Kanalinsel Guernsey:Sonntagsbraten zu gewinnen

Fleischlotterie, Auto-Speedway, Meer gucken: Die Bewohner der Kanalinsel Guernsey haben viel Zeit, deshalb pflegen sie bisweilen eigentümliche Bräuche.

Christine Dohler

Den ganzen Tag im Auto sitzen und aufs Meer schauen, wer macht das schon? Auf Guernsey steht am Sonntagnachmittag Wagen an Wagen auf den Parkplätzen mit Blick auf Sandstrand und Felsküste. Mal sieht man eine Familie mit tobenden Kindern hinten und lesenden Eltern vorne. Mal ein älteres Ehepaar: Sie trinkt Kaffee aus der Thermoskanne, er schläft mit offenem Mund. Das hat etwas von Autokino ohne Film. "So kommt man mal raus", sagt einer.

Seltsame Bräuche auf der zu Großbritannien gehörenden Kanalinsel Guernsey, www.britainonview.com

Autorennen am Strand von Vazon Bay im Nordwesten der Insel

Jeden Tag Punkt zwölf Uhr erinnert ein Kanonenschuss vom Castle Cornet an die vielen Gefechte, die es um Guernsey gab, und an die heutige Unabhängigkeit. Die alten Schlachten sind längst entschieden, die deutsche Besetzung ist überstanden. Auf Guernsey droht nur noch eine Gefahr: der Inselkoller.

Das Eiland im Ärmelkanal ist schnell durchfahren: Guernsey ist zehn Kilometer lang und zwölf Kilometer breit. Nur 60 000 Einwohnern kann man begegnen. Eines haben sie hier besonders reichlich: Zeit. Das liegt daran, dass kaum jemand viel arbeiten muss.

Die Insel untersteht der britischen Krone. Aber wie alle Kanalinseln hat auch Guernsey seine Inselregierung und eigene Gesetze, zum Beispiel geringe Steuerabgaben. Viele Bewohner des Steuerparadieses arbeiten im Bankenwesen und haben um 17 Uhr Feierabend.

Um nicht der Langeweile anheimzufallen, pflegen sie Wettbewerbe und eigentümliche Traditionen. Auf der Insel gibt es Trophäen für die größte Karotte, den schönsten Hasen oder den leckersten Kuchen.

Es vergeht kaum ein Tag, an dem sich die Einheimischen nicht untereinander messen: sei es mit einem Autorennen am Strand oder beim Marathon an der Steilküste, von der Polizei eskortiert. Was sollen die Beamten auch sonst machen?

Freitagabend, 19.30 Uhr, im Pub Imperial Hotel an der Westküste. Beim meat draw, der Fleischverlosung, geht es darum, den Sonntagsbraten zu gewinnen.

Die Lose verkauft ein Pub-Mitarbeiter mit Bauchladen für ein Pfund, das ist etwa ein Euro. Er bimmelt mit einer Fahrradklingel. Dann geht es im Gedränge vor der Theke um die Wurst.

Ein Sonntagsbraten für die Harmonie

Der Spielleiter stöpselt ein Mikrofon in den Verstärker über dem Bilderrahmen mit den Seemannsknoten. Ein Kollege mit dem T-Shirt-Aufdruck "F. B. I. (Female Body Inspector)" geht mit einer Plastiktüte durch das Lokal, lässt die Gewinnernummern ziehen und über das Mikrofon ausrufen.

Seltsame Bräuche auf der zu Großbritannien gehörenden Kanalinsel Guernsey, www.britainonview.com

Im Hafen der Inselhauptstadt St. Peter Port

Etwa 50 ausgelassene Inselbewohner halten bunte Zettel mit Nummern in der einen Hand, in der anderen ein Bier. Auf den Tischen stehen Plastikkörbchen voller Käsesandwiches mit rohen Zwiebeln und frittierten Tintenfischringen.

Los folgt auf Los. Ein aufgedrehter Jubelschrei folgt dem nächsten, die meisten Gäste sind schon seit Feierabend hier. Auf einem Tisch am Ausgang ist das Fleischbuffet auf türkisen Blümchendecken angerichtet: Steaks in Frischhaltefolie und Würstchen auf Styroportellern.

Manchmal gibt es lebende Hummer und Krabben oder auch Gemüsekisten zu ergattern. "Die Hummer sind zuerst weg, das Gemüse zuletzt", sagt ein Pubmitarbeiter.

Ein Gewinner flüstert dem Mitarbeiter zu: "Sag aber keinem, das ich die Gemüsekiste bekommen habe. Das ist doch peinlich!"

Dabei können die Möhren wenigstens nicht mehr aus der Tasche kriechen. So wie die Sonntagskrabbe, die sich einmal leise raschelnd davonschlich und über den Pubboden irrte, durch die Losnieten, die nach der Verlosung wie Konfetti durch die Luft geworfen werden. Ein Oktopus soll es einmal bis an die frische Luft geschafft haben.

Das Los-Spektakel dauert gerade mal so lange, wie man braucht, um zwei Bier zu trinken, und der Pub leert sich schlagartig um die Hälfte. Die Gewinner freuen sich, fragen sich aber auch: "Was mache ich jetzt mit dem Brocken Fleisch?" Ein Verlierer grummelt vor sich hin: "Im Supermarkt einzukaufen wäre billiger gewesen. Aber es ist der Nervenkitzel."

Fleisch besänftigt wütende Ehefrauen

Angeheitert fahren sie mit baumelnder Plastiktüte am Fahrradlenker nach Hause. Entstanden ist der Brauch aus Gründen der Harmonie: Die Ehemänner brauchten etwas, wenn sie betrunken aus dem Pub kamen, um ihre Frauen zu besänftigen. Mit so einem Sonntagsbraten ist die Welt auf Guernsey wieder in Ordnung.

Die zweitgrößte Kanalinsel ist grün, sauber und sicher. Die Menschen sind freundlich, die Luft riecht leicht blumig und der Strand liegt nie mehr als 15 Minuten entfernt. Zur Außenwelt braucht man länger: 120 Kilometer sind es bis zum britischen Festland und 43 Kilometer zur französischen Nordküste.

Das Tempo auf den Straßen ist auf 55 Kilometer pro Stunde beschränkt, und anstatt auf Ampeln vertrauen die Autofahrer auf persönliche Absprachen.

Guernsey und der Ehrenkodex

An einer Kreuzung wird immer abwechselnd gefahren. Wer zuerst darf, wird mit Gesten entschieden. Unfälle und Verbrechen passieren selten.

Seltsame Bräuche auf der zu Großbritannien gehörenden Kanalinsel Guernsey, www.britainonview.com

Der Leuchtturm von Hanois liegt auf Guernseys westlicher Seite.

Wenn der dreijährige Oli seinen Teddy Mr. Patchy verliert, steht darüber ein Aufmachertext in der Tageszeitung Guernsey Press.

Anstatt im Supermarkt einzukaufen, gehen die Menschen auf Guernsey lieber zum hedge veg, dem Heckengemüse. Am Straßenrand stehen kleine Holzregale mit Kartoffeln, Äpfeln und Blumen. In die sogenannten honesty boxes wirft jeder das geforderte Geld ein. Hier zu betrügen ist ein großes Vergehen. Es droht eine Geldstrafe und die Veröffentlichung des vollen Namens samt der Anschrift in der Tageszeitung, die alle lesen. Name in shame als Abschreckungsprogramm für Diebe und andere Sünder. Und wohin sollte man fliehen auf einer Insel, wo einen jeder kennt?

Meerschnecken oder Seeohren

Deswegen halten sich auch fast alle an die strengen Regeln beim ormering, der Suche nach Meerschnecken, die es nur auf den Kanalinseln gibt. Sie sind auch unter dem Namen Seeohren bekannt und besitzen einen hässlichen Muschelpanzer, der nur im Inneren perlmuttern glänzt.

Das Muschelfleisch ist eine zähe Masse, die vor allem deshalb als Delikatesse gilt, weil sie so rar und ihre Suche beschwerlich ist. Früher, als es die Ormers noch im Überfluss gab, wurden sie an Schweine verfüttert. Heute, fast ausgerottet, kostet ein Ormer entweder rund fünf Euro oder einen Nachmittag Suche unter glitschigen Steinen.

Ein Mann, Mitte 40, mit roten Gummihandschuhen bis zu den Ellenbogen, Gummistiefeln und regenfester Ganzkörperkleidung, steht knietief im brackigen Wasser, irgendwo auf dem Weg zur kleinen Insel Lihou. Mit einem kleinen Haken stochert er zwischen den Steinen herum. Es regnet. Es ist Ebbe, weitgehend auch in der Plastiktüte, in welcher der Mann seinen spärlichen Fang hütet. Stolz packt der Hobbyfischer aus und drückt mit dem Zeigefinger auf die glibbrige weiße Unterseite der Schnecke.

Von der Flut überrascht

Ein Ormer macht noch keinen Eintopf. Aber er will die Beute sowieso nicht selber essen. "Schmecken nicht!", sagt er und stochert weiter. Würde man den Pfropfen einfach so kochen, hätte er die Konsistenz eines Radiergummis. Um die Schnecken zu essen, muss man erst die schimmelig aussehende grüne Schicht darauf abkratzen, dann den weißen Körper so lange schlagen, bis er etwas weicher wird, und zuletzt kommen die Ormers noch mehr als einen halben Tag lang in einer Kasserolle in den Ofen.

"Ormering ist wie eine Lotterie", erklärt der Inselbewohner. Unter jedem Stein verbirgt sich etwas anderes: glibberige Algen, Krabben oder Schnecken, die träge ins Wasser plumpsen. Dafür riskieren Menschen viel: Nicht selten kommt es vor, dass jemand von der Flut überrascht wird und dann an Land schwimmen muss.

Meeresblick als Fernsehersatz

Dennoch sind viele Einheimische scharf auf die Ormers. Mittlerweile sind sie so selten geworden, dass der Fang streng kontrolliert wird. "Nur an Voll- und Neumondtagen von Januar bis April dürfen die Ormers geerntet werden. Das sind dieses Jahr 24 Tage", erzählt David Wilkinson vom Fischereiamt, der während der Sammeltage nach dem Rechten sieht.

Normalerweise trägt er Uniform, heute schaut der junge Mann nur kurz in Gummistiefeln und Regenweste vorbei. "Und dann müssen die Ormers mindestens acht Zentimeter lang sein." Deswegen sollte jeder ein Messgerät bei der Suche dabeihaben. Immerhin dauert es zehn bis zwölf Jahre, bis ein Ormer die passende Größe erreicht hat.

Nach den Ormers darf man weder tauchen noch mit dem Boot fischen. "Das wäre ein unerlaubter Vorteil gegenüber den anderen Suchenden", erklärt Wilkinson mit ernstem Unterton.

Erste Unterwasserverhaftung weltweit

7500 Euro Strafe oder sechs Monate Gefängnis kann ein Schnecken-Vergehen kosten, plus die obligatorische Veröffentlichung des Namens in der Zeitung. So wie im Fall von Mister Kempthorne-Leigh, der angeblich die erste Unterwasserverhaftung weltweit erdulden musste, weil er nach Ormers tauchte.

Nach getaner Arbeit fährt Wilkinson zu einem Aussichtspunkt. Auf dem Weg entdeckt er einen Campingwagen, der zum Verkauf angeboten wird. Er steigt aus und notiert sich die Nummer. "Damit könnte ich durch Europa fahren", sagt er.

Auf dem Parkplatz mit Meerblick angekommen, kauft er eine Dose Cola am Strandkiosk und setzt sich wieder in sein Auto. "Das ist immer noch besser, als in meinem Apartment fernzusehen, und einfacher, als mit dem Boot nach Frankreich zu fahren."

Bei jeder Bewegung zückt er seinen Feldstecher. Oh, ein Boot! Ob die nach Ormers suchen? Da, ein Pony, das am Strand spazieren geführt wird. Und hier: eine Möwe. Auf Guernsey ist einfach immer was los.

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