Süddeutsche Zeitung

Karibik:Fluch der Karibik

Die Antillen-Insel Dominica hat Berge, Regenwald und ein Problem: Viele Menschen kennen sie noch gar nicht. Wer einmal durch ihren Dschungel gewandert ist, weiß, was andere hier verpassen.

Von Florian Sanktjohanser

Derrick Joseph singt. Seit Stunden geht das so. Als er den ersten steilen Hang wie eine Lokomotive hochgezogen ist, bei mehr als 30 Grad im Schatten, hat er Beres Hammond geträllert. Als er über Steine durch einen Fluss tapste, schmachtete er wie Lionel Richie, statt all die Farne und Blumen, die Urwaldriesen und Kletterpflanzen, dieses ganze überwältigend schöne Treibhaus zu erklären. Und jetzt weht leise ein Song von Bob Marley über den Naturpool am Fuß eines Wasserfalls.

Wenn Derrick Joseph frei wählen könnte, würde der 36-Jährige nur noch Gitarre spielen und singen. Er würde mit seiner Band auftreten und davon leben. Aber auf Dominica, der Inselrepublik mit nur 70 000 Bürgern, gibt es viele gute Musiker und wenig Geld. Und so arbeitet Derrick Joseph als Wanderführer; er soll Touristen unbeschadet durch den Dschungel der Antilleninsel führen. Ganz einfach ist auch das nicht.

Tippt man "Dominica" in eine Internet-Suchmaschine ein, erscheinen auf dem Monitor Landkarten der Karibik mit zwei Pfeilen. Der eine deutet auf eine große Insel, der andere auf einen winzigen Fleck. Darunter steht: Dominica ist nicht die Dominikanische Republik. "Das ist unser größtes Problem", sagt Derrick Joseph. "Die Leute kennen Dominica nicht." Denn Dominica fehlt genau jene Zutat im Urlaubscocktail, die für eine Karibikinsel entscheidend ist: weiße Strände. Deshalb gibt es nur wenige Luxushotels und keinen Flughafen, auf dem die großen Interkontinental-Maschinen landen können. Die wenigen Touristen sind vor allem Passagiere von Kreuzfahrtschiffen. Und die bleiben meist nur ein paar Stunden.

Dominica hat andere Qualitäten: Natur und Berge. Eine Kette von Vulkanen durchzieht die Insel von Nord nach Süd, in den Schluchten stürzen Wasserfälle in türkise Gumpen. Regenwald bedeckt die Hänge und bildet eine Wildnis, die es auf anderen Inseln kaum noch gibt - und die heute einfach zu durchwandern ist. Seit 2012 führt der Waitukubuli National Trail im Zickzack über die Insel, 185 Kilometer, eingeteilt in 14 Etappen. Der erste Fernwanderweg Dominicas verbindet alte Wege zwischen den Dörfern und Pfade der Maroons, Banden von entlaufenen Sklaven, die sich im Bergwald vor den britischen Kolonialisten versteckten. Viele Teilstücke waren so stark zugewuchert, dass der Weg de facto neu angelegt werden musste. Fünf Jahre lang hackten sich Arbeiter mit Macheten durchs Unterholz, planierten Wege und bauten Brücken und Pavillons. Rund 5,6 Millionen Euro bezahlte die EU für das Projekt, es war Teil eines Förderprogramms für Ökotourismus.

Der Weg startet am südwestlichsten Punkt, auf der Halbinsel Scotts Head. Auf dem Hügel mit Wachtposten samt rostender Kanone hat man den ersten grandiosen Ausblick über die Soufrière Bucht hinweg zu den immergrünen Bergen. Nur sehr wenige Wanderer gehen von hier den ganzen Weg bis hinauf zum Fort Shirley, dem Endpunkt im Cabrits Nationalpark. Es wäre eine Schinderei. Besonders auf den Etappen acht und neun, den "Kamikaze-Etappen", wie Joseph sie nennt. "Eine Schlucht nach der anderen, zwei mal neun Stunden auf und ab durch den dichtesten und ältesten Dschungel, ohne Pause."

Informationen

Anreise: Der schnellste Weg führt mit Air France nach St. Martin und anschließend mit Winair nach Dominica, hin und zurück ab ca. 900 Euro. Günstiger ist es, nach Guadeloupe oder Martinique zu fliegen (ab ca. 570 Euro) und am nächsten Tag die Fähre nach Dominica (ca. 120 Euro) zu nehmen. Unterkunft: Das Papillote Wilderness Retreat ist eine gute Basis für die mittleren Etappen, DZ ab etwa 125 Euro, www.papillote.dm. Im Nordteil eignen sich die Picard Beach Cottages, ab etwa 110 Euro pro Hütte (bis zu drei Erwachsene), picardbeachcottages.dm Wandern: Für den Waitukubuli Trail wird ein Site Pass (12 US-Dollar pro Tag; 40 Dollar für zwei Wochen) benötigt. Viele Minibus-Fahrer kennen die Startorte der Etappen. Auskünfte unter www.waitukubulitrail.com

Weitere Auskünfte: Dominica Tourist Office: Tel.: 0711 26 34 66 24, E-Mail: dominica@tropical-consult.de.

Wer es einfacher haben möchte, greift sich einzelne Teilstücke heraus. Die vierte Etappe passiert einige der berühmtesten Wasserfälle, Schluchten und Bergseen Dominicas. Sie beginnt in Wotten Waven, dem Kurort Dominicas, wo bunt bemalte Schilder für die Spas und deren heiße Schwefelwasserbäder werben. Der Weg führt steil hinauf in den Regenwald des Morne-Trois-Pitons-Nationalparks, den die Unesco zum Weltnaturerbe erhoben hat. Die Stämme und Äste sind eingesponnen in Orchideen und Bromelien, Lianen baumeln bis zum Waldboden. Farne schimmern im Gegenlicht wie zarte Seidenfächer, gelbe und rote Helikonien leuchten durchs grüne Dickicht. Nur die Tiere fehlen. Keine Affen sind zu sehen, keine Schlangen, keine Papageien. Den Nationalvogel Sisserou, die Kaiseramazone, schaue man sich besser im botanischen Garten von Roseau an, sagt Joseph. Und eine Königsboa habe selbst er in neun Jahren als Guide nur ein Mal gesehen. Giftige Schlangen gebe es ohnehin nicht auf Dominica, sagt Joseph. Dann singt er weiter.

Trotz Regenwald und Schluchten: Verlaufen kann man sich auf dem Waitukubuli Trail eigentlich auch nicht. Der Weg ist so gut mit Schildern und blau-gelben Farbklecksen markiert, dass man sich einen Guide sparen kann. Im Grunde also beste Bedingungen für die stetig wachsende Schar von Mehrtageswanderern, für die in den Alpen ein Weg nach dem anderen ausgeschildert wird. Allein: Die Weitwanderer kommen nicht. Vor den 65 Meter hohen Father Falls und den etwa halb so hohen Mother Falls, wohin während der Kreuzfahrt-Saison jeden Tag mehrere Hundert Touristen vom Hafen der Hauptstadt Roseau hergekarrt werden, stehen wir Ende April ganz alleine. Das gleiche Bild bietet sich bei den Middleham Falls. Und selbst in der fantastischen Klamm der Titou Gorge badet kein Mensch.

"Wir haben uns viel mehr erwartet", sagt Annette Peyer Loerner, die seit 13 Jahren das kleine "Tamarind Tree Hotel and Restaurant" auf Dominica leitet und Wandertouren anbietet. "Der Waitukubuli Trail entwickelt sich langsamer, als wir alle dachten." In den Jahren 2012 und 2013, den ersten nach der Eröffnung, wurden 2191 Wanderer gezählt, 713 davon gingen mehr als einen Tag. Der Grund sei einfach, sagt die Schweizerin: "Die Leute denken bei Karibik nicht ans Wandern."

Dabei hat die Insel eine richtig gute Story zu bieten, die sich gut vermarkten ließe: Vor zehn Jahren kam Disneys Filmcrew nach Dominica, um hier den zweiten und dritten Teil von "Fluch der Karibik" zu drehen. Genutzt wurde der Filmruhm bisher kaum. Zumindest Joseph aber hatte zwei Wochen einen gut bezahlten Job: "Ich war einer der Kannibalen, die Johnny Depp grillen wollten." Dass die Filme das Zerrbild vom menschenfressenden Kariben weitertragen, das viele als beleidigend empfinden, störte ihn offenbar nicht.

Hinweis der Redaktion

Die Recherchereisen für diese Ausgabe wurden zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

Joseph war einer von mehreren Dutzend Statisten; er wurde vor allem deshalb engagiert, weil er Kalinago ist und damit zu den 3000 Überlebenden jenes Volkes gehört, das vor der Ankunft der Europäer überall auf den Kleinen Antillen lebte. Das gebirgige, unzugängliche Dominica war für die Kalinago die letzte Zuflucht. Waitukubuli nannten sie die Insel, "hoch ist ihr Körper". Der gleichnamige Fernwanderweg zollt ihrer lange diskriminierten Kultur Tribut. So führt die sechste Etappe durch das gesamte Reservat im Nordosten, in dem heute die meisten Kalinago leben, vorbei an ärmlichen Holz- und Wellblechhütten, an der neuen Kirche mit einem Altar in Kanuform und an einer Schule, auf deren Hof die Jungs Kricket spielen. Ein Trampelpfad windet sich entlang den Hügeln. Auf ihnen wachsen Yams, Bananen und Dasheen, die spinatähnliche Basiszutat für Eintöpfe. Joseph sammelt zwei Kokosnüsse und spaltet sie auf einem Stein.

"Wir Kalinago waren große Fischer", sagt er. Seine Vorfahren ruderten in wackeligen Kanus hinüber nach Martinique, um Früchte und Fische gegen Rum und französische Würste zu tauschen. Die Briten unterbanden den Schmuggel. "Jetzt gehen wir in den Supermarkt und kaufen Hühnchen, Hühnchen, Hühnchen."

Das Museumsdorf Kalinago Barana Autê am Wegesrand versucht, die Kultur zu bewahren. Ein strohgedecktes Taboui wurde nachgebaut, jenes große Gebäude, in dem früher die Männer in Hängematten schliefen. Heute ist es eine Bühne, auf der junge Kalinago Folkloretänze vor Kreuzfahrt-Touristen aufführen. Dazu werden Kassava-Brot und Tee aus Zitronengras gereicht. Bald soll auch wieder eine Vorführung auf dem Programm stehen, bei der ein Gommier-Baum zu einem Kanu ausgehöhlt wird. Und nebenan lässt ein aus der US-Armee heimgekehrter Kalinago ein Hotel im traditionellen Stil errichten.

"Der Kriegergeist ist bei uns immer noch stark", sagt Derrick Joseph bei einer Pause. Soll heißen: Ein Kalinago gibt nicht so schnell auf.

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Quelle:
SZ vom 11.06.2015
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