Quirpon Island, vor der nordöstlichen Spitze Neufundlands gelegen, ist eigentlich nur ein baumloser, hügeliger Steinhaufen mit zwei Häusern und einem Leuchtturm. Ed English hatte vorher noch nie von der Insel gehört. Doch als sie zum Verkauf stand, hat er sofort zugegriffen, ohne das Objekt vorher zu besichtigen. Warum? Ed runzelt die Stirn, was für eine Frage! "Ganz einfach: Direkt vor dem Haus treiben die Eisberge vorbei." Ed English ist Geschäftsmann, und er erkannte sofort das Potenzial der Insel. Zwanzig Jahre ist das her. Seitdem bewirtschaftet er zwischen Mai und September das Quirpon Lighthouse Inn. Herr der Insel ist er aber nicht. Ihm gehören nur die Gebäude, der Grund ist weiterhin Crown Land, also im Besitz des kanadischen Staates, dessen nominelles Oberhaupt bis heute die englische Königin ist.
Quirpon Island liegt in der ersten Reihe an der Iceberg Alley. Eisberge sind der Grund, warum eine wachsende Zahl von Besuchern in Kanadas östlichste Provinz reist, denn Eisberge sieht man sonst nur in der Arktis, der Antarktis oder in Grönland. Von dort kommen die meisten, die hier vorbeischwimmen. Sie treiben mit dem Labradorstrom nach Süden. "Zwischen Mai und August schaffen es zwischen 600 und 700 von ihnen bis zur Iceberg Alley", sagt English. Zwei bis drei Jahre dauert ihre Reise, in deren Verlauf sie immer kleiner werden. Für die meisten ist Endstation auf der Höhe von St. John's, der Hauptstadt der Provinz Neufundland und Labrador. Sie schmelzen im warmen Golfstrom, der dort den Labradorstrom nach Westen abdrängt. Einige wenige aber wandern weiter nach Süden. Sehr wahrscheinlich war es ein Eisberg aus Grönland, mit dem die Titanic 1912 kollidierte.
Derlei ist bei der Überfahrt im Zodiac nicht zu befürchten. Ed English holt seine Gäste in Little Quirpon Harbour ab. Es regnet, Ed verteilt Regenponchos. Warme und wasserabweisende Kleidung ist auch im neufundländischen Sommer mit durchschnittlich 20 Grad Celsius ein Muss. Den Wert der Ponchos lernen die Gäste schätzen, sobald Ed das Boot um das Kap der Insel herum steuert: Schlagartig treiben heftige Böen feinste Graupel in die Gesichter, das robuste Schlauchboot reitet meterhohe Wellen ab. Die Insassen krallen sich an allem fest, was Halt verspricht, Eds Ponchos schützen zumindest den Körper vor der Gischt. Es dauert eine ziemlich lange Weile, bis der Anleger in Sicht ist.
Doch dann verschlägt es den Gästen, die mit aufsteigender Übelkeit kämpfen, erst mal den Atem. Kurz vor dem Steg parkt ein kolossaler Eisberg, groß wie ein Mehrfamilienhaus. Die Strömung hat ihn in die winzige Bucht verfrachtet. Ed umkurvt ihn routiniert, die Gäste gehen ein wenig benommen an Land.
Im Quirpon Lighthouse Inn ist es behaglich, die Herberge verströmt den Charme vergangener Zeiten, als hier noch ein Leuchtturmwärter mit seiner Familie lebte. Längst ist der Leuchtturm automatisiert. Und in den Plüschsesseln des holzvertäfelten Salons sitzen Besucher aus aller Welt. In der kleinen Bibliothek stehen Bücher von Earl B. Pilgrim, geboren 1939 unweit von Quirpon Harbour in St. Anthony. Pilgrim schreibt über das entbehrungsreiche Leben an Neufundlands Küste, über arme Fischer und gierige Fischhändler, die kleine Leute um ihr Geld betrügen. Und über Frauen, die ihre Kinder allein gebären und durchbringen müssen, während die Männer auf See sind.
Alles noch gar nicht so lange her, erzählt Isabel Cove, eine von drei Köchinnen im Quirpon Lighthouse Inn. Eine Kochschule hat sie nicht besucht, "meine Oma war meine Kochlehrerin", sagt sie. Kochen können musste schließlich jede Frau, wie sonst hätte man überlebt? "Meine Mutter und ihre zwei Schwestern hatten jede 15 Kinder", sagt die Endfünfzigerin. 45 Kinder, Isabel war eins davon, ein kleines Dorf, das täglich bekocht werden musste. Was sind da schon 20 Gäste im Quirpon Lighthouse Inn?
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Auf den Îles de la Madeleine landeten einst Auswanderer aus Frankreich und brachten ihre gute Fischküche mit. Wem der erholsame Blick auf Küste und Meer nicht genügt, geht Kitesurfen - oder er springt aus dem Kajak.
Eisberge sind das Alleinstellungsmerkmal der Provinz Neufundland und Labrador, entsprechend werden sie vermarktet. Es gibt Eisbergwasser, Eisbergbier und Eisbergwodka. Sogar einen Iceberg Donut gibt es im Juni zum "Iceberg Festival" in St. Anthony, tiefblaue Zuckerglasur umhüllt ihn, ein künstliches Sahnehäubchen krönt ihn. Auf der Website icebergfinder.com können Eisbergjäger die aktuellen Standorte der Eisberge sehen. Viele fahren vom einen zum anderen, um Fotos zu schießen. Auf Quirpon Island reicht es, aus dem Fenster zu schauen. Oder nach dem Abendessen spazieren zu gehen, im letzten Licht leuchten sie besonders stimmungsvoll. Der Klimawandel habe auf Zahl und Größe der Eisberge bislang keine Auswirkungen, sagt Ed. "Es gibt gute und schlechte Jahre."
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Der Hype um die Eisberge ist ohnehin relativ jung. Früher drehte sich alles um Fisch. Aber nicht um irgendeinen Fisch. Wer hier "Fish" sagt, meint "Cod", Kabeljau. Er ging getrocknet nach Europa und in die Karibik, wo er gegen Screech, Rum, eingetauscht wurde. Kabeljau bedeutete jahrhundertelang ein bescheidenes Auskommen. Doch sprechen Neufundländer heute von Cod, senken sie die Stimme, wie bei einem Trauerfall in der Familie. Denn Cod ist seit 1992 untrennbar mit dem Wort Moratorium verbunden: Am 2. Juli 1992 verhängte der damalige Fischereiminister John Crosbie von einem Tag auf den anderen ein Fischereiverbot für Kabeljau, das bis heute gültig ist - das Cod Moratorium. Vorangegangen war die rücksichtlose Ausbeutung und Zerstörung der Kabeljaubestände durch heimische und nicht zuletzt gigantische internationale Fischereiflotten.
Was folgte, war der größte Arbeitsplatzverlust in der kanadischen Geschichte: Zwischen 30 000 und 40 000 Fischer verloren ihre Existenz, Fischfabriken machten dicht, viele der plötzlich erwerbslosen Fischer und ihre Familien verließen die Heimat, gingen etwa nach Alberta in die Ölsand- und Ölschieferfelder. Noch heute, 27 Jahre später, sinkt die Bevölkerungszahl, sie liegt derzeit bei 525 000.
Auch wenn die Fischerei inzwischen wieder in sehr engen Grenzen erlaubt ist, um die Bevölkerung zu versorgen: Seit 1992 sucht ein Volk von Fischern eine neue Identität - als Freizeitangler und Gastgeber. Eisberge sind dabei nicht die einzige Attraktion. Neufundland und Labrador, Kanadas jüngste Provinz, die sich erst 1949 der kanadischen Föderation angeschlossen hat, ist jene mit der ältesten Geschichte.
Das zeigt sich im Gros-Morne-Nationalpark. Nur an wenigen Orten der Welt liegt der Erdmantel so aufgefaltet da wie hier. Wie ein offenes Buch erzählen der Gros Morne Mountain und die umgebenden Tafelberge ein wichtiges Kapitel der Erdgeschichte: Geologen fanden hier den Beweis für die Theorie der Plattentektonik und dafür, dass Neufundland einmal Teil des Urkontinents Pangäa war. Hier gibt es Gesteine und Mineralien, die sonst unerreichbar tief im Erdmantel verborgen sind, weshalb manche gar vom Galapagos der Geologie sprechen. Seit 1987 ist der Nationalpark Weltnaturerbe - wegen seiner erdgeschichtlichen Bedeutung, aber auch wegen seiner spektakulären Fjordlandschaft.
Vergleichsweise jüngere Geschichte soll sich in der Bucht L'Anse aux Meadows, am nordwestlichen Ende der Insel, zugetragen haben. Der Wikinger Leif Eriksson soll dort, von Grönland kommend, als erster Europäer um das Jahr 1000 Nordamerika betreten und eine Siedlung gegründet haben. Und wo heute das Städtchen Corner Brook steht, hat Kapitän James Cook zwischen 1763 und 1767 die Küste für die englische Krone kartiert - mit erstaunlicher Genauigkeit.
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Dennoch ist die Fischerei, die Verbindung zum Meer, allgegenwärtig. Etwa in der Broom Point Fishing Station am Sankt-Lorenz-Golf. Dort lebten bis 1975 die drei Mudge-Brüder mit ihren Familien. Während der Fangsaison fischten sie Kabeljau, Hummer und Lachs. Das winzige Wohnhaus mit Bollerofen und Holzherd sowie der Bootsschuppen, in dem alte Hummerkäfige und Holzboote herumliegen, sind heute ein kleines Museum. Im Schuppen erklärt der Park Ranger Patrick Bennett an einem Stoffkabeljau, wie der Fisch fachgerecht zerlegt wird: Er reißt den Klettverschluss auf der Bauchseite auf, entnimmt Innereien und Eier. Eine unblutige und nachhaltige Methode, denn nach der Vorführung setzt er den Plüschfisch für die nächste Gruppe wieder zusammen.
Reg Williams war nie Fischer. Ganz vom Meer kann aber auch er nicht lassen. Mit einem Ausflugsboot bringt er Gäste von Norris Point aus in die Bonne Bay, eine Bucht inmitten des Gros-Morne-Nationalparks. Dort hält er Ausschau nach Adlern, Elchen, Walen. Die Bootstour endet mit einem Screech-in, einer Tradition, mit der Fremde zu Neufundländern ernannt werden. Besiegelt wird das Ritual mit dem Kuss eines Stoffkabeljaus und Rum. Zum Abschluss singt Kapitän Reg Williams mit seiner Band Anchors Aweigh von den Salzwasserfreuden, den Saltwater Joys. "Wir Newfies sind alle vom Meer geformt, wir haben Salzwasser in den Socken und Salzwasser in den Adern", sagt Williams.
Salzwasser in den Socken hat auch Darren Park, seine Heimatverbundenheit ist so groß, dass er mit 49 Jahren seine Provinz noch nie verlassen hat. Er fährt lieber mit Gästen hinaus in die Bucht von Cox's Cove. Darren und sein Kumpel David machen die Boote klar, packen Angelruten ein und holen Mützen, wattierte Jacken und Handschuhe aus dem Auto - für die Gäste, die so leicht frösteln.
Wer mit Darren und David angeln geht, hat den Fisch praktisch schon am Haken. Doch selbst für Freizeitangler gelten genau definierte Quoten: Fünf Fische dürfen es maximal sein. Deshalb ist vielen Fischen ein zweites Leben beschieden: Nachdem das Anglerglück mit einem Schnappschuss dokumentiert ist, werden die meisten wieder vom Haken genommen und zurück ins Wasser geworfen. Trotzdem, für ein ordentliches Barbecue mit den Gästen am Ufer reicht es, und auch, um Darren und seine Familie mit frischem Fisch zu versorgen. "Gefrorenen Fisch würde ich nie essen", sagt er, der tauge höchstens noch als Köder - um die Weißkopfseeadler für ein Fotoshooting anzulocken.
Doch das beliebteste Fotomotiv sind nun mal die Eisberge. Ed English hat das verstanden - und hat auch schon eine neue Geschäftsidee: Bald können Gäste auf Quirpon Island in einer Glaskoje über der Steilküste nächtigen. Man ist dann noch ein Stück näher an den Eisbergen. Salzwasserfreuden für die Touristen, ohne dabei nass zu werden.