenen Welten", sagt Verleger Brüning. Ihn faszinieren das tolerante Zusammenleben von Menschen unterschiedlichster Herkunft auf engstem Raum und ihre mehrsprachige Verständigung.

"Im Kern hat sich Macau nicht verändert", sagt er. Es gab keine Modernisierung, keine maoistische Kulturrevolution. Erst hatte China 450 Jahre lang keinen Zugriff auf Macau, heute schert sich in Peking auch kaum jemand um die alte, kleine Stadt.

Und auch die portugiesischen Gouverneure, die laut Brüning alle drei, vier Jahre ohne Orts- und Englischkenntnisse neu antraten, kümmerten sich weniger um Veränderungen als um ihr eigenes Wohlergehen. Die Bevölkerung habe sich dann auch nie mit den Portugiesen identifiziert.

So erscheint Brüning Macau heute "traditioneller, also chinesischer als China". Die Leute leben noch nach dem Mondkalender, und auch dem Besucher bieten sich immer wieder faszinierend ursprüngliche Szenen.

Auf dem Markt im Zentrum zum Beispiel werden getrocknete Seepferdchen und kleine Schlangen zum Verzehr angeboten wie vor 100 Jahren. Zwischen den Seen und Pagoden des Lou Lim Leoc Garden kann man alte Männer und Frauen beobachten, die jeden Tag zur selben Zeit Tai-Chi üben oder auf Zimbeln und Kniegeigen musizieren.

Und im Tempel der Göttin A-Ma, von der Macau seinen Namen hat, kann man selbst erleben, wie tief das Spiel mit Glück und Schicksal in den Einheimischen verwurzelt ist. Die Taoisten wünschen sich etwas am Altar und werfen zwei Holzstücke auf den Boden. Je nachdem, wie sie zum Liegen kommen, bedeutet das: Der Wunsch wird erhört oder man muss noch fester beten. Ein spirituelles Zentrum, wie es nicht besser zu Macau passen könnte: Sogar in überirdischen Dingen stehen die Chancen fifty-fifty.

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Quelle:
SZ vom 9./10.9.2009
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