Karneval in Rio:Die Kehrseite der Samba

In aufwändigen Tanzshows beflügeln "Mulatas" die Phantasien ihrer Zuschauer - und kämpfen im Alltag mit ihrem Image. Ein Blick hinter eine schöne Fassade.

Michaela Metz

Wie schwerelos wirbeln die Beine der Tänzerinnen zum Rhythmus der Samba-Trommeln über die Bühne. Lasziv lassen die fast ausschließlich mit rot, grün und golden glitzernden Pailletten geschmückten "Mulatas" ihre Hüften kreisen, den faszinierten Gesichtern der Gringos im Publikum entgegen.

Karneval in Rio: "Das Wort Mulata ist eine Erfindung": die Tänzerinnen Juliana, Raisa und Debora nach ihrem Auftritt.

"Das Wort Mulata ist eine Erfindung": die Tänzerinnen Juliana, Raisa und Debora nach ihrem Auftritt.

(Foto: Foto: Metz)

´Brasil, meu Brasil Brasileiro', klingt der patriotisch überhöhte Kultsong "Aquarela do Brasil" aus den dreißiger Jahren durch den Saal und öffnet den Vorhang der Geschichte. Er erzählt von listigen Mulatten, dem König aus dem Kongo, der zum Sklaven wurde, von mitreißender Samba. Und von den Mulatas, deren verführerischer Blick scheinbar gleichgültig bleibt.

Acht Reisebusse stehen an diesem Abend in zwei Reihen vor dem Touristen-Tempel "Plataforma" im noblen Stadtteil Leblon von Rio de Janeiro. Sie kommen vom Luxusliner 'Aurora', der im Hafen vor Anker liegt, dort wo in früheren Zeiten die afrikanischen Sklaven ankamen.

Etwa vierhundert Engländer, Franzosen und Deutsche haben sich durch die vom sommerlichen Regen dampfenden Straßen der Stadt chauffieren lassen, um in der Folklore-Show des Plataforma einen Hauch des Karnevals zu erhaschen und die brasilianische Geschichte Revue passieren zu lassen.

Vorbei an den Bürotürmen des Zentrums und den Hügeln, die die Stadt begrenzen. Dort flackern in Kontrast mit dem wuchernden Urwaldgrün des Stadtdschungels tausende Lichter von den Favelas herab. Entgegen den Gesetzen der Schwerkraft kleben unverputzte Ziegelhütten an steilen Hängen.

Im "Plataforma" ist grau die vorherrschende Haarfarbe, vereinzelt rot verbrannte Haut zwischen Spaghettiträgern. Bewegungslos sitzen die Gäste der Show an langen Tischen und bestaunen Indios im Leopardenfell, muskulöse Capoeira-Kämpfer, die mit wildem Trommeln und waghalsigen Salti diesen urprünglich von afrikanischen Sklaven als Tanz getarnten Kampfsport vorführen und schwarze Frauen in der ausladenden, ganz und gar weißen Tracht Bahias.

Dann schweben die farbenprächtigen Kostüme des Karnevals über die Bühne. Fantasien in Form von riesigen Schmetterlingen oder Pfauen aus bunten Federn, für die Rio de Janeiro berühmt ist, ebenso wie für seine schönen Frauen, die Mulatas.

"Sie wollen uns fotografieren, uns anfassen. Die Frauen berühren oft unsere Haut, sie wollen wissen wie sie sich anfühlt. Und sie glauben nicht, dass der Po echt ist. Manche Mulatas haben ja einen enormen Po. Das ist komisch, aber nicht unangenehm, wenn das die Frauen tun," erzählt Raisa, die vor jeder Show im Bikini-Kostüm mit den Touristen posiert, damit die Haus-Fotografin Erinnerungsfotos schießen kann.

Damit die männlichen Besucher ihr nach der Show nicht nachstellen, verlässt Raisa das Etablissement nur in Begleitung. Zum Schutz der Tänzerinnen hat das Plataforma strenge Regeln aufgestellt. Der Kontakt zum Publikum ist verboten.

Die Künstler müssen mindestens eine Stunde vor Beginn der Show da sein und nach ihrem Auftritt warten, bis der letzte Gast das Haus verlassen hat, damit sich ihre Wege nicht auf der Straße kreuzen. Denn die Tänzerinnen haben vieles gemeinsam mit den Frauen, die nachts ihr Geld auf der Straße verdienen.

Die Kehrseite der Samba

Neben Anerkennung und Bewunderung begleitet sie dieses Stigma immer. Es sind die vielen kleinen Kommentare, die Nebensätze, die verletzen. Vor ein paar Wochen ging Debora zum Arzt, sie war krank und konnte nicht auftreten. Der füllte die Bestätigung aus, setzte dann eine sorgenvolle Miene auf und fragte, ob Raisa nach der Vorstellung "Programm" mache.

Ein verständliches Vorurteil, wird doch ihr Beruf sogar in offziellen Papieren mit der Bezeichnung "Mulata" angegeben. "Natürlich gibt es Tänzerinnen, die ihren Körper verkaufen", sagt Debora, "aber für uns ist es sehr schwer, mit dem Vorurteil zu leben, alle Mulatas seien Prostituierte".

Das Engagement in einer Mulata-Show ist auch eine Chance für die jungen Frauen, die oft aus den Favelas am Rande der Stadt stammen. Debora tourte vier Monate lang durch Russland, Raisa war schon in China.

Vor allem während des Karnevals wird der Mythos der Mulata zur Manie einer ganzen Stadt. "Dieser Beruf ist wirklich wunderbar!" ruft Raisa und betont dabei jede Silbe. Sie tritt schon seit ihrem zwölften Lebensjahr in Samba-Shows auf. Inzwischen ist sie einundzwanzig und immer noch begeistert.

Schönheitsideale wechseln

"Hochhackige Schuhe, enges Shirt, Mikro-Rock das gehört eben dazu", sagt Juliana, "viele Mulatas ahmen das Styling der Hip-Hop Queens von MTV nach". Schon Ende der siebziger Jahre prägte der Kult-Showmaster Abelardo Barbosa, genannt Chacrinha, mit seiner verrückten Fernsehshow "Discoteca do Chacrinha" diesen Look.

Ihm sekundierten die so genannten "Chacretes", die zu erotischen Idolen erhoben wurden und sich Rita Cadillac oder Fernanda Terremoto nannten. Mit einfacher Choreographie und viel Haut brachten sie schon damals die Zuschauer in Tutti-Frutti-Manier zum Kochen.

Um für eine Mulata-Show engagiert zu werden, müssen die Tänzerinnen dem aktuellen Schönheitsideal entsprechen. "Vor fünf bis zehn Jahren bevorzugten sie hier dunklere, sehr grazile Frauen. Negras, Negras", erklärt Juliana. Damals glaubte man, dass die Gringos nicht das sehen wollen, was sie ohnehin kennen.

"Heutzutage sind große, hellbraune Frauen mit Stupsnase und schmalen Lippen, sehr schmaler Taille und üppigen Hüften gefragt. Mit "Corpo Violao" - dem Körper einer Gitarre. Schwarze Tänzerinnen wollen sie nicht", sagt die 20-Jährige.

Samba als Symbol nationaler Identität

Von sich selbst sagt die zierliche mädchenhafte Frau: "Ich bin schwarz. Meine Haare sind drahtig, meine Haut ist dunkel." Trotzdem tanzt Juliana als "Mulata" in der Show, weil ihr Gesicht dem derzeitigen Ideal entspricht und sie mit einer klassischen Ballettausbildung punkten konnte. "Es gibt keine Frau mit der Hautfarbe 'mulata'. Frauen von weiß bis tiefschwarz nennen sich Mulata!" sagt Juliana und merkt noch an: "Das Wort Mulata ist eine Erfindung." Tatsächlich regt dieses Wort die Phantasie an: Rhythmus im Blut, Verlockung im Blick und Samba in den Beinen.

In den dreißiger Jahren hatte die Samba den Sprung in die weiße Oberschicht Brasiliens geschafft. Das Radio machte ihn allgegenwärtig, neue Plattenfirmen schossen wie Pilze aus dem Boden. Diese ursprünglich abschätzig beäugte Musik der Schwarzen wurde zu einem Symbol nationaler Identität.

Die Kehrseite der Samba

Der damalige Präsident Getúlio Vargas förderte diese Kultur mit seiner Politik. Er brauchte Symbole, denn er wollte die Menschen vom Amazonas bis Rio Grande do Sul dazu bringen, sich als Brasilianer zu fühlen.

Später, als er schon als Diktator über das Land herrschte, ließ er die Flaggen der einzelnen Bundesstaaten verbrennen, um die Einigkeit der Nation Brasilien zu demonstrieren. Und tatsächlich ist bis heute die blaue Weltkugel auf gelb-grünen Grund im ganzen Land allgegenwärtig.

Unterstützung fand er in den später als romantisch kritisierten Rassen-Theorien des Soziologen und Anthropologen Gilberto Freyre, der in seiner Schrift "Herrenhaus und Sklavenhütte" die Vermischung von schwarz und weiß propagierte, um ein homogenes brasilianisches Volk zu schaffen.

Ganz besonders hob Freyre schon damals die Mulattin als Ausdruck nationaler Gemeinschaft hervor und fügte hinzu, dass ein brasilianischer Mann "solche Provokationen nicht ignorieren" könne.

Die Besucher der Show im Plataforma verlieren erst im großen Finale ihre europäische Steifheit. Mit Begeisterung lassen sich die greisen Herren und Damen in den vorderen Reihen vom mitreißenden Lächeln der jungen Mulatas von ihren Stühlen ziehen.

Nach der Show zurück in die Favela

Verzaubert von buntem Federschmuck, glitzernden Pailletten und viel brauner Haut beginnt ein seliges Ringelreihen, das von begeisterten Rufen begleitet wird. Zu dieser Euphorie machte die Zeitung O Globo am folgenden Tag die nüchterne Notiz: "Rekord - sechs Kreuzfahrtschiffe bringen fast achtzehntausend Touristen in die Stadt. Die Sicherheit am Hafen wurde verstärkt, ein Dieb festgenommen, zwei Passagiere kamen zu Tode. Einer davon an Bord der Aurora. Die Todesursache war Altersschwäche."

Nach der Show kehren Debora, Raisa und Juliana in ihre Viertel zurück, während die Touristen auf dem Weg zu ihrem Traumschiff daran vorbeiziehen und ihr Blick noch einmal über die idyllischen Lichter am Hang schweift.

Dann werden die schönen Mulatas wieder zu Favela-Bewohnern, zu Farbigen, die noch immer nicht die gleichen Rechte haben wie die Weißen, die sie kurz zuvor bejubelten.

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