Kanada:Beinfrei auf Nova Scotia

Am letzten Maiwochenende treffen sich stets Tausende zum Staffellauf an der Nordspitze der kanadischen Halbinsel.

Thomas Becker

Kurz vorm Ziel: ein Friedhof. Direkt an der Straße. Kein Mensch weit und breit. Mächtige, flache Grabsteine im geschorenen Saftgrün des Rasens. Bisschen Schatten. Ein Bild der Ruhe, der Einkehr. Man möchte sich glatt dazu legen.

Kanada: Hier geht es schon wieder Richtung Westen, (später dann) dem Sonnenuntergang entgegen.

Hier geht es schon wieder Richtung Westen, (später dann) dem Sonnenuntergang entgegen.

Geht aber nicht: Da vorne lauern sie schon. Die Verrückten in ihrem Mini-Bus. Gleich fangen sie wieder mit dem Geschrei an: "Looking good, looking strong!" Oder: "Look at these legs!" Gerne auch: "We love you, Thomas!" Ihr Lieblings-Anfeuerungsruf klingt weniger international, wird aber mit Inbrunst in die Morgenstille geschrien, immer wieder: "Lauf, du dumme Sau!" So klingt das, wenn mein Team mir hilft, auch noch diesen verdammten letzten Kilometer zu rennen. Anstatt mich zu den Grabsteinen zu legen.

Der CabotTrail-Staffellauf in Nova Scotia, Kanada. Klingt gemütlich: nette Landschaft, bisschen Joggen, Gemeinschaftserlebnis. Es ist mehr: Der Cabot Trail, benannt nach dem italienischen China-Sucher und Nova-Scotia-Finder von 1497, Giovanni Cabota, ist die wohl schönste und spektakulärste Straße an der Ostküste des Landes, der Lauf dauert 27 Stunden, führt über 298 Kilometer, und das Erlebnis mit dem Team wirkt noch ein Jahr später beim Joggen an der Isar nach. Ist das nicht der rote Mini-Bus da vorn beim Deutschen Museum? Hat da nicht gerade einer was von "sexy Beinen" gemurmelt? Natürlich nicht.

Rennen in Bells Gebiet

Beim Original wird nicht gemurmelt, sondern aus tausend Kehlen geschrien, Tag und Nacht. 65 Teams mit je 17 Läufern treffen sich seit 15 Jahren am letzten Mai-Wochenende im Städtchen Baddeck auf Cape Breton Island, der Nordspitze der 560 Kilometer langen und 130 Kilometer breiten Halbinsel Nova Scotia. Alexander Graham Bell, Erfinder des Telefons, Tragflügelboots und anderer nützlicher Dinge, hatte sich einst in dieser ozeanblauen Bucht niedergelassen.

Hundert Jahre später fällt einmal im Jahr eine Horde Läufer über den verschlafenen Ort her. Morgens um sieben wird der Startschuss fallen - kein Grund, früh ins Bett zu gehen. Statt der obligaten Spaghetti-Party geht es beim Ceilidh, der Kennenlern-Fete, im Feuerwehrhaus erdiger zu: Bier, Chips, keltisch-akadische Klänge von Fidel und Pfeifen - fast wie in einem irischen Pub. Und wer um Mitternacht meint, genug getanzt zu haben, muss sich noch als "half-miler" beschimpfen lassen.

Nova Scotia ist aber eine freundliche Gegend. Schmeichelt den Augen mit kräftigen Farben und famosen Ausblicken, beruhigt das Gemüt mit seiner Weite (950.000 Einwohner auf einer Fläche vergleichbar der Schweiz), verwöhnt die Seele dank der Einwohner, die einfach furchtbar nett sind.

Wer durch die Hauptstadt Halifax bummelt oder auf Sightseeing-Tour mit dem im Vietnamkrieg eingesetzten Amphibien-Fahrzeug "Harbour Hopper" geht, findet die Spuren der Kolonisatoren (im 16. Jahrhundert: Franzosen, Basken, Portugiesen, von 1713 an die Briten), 150 Gräber von "Titanic"-Opfern, 25.000 Studenten und eine angenehm unaufgeregte und doch aufgekratzt-moderne Atmosphäre.

Schlag zwölf knallt's

Die schönste Anekdote geht allerdings auf das Jahr 1803 zurück. Der Herzog von Kent und spätere Vater von Queen Victoria gestaltete für die Bürger der für England wichtigen Hafenstadt eine Stadtuhr nahe des Zitadellenhügels. Seit 1854 schießt das 78. Highland-Regiment der Königlichen Artillerie Schlag zwölf die "Noonday-Gun", jeden Tag, außer an Weihnachten - eine Tatsache, die den Sicherheitsbeamten beim G7-Gipfel vor acht Jahren entgangen sein muss: Als sich die Staatsmänner um die Mittagszeit zum Gruppenfoto aufstellen und oben die Kanone losgeht, gerät die Security-Mannschaft in JFK-Panik und packt die hohen Herren in Windeseile in die gepanzerten Limousinen.

Auf dem Cabot Trail ist der Mini-Bus die Limousine der Läufer: Verpflegungs- und Aufwärmstation, Schlafplatz und Fankurve in einem. Die Regeln sind streng: Neben dem Läufer herfahren gilt nicht, nur ein Wagen darf den Renner auf der Strecke begleiten, die andern müssen an Start oder Ziel stehen, und keines der vier Räder darf auf der Straße stehen. Wer schummelt, bekommt Strafminuten.

Auch für die Läufer gibt es Regeln. Nummer eins: Es dürfen keine Fahrräder benutzt werden! Regel 6: Fun ist okay, darf aber die Sicherheit nicht gefährden. Und, die bedenklichste aller Vorschriften: das Zeitlimit! Wer länger als sechs Minuten pro Kilometer braucht, fliegt aus der Wertung.

Supermänner und Schlapphüte

Ein im Wortsinn buntes Völkchen tut sich diesen Rennen-vor-prima-Kulisse-Tort an: Wild geschminkte Kostümträger mit Superman-Umhang, Schlapphut, Holzbein-Imitat, Tüllröckchen und Krone im Haar, hochtrainierte Profis, eine Schwangere im fünften Monat, Oldies mit abenteuerlichem Laufstil, aber unglaublicher Ausdauer, sowie ein paar naive Zufalls-Jogger wie ich. 16,35 Kilometer soll ich am Stück laufen. Und das als Vorletzter, morgens um sieben. Gut, dass es wenigstens topfeben dahin geht.

Die Teamkollegen haben ganz andere Strecken zu bewältigen. Darcy, der VW-Manager mit der hohen Stirn und den kurzen Beinen, muss hoch rauf: Cape Smokey, eine eklige Steigung, ähnlich den Serpentinen von Alpe d'Huez.

Oben wartet nicht nur Gegenwind, sondern die Zyniker der "Roadside Attraction", eine Gruppe Verrückter, die Wasser und Verpflegung reicht und sich für jeden Staffelabschnitt eine andere Verkleidung, einen anderen Gag ausgedacht hat: mal mit Frack und Fliege, mal im Urwald-Look, mal als Viagra-Werbetruppe, die die Wasserbecher an entsprechender Stelle platziert.

Am Gipfel von Cape Smokey geben sie Henker und Sensenmänner samt Grabstein und Bibelspruch: "The end is near." Ein weiterer Spaßvogel hat für jeden Abschnitt ein Plakat gezimmert. Darcy liest: "Dieser Teil der Strecke wurde gesponsert von der Sadistischen Gesellschaft Cape Breton."

Stets hinauf

In der Tat sind einige Strecken nur mit einer solchen Veranlagung zu schaffen, so schön und sonnendurchflutet die zerklüftete Landschaft auch sein mag. Es geht jetzt weg vom stechenden Blau der Küste, durch das noch zarte Grün des waldigen Landesinneren, und es geht vor allem: hinauf.

Abschnitt neun, 18 Kilometer lang, steigt von knapp über Meeresspiegel auf fast 500 Höhenmeter und plumpst hinten genauso steil wieder hinab - ein Gefälle, das einem schon im Mini-Bus die Knie weh tun. Ein Fall für Jen, die Krankenschwester in unserer Truppe, die an freien Tagen auf Hawaii auch mal einen Ironman-Triathlon hinlegt.

Es ist Abend, Zeit für die Leuchtwesten, die nächste Straßenlaterne ist weit. Als Jen oben ankommt, sieht sie zwar die Schneereste nicht, dafür die Roadside-Truppe, die in fluoriszierende Skelett-Gewänder geschlüpft ist und mit Steinen einen dumpfen Toten-Takt auf die Leitplanke klopft.

"Die Bussarde kreisen"

Der Plakatmeister textet: "Die Bussarde kreisen." Auch der nächste Streckenteil ist etwas für Menschen mit Galgenhumor: 14,7 Kilometer, kräftig bergauf. Alle Läufer dieses sich zum MacKenzie Mountain schlängelnden Abschnitts erhalten später eine gerahmte Fotografie, da sie in der Nacht das herrliche Panorama ja verpasst haben.

Es geht aber auch weniger extrem auf Nova Scotia. Wer die fast menschenleere, 7400 Kilometer messende Küste entlang fährt, an einem der mehr als 5000 Seen oder in einer Bucht Station macht, und dann Wind und Wellen lauscht, von dem fällt Stress ab wie die Kilos beim Rennen.

Die Liscombe Lodge südwestlich von Cape Breton ist so ein Ort: ein paar Chalets am Fluss, Kanus, lauschige Plätze für Wanderer und Angler und die wohl leckerste Art, Lachs zuzubereiten: Nach Art der Mi'kmaq, der indianischen Vorfahren, wird der Fisch auf Holzplanken genagelt und stundenlang geräuchert - eine Köstlichkeit, wie generell neben dem allgegenwärtigen Hummer die Seafood Showder zu empfehlen ist, eine wunderbar sämige Fischsuppe. Lachs gibt es hier so reichlich, dass er mit dem Kächer regelrecht aus dem Fluss geerntet wird.

60 Einwohner und 60 Busse

Bei Halifax wird es etwas voller. Südlich der Hauptstadt liegt Peggy's Cove, der Klassiker eines verschlafenen, pittoresken Fischerdörfchens. Ein krummes Holzschild kündet von der Gründung 1811, sechs Familien lebten damals hier. Nun sind es 60 Einwohner, aber mindestens genau so viele Busse spucken täglich Touristen aus, die das Tagwerk der Fischer vor den dekorativen Granitfelsen samt Leuchtturm ablichten.

Weiter im Süden, entlang der so genannten Leuchtturm-Route, ein weiteres Vorzeigestädtchen: Lunenburg. Vor 250 Jahren von Deutschen, Franzosen und Schweizern gegründet, Heim der Schiffsbauer, in der Prohibition Schmuggler-Hochburg, seit 1995 Unesco-Weltkulturerbe, in einer vom Golfstrom gewärmten, malerischen Bucht gelegen und dermaßen verschlafen, dass es die Geschäftsleute nervt, und sie in ihre Schaufenster Plakate hängen mit der Aufschrift: "Wir schließen nicht. Also kommen Sie rein!"

Kabeljau statt Wetterhahn

Vor zwei Jahren wurde die Gemeinde zur "am schönsten gestrichenen Gegend des Landes" gewählt - das verpflichtet, und so sind die scheinbar einzig aktiven Lunenburger ein paar Handwerker, die an den historischen Hausgiebeln arbeiten. Und über allem weht auf dem Kirchdach statt des Wetterhahns: ein Kabeljau.

Auch am Ende unseres Staffellaufs steht respektive liegt ein Fisch: Bei einem riesigen Hummer auf Pappteller feiern die mehr als 1000 Läufer in der Eishockeyhalle von Baddeck Siegerehrung. Für den Ungeübten, zudem furchtbar Hungrigen ist der Verzehr dieses sperrigen Meeresbewohners ungewöhnlich.

So wie hier einiges neu war: Dass es trotz Sonnenscheins morgens um sieben im Schatten noch so kalt ist, dass man plötzlich mit Eisklötzen statt Beinen unterwegs ist. Dass schon nach wenigen Metern die vom Pulsmesser vorgeschriebene Höchstzahl überschritten werden kann. Und dass Laufen mit Anfeuerung aus roten Mini-Bussen trotzdem richtig Spaß macht. Wenn nicht gerade ein schattiger Friedhof am Weg liegt.

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