Karneval in Brasilien:Phantasie statt Sex-Appeal

Karneval Maracatu Cambinda Brasileira Pernambuco Brasilien

Herrschaftliche Kleidung gehört dazu. Die Karnevalsumzüge im Bundesstaat Pernambuco werden von einer "Dama do Paço" begleitet.

(Foto: Alexandre Severo/Reuters)

In Rio tobt das Samba-Spektakel, auf dem Land aber sind die alten Rituale des brasilianischen Karnevals erhalten geblieben. Einst krönten sich dabei Sklaven zu Königen - und waren frei wie nie.

Von Christine Wollowski

Flirrende Wesen wie aus einer anderen Welt hocken im Schatten der Fächerpalmen am Kirchplatz. Sie lehnen ihre Flitterhaarbüsche an schlecht verputzte Hauswände, liegen auf dem Bürgersteig, daneben Gestalten in Reifröcken und Stöckelschuhen. Die Damen zeigen sonnengegerbte Gesichter und manch zahnloses Lächeln unter den Schleiern, bei den Männern lugen unter den prächtigen Kostümen abgetretene Turnschuhe hervor, oft fehlen die Schnürsenkel.

Jeder Zentimeter Schatten ist besetzt. Trommelrhythmen lassen die Zuschauer erbeben, dazu lärmen Kuhglocken und Trillerpfeifen. Es ist Karneval in Nazaré da Mata im Nordosten Brasiliens - und großes Treffen der Maracatús.

Aus Afrika nach Brasilien

50 Kilometer von Recife, der Hauptstadt des Bundesstaates Pernambuco, entfernt, ist die Hitze in dieser Jahreszeit drückend. Zona da Mata heißt die Region, in der es selten regnet und vor allem Zuckerrohr gedeiht. Maracatú ist ein Rhythmus und eine Tradition, die mit den Sklaven aus Afrika nach Brasilien gelangt ist und sich hier mit indigenen und europäischen Elementen vermischt hat. Ausschließlich von Trommeln und anderen Perkussionsinstrumenten begleitet, führen Tanzgruppen mit Dutzenden Mitgliedern eine Art Theater auf, in dem ein Hofstaat in prächtigen Kostümen noch luxuriöser gekleidete Prinzessinnen und Königspaare begleitet. Zu Kolonialzeiten war das Spiel Verspottung der Herren und Anmaßung zugleich. Bis heute wird die Tradition vor allem von Arbeitern der Zuckerrohrplantagen gepflegt, manche der Gruppen bestehen seit mehr als 100 Jahren.

Viele der Maracatús sind schon vor Tagen angereist. "Wir schlafen in der Schule", sagt Valdir dos Santos, der müde aussieht, aber leuchtende Augen hat. Eben hat er einen Teller der vom Bürgermeister gestifteten Bohnensuppe gelöffelt, jetzt lässt er sich zwei Finger hoch Misturado einschenken, eine Mischung aus Zuckerrohrschnaps und Gewürzen: "Das ölt die Stimme!"

Irgendwann im Laufe des Tages wird Valdir dos Santos mit den anderen vor der Jury auf der Tribüne die Viehtreiberweisen singen, die nach altem Brauch spontan erfunden werden und vom Leben in der einsamen Weite erzählen. Seit Monaten fiebert er darauf hin. Dutzende solcher Gruppen proben auf einsamen Plantagen in Pernambuco ihr Tanztheater mit einer Choreografie, die an die Tänze ihrer afro-brasilianischen Religion erinnert. Hier in Nazaré treffen sie die Mitglieder der anderen Maracatús, präsentieren sich stolz und freuen sich, wenn Fremde sie filmen und fotografieren.

Zwei Tage lang, am Karnevalssamstag und am Sonntag, besetzen die Kostümierten die Straße zum Kirchplatz, und der Ort vibriert im Rhythmus des alten Spiels. Nur eine Handvoll Touristen staunt über die archaischen Gestalten: Das Treffen in Nazaré ist immer noch ein Geheimtipp.

Hinter Masken zum Seitensprung

Selbst in den nahe gelegenen Städten Recife und Olinda ist der Karneval viel ursprünglicher als das durchorganisierte Samba-Spektakel, das man in Europa aus Rio de Janeiro kennt: Während dort die Musik von Sound-Lkws schallt, spielen hier Blechbläser-Formationen die alten Melodien des feurigen Frevo, und Hunderte private Karnevalsgruppen bestimmen das Treiben mit ihren selbst gemachten Kostümen, die mehr auf Phantasie setzen als auf Sex-Appeal. Die Straßen bevölkern sich mit Gestalten vom Superman bis zum Poltergeist. Der "Bloco da Saudade", die Gruppe der Sehnsucht, besteht aus alten Damen in sorgfältig genähten höfischen Kleidern, die traditionelle Weisen singen und sich nicht vom "elektronischen Zelt" stören lassen, in dem DJs und Rockgruppen eine ganz andere Party feiern.

Zwischen den Jahrhundertwendebauten von Recife Antigo, der Altstadt, und den Kolonialhäusern von Olinda ist Karneval ein ausgelassenes Fest, bei dem alle mitmachen - ohne dafür Eintritt zu bezahlen wie oft in Rio de Janeiro oder Salvador. Kostenlos zu sehen gibt es auch die reichsten und größten Maracatús sowie Afoxé-Gruppen, die sich aus Angehörigen der afro-brasilianischen Religion Candomblé zusammensetzen. Sie feiern eine Art Gottesdienst auf der Straße, bei dem sie die Lieder singen und zu den Rhythmen tanzen, mit denen sie auch in ihren Kultstätten die Götter rufen. Außerdem sind echte und falsche Indios mit Pfeil und Bogen zu sehen, die hier Caboclinhos heißen.

Mit weniger als 400 000 Besuchern im vergangenen Jahr hat der Straßenkarneval von Recife trotzdem einen eher bescheidenen Anteil der mehr als sechs Millionen Faschingstouristen in ganz Brasilien angelockt. Gerade das macht seinen Reiz aus. Selbst Fremde geraten mitten ins Geschehen, wenn etwa in Olinda die Bonecos Gigantes auf die Straße gehen: meterhohe Puppen, die mit ihren Pappmaché-Gesichtern Lokalpolitikern oder Sänger ehren.

In Bezerros, einem 60 000-Einwohner-Städtchen gut hundert Kilometer westlich von Recife, sind die Papangú zu Hause. Durch den Ort schlendern Gestalten, hinter Gipsmasken verborgen, in meist unförmigen Gewändern, die oft nicht einmal die Hände sehen lassen. Bezerros wirkt mit seinen steilen Straßen und den bunten Kolonialhäusern wie eine Miniaturausgabe von Olinda - und vor allem am Karnevalssonntag begegnet man dort den starren Gesichtern. Vor gut 100 Jahren sollen sich zuerst zwei zur Völlerei neigende Brüder so verkleidet haben, um an den tollen Tagen nach Herzenslust und unerkannt bei Nachbarn und Bekannten zechen und essen zu können, heißt es. Andere sagen, die Tradition habe einen religiösen Ursprung.

Nicht erkannt zu werden, ist jedenfalls bis heute erklärtes Ziel der Maskierten in Bezerros. Das schafft Freiheit für ein paar Tage in einem Ort, in dem jeder jeden kennt. Wer ganz sichergehen will, zieht sich im Hotel um, damit niemand sieht, aus welchem Haus er gekommen ist. Manche Eheleute nutzen die Masken angeblich für Seitensprünge. "Ich habe meinen Ehering ausgezogen", johlt fröhlich ein Feuerwehrmann, der mehr als hundert Kilometer angereist ist, "aber es ist gar nicht leicht, hier jemanden kennen zu lernen!" Schon die Auswahl des Flirtziels ist nicht einfach: Oft ist bei den ausgepolsterten Kleidungsstücken nicht einmal zu erkennen, ob der Papangú ein Mann oder eine Frau ist.

Rosiane und Elidiane gehen als Phantom der Oper, im Doppelpack, verteilen Stoffrosen an ausgewählte Feiernde und nehmen die Tradition besonders ernst: "Wir verraten immer erst am Ende des Karnevals, welches Kostüm wir uns ausgesucht haben, unsere Tante näht es im Geheimen!" Ihren Verlobten hat Elidiane zu Hause gelassen. Sie sagt: "Es ist ein tolles Gefühl, nicht erkannt zu werden, auch wenn wir nichts Verbotenes tun!" Hinter einer traurigen weißen Maske, über die Blut rinnt, und einem bunt angemalten Gipsgesicht verbergen sich Sílvio und Fátima, die unaufgefordert ihren Ehering zeigen. Fremdgehen interessiert die beiden nicht: "Wir sind 33 Jahre verheiratet und feiern Karneval immer zusammen. Schließlich haben wir uns als Papangú kennengelernt!"

Brasilien
(Foto: SZ Grafik)

Informationen

Anreise: Von Frankfurt nach Recife hin und zurück ab 1000 Euro, zum Beispiel mit TAM oder Condor, www.tam.com.br, www.condor.de

Unterkunft: In Olinda: www.pousadabaobadeolinda.com.br oder in Boa Viagem, dem Strandviertel von Recife: www.hotelaconchego.com.br, ca. 500 Euro für vier Nächte im DZ; Ausflüge nach Nazaré und Bezerros sind über die meisten Hotels buchbar.

Weitere Auskünfte: Während der Karnevalswoche (1. bis 5. März) zieht am Samstag der Galo da Madrugada durch Recife, am Sonntag treffen sich in Bezerros die Papangús, am Montag die Maracatús in Nazaré und Montagnacht in Recife die Afoxé-Gruppen. Am Dienstag sind in Olinda die Bonecos Gigantes zu sehen; www.programacaocarnavalrecife.com.br

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