Die Bora ist erwacht. Sie fegt wie ein wildes Tier von den Bergen hinunter und übers Wasser, faucht, wenn sie auf die Felsen der Insel trifft, schäumt das Meer auf und knallt in den Böen allen, die sich aufs Wasser wagen, den Schaum ins Gesicht. Besorgt schaut Luka Grgurić hinüber zur Gipfelkette auf dem kroatischen Festland; Wolkenfinger greifen die steilen Hänge hinab. Und auch wenn auf Rab die Sonne scheint: Das sieht nicht gut aus. Die Bora - Kroaten sagen Bura - kommt selten im Sommer, sie weht dann längst nicht so wild wie im Winter, wo die Böen mit bis zu 250 Stundenkilometern durch den Rapski Kanal fegen. Sie dauert auch nur ein, zwei Tage statt bis zu zwei Wochen. Aber man darf sie auch jetzt nicht reizen durch Leichtsinn und Selbstüberschätzung. Jedes Jahr sterben in der Kvarner Bucht Menschen, die glaubten, das Fauchen der Bora gelte nicht ihnen; die sich täuschen ließen vom sonst so ruhigen und klaren Wasser zwischen den Inseln.
Kurz und schlecht: Es wäre heute zu gefährlich, zur wilden Ostseite von Rab zu paddeln mit ihren kahlen, hellen Felsen, den engen, schmalen Fjorden, den Höhlen. Es bleibt die windgeschützte Westseite der Insel mit ihren Pinienwäldern und Badebuchten - der friedlich beschauliche Teil der Inselumrundung.
Die meisten Kroaten sehen mit Erstaunen, dass immer mehr Paddler an ihre Küste kommen
Das ist die erste Demutsübung dieser zwei Tage kurzen Seekajak-Tour in der Kvarner Bucht, südlich von Rijeka: Man kann dem Meer und dem Wind nur begrenzt Menschenpläne aufzwingen. Wer für die bayerischen Paddelmeisterschaften trainiert oder sich allgemein quälen mag, schafft die Umrundung von Rab in drei Tagen - wenn nichts dazwischenkommt. "Wir planen immer sechs Tage ein", sagt Grgurić. Es könne immer einen Sturm- oder Gewittertag geben, den man besser gemütlich abwartet. Und dann, so sagt er, sei es nicht sein Ding, sich für Wettbewerbe zu quälen. Groß und breitschultrig genug wäre er, Seemannsbart und Sonnenbrille täten ihr Übriges. Er wuchtet die Kunststoffboote aufs Dach des alten Renaults. Los geht's, zum Wasser.
Dort wartet die nächste Demutsübung für alle, die in Kroatien paddeln wollen. Die meisten Kroaten sehen nämlich mit Erstaunen, manche gar mit Befremden, dass Jahr für Jahr mehr Paddler an ihre Küsten und gerade in die Kvarner Bucht mit ihren vielen Inseln kommen. Wenn nun der liebe Gott oder der Lauf der Evolution dem Menschen die Fähigkeit geschenkt hat, den Motor und die Schiffsschraube zu erfinden - warum sollte er dann mühsam, Schlag um Schlag, Boote mit dem Paddel vorantreiben? Mit dem Kajak ist man der Kleinste und Langsamste unter den vielen Hundert Booten. Es ziehen die Schlauchboote mit Außenbordmotor vorbei und die Segelboote mit blubberndem Hilfsmotor, rußende Kähne aus sozialistischen Zeiten und brüllende Speedboote; weit draußen liegt eine riesige Yacht mit Helikopter auf dem Deck. An den Engstellen, wo Paddler und Motorisierte sich nahe kommen, wird man hin und her geworfen von den Bugwellen; es ist laut wie auf einer Großbaustelle. Freizeitkapitäne samt Frauen und Kindern grüßen herablassend von ziemlich weit oben. Warum nur macht man das?
Weil es nichts Schöneres gibt, sagt Luka Grgurić. Wenn du raus bist aus dem Lärmkorridor, wirst du das merken. Er zieht das Paddel durchs Wasser; aus dem Dröhnen der Motoren wird Schlag um Schlag ein fernes Rauschen, bis man nur noch sein eigenes Plätschern hört. Das Boot gleitet durch blaues und grünes Wasser, durch das man bis auf den Grund der Bucht sehen kann. Ein Reiher am Ufer schaut misstrauisch zu den merkwürdigen Gesellen hinüber, die da auf Augenhöhe vorbeikommen. Wer paddelt, wechselt die Perspektive. Der lässt sich herab zu den Wasservögeln, entschleunigt auf Schritttempo, unterteilt den Weg in tausend Paddelschläge. Und sieht, was den Motorbootfahrern und erst recht den Yachtkapitänen verborgen bleibt, wenn sie den Motor aufdrehen: den Fischschwarm unterm Boot, die Vögel.
Die Stadt Rab zieht vorbei, ihre kalkfarbenen Trutzmauern scheinen in den Himmel zu wachsen, darüber die vier Kirchtürme, die gemeinsam das Wahrzeichen des immer noch beschaulichen 1600-Einwohner-Ortes sind. Alle haben sie hier ihre Spuren hinterlassen: die Illyrer, die den Flecken Arb nannten, grün, bewaldet. Die Römer, die von der "felix arba" sprachen, der glücklichen Insel, was heute die Tourismusmanager sehr erfreut; im Jahr 301 soll der Steinmetz Marinus von hier aufgebrochen sein, die Republik San Marino zu gründen. Die Slawen brachten die Kirchenschrift Glagoliza, die sich bis ins späte 19. Jahrhundert hielt; die Venezianer ließen die malerischen Kirchtürme bauen - die italienischen Besatzer im Zweiten Weltkrieg ein Konzentrationslager, von dem nicht so viel in den Fremdenführern steht.
"Wir mussten uns auf Rab an viele Herren gewöhnen", hat Luka Grgurić gesagt, und dass man hier vielleicht deshalb auch gut mit den Touristen zurechtkomme und es so gut wie keinen Nationalismus gebe. Auch hat der Jugoslawienkrieg die Region verschont; er lebt noch in vielen Köpfen, in den Kriegs-, Flucht- und Migrationsgeschichten, aber nicht mehr im Alltag. Im Alltag gibt es andere Probleme: Es gibt, wie in ganz Kroatien, einen boomenden Tourismus und sonst wenig Arbeit; es verlassen gerade die Jungen, gut Ausgebildeten das kleine Land, das ihnen keine Perspektive bietet. Es müssen sich die Ferienregionen entscheiden, um welchen Preis sie wachsen wollen. In Rab hat man sich zum Glück gegen den Massentourismus entscheiden. Es gibt einen großen Campingplatz, einige größere Hotels und im Sommer Gedränge in der Stadt Rab - aber immer noch ziemlich viel Natur und Einsamkeit.
Für Luka Grgurić wurde die Krise zum Glück. Er war IT-Spezialist einer einst staatlichen Hotelkette, die wurde verkauft, sein Arbeitsplatz fiel weg. Er wollte aber die Insel nicht verlassen, auf der er aufgewachsen ist, wo er jeden Stein kennt. Und da war auf einmal sein alter Bekannter Joško Matušan, genannt Yogi, der 2004 unter allgemeinem Kopfschütteln angefangen hatte, Menschen aus Skandinavien, Deutschland, England, sogar Australien und Neuseeland in kleinen Paddelbooten um die Insel und quer durch die Kvarner Bucht zu führen. Mach mit, sagte Yogi. "Ich kann nicht paddeln", antwortete Luka. "Du kennst hier jede Bucht", beendete Yogi die Debatte, "Paddeln wirst du lernen, ich brauche jemanden, der sich auskennt."
So kam es, und schöner hätte es nicht kommen können für Luka Grgurić; dafür erträgt er, dass er im Winter nur "Steine ins Wasser schmeißen" kann, wie er sagt. Den Sommer über ist er draußen unterwegs, mit kleinen und mit größeren Gruppen, Anfängern und Profi-Paddlern. Abends bauen sie die Zelte auf (für Isomatten-Feinde gibt es auch Touren mit festen Unterkünften), dann kocht er, mit Tomaten und Gemüse aus dem eigenen Garten (bei längeren Touren gibt es irgendwann doch Büchsenkost). Er lernt jede Menge Menschen kennen, die ehrgeizigen Finnen, die nicht aufhören, bevor sie nicht 30 Kilometer gemacht haben, und die australischen Genusspaddler, die um die halbe Welt geflogen sind, um europäische Geschichte und Wasser ohne Haie zu erleben. Da war die 83-jährige ehemalige Leistungs-Paddlerin, der es so gut gefiel, dass sie ankündigte: Mit 90 komme ich wieder - und sie will es jetzt tatsächlich tun. Einen ganz eigenen Aufschwung hat die Kundschaft aus Neuseeland genommen: Einer der Guides und eine Neuseeländerin sind ein Paar geworden, er folgte ihr in die Ferne, und dort werben sie nun fürs Seekajak-Paddeln in Rab und Umgebung.
Es geht an Pinienwäldern vorbei und in Felsenbuchten hinein; der Wind wird zum kühlenden Lüftchen. Nackte Frauen und Männer sitzen am Ufer. Rab hat drei große FKK-Strände, was ein Relikt aus sozialistischen Zeiten ist, wo das Nacktsein viel mit Freiheit zu tun hatte - aber noch viel tiefere Wurzeln hat. 1936 ankerte ein großes Segelschiff im Hafen von Rab, darauf Edward VIII., seit einigen Monaten (und nicht mehr für lange) Herrscher des britischen Empires, und seine Geliebte, die amerikanische Schauspielerin Wallis Simpson. Sie wohnten im Hotel Imperial, das auch heute über dem Hafen thront, und baten, in einer einsamen Bucht nackt baden zu dürfen. Der Wunsch wurde erfüllt, das Paar sprang, streng abgeschirmt vom Volk, hüllenlos in der Bucht Kandarola ins Wasser; bis heute heißt das Ufer "englischer Strand".
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Ein schick renoviertes Hotel im Pinienwald, ein paar Buchten mit ankernden Motorbooten, die von Mal zu Mal weniger werden. Weiter hinten würde die erste Tagestour enden, wo man nachts nur die Tiere hört, das Damwild und die Mufflons, wie sie an den Bäumen und Büschen knabbern. Allein, es hat keinen Sinn zu bleiben, Gewitterwolken sind aufgezogen, zurück also nach Rab, hinein in den Motorenlärm und die Bugwellen der anderen; einen gewissen Heldenfaktor bedeutet es doch, hier tapfer durchzupaddeln: Ist der ein oder andere Gruß der Motorisierten nicht doch anerkennend statt herablassend?
Am nächsten Tag noch ein Versuch. Vielleicht klappt es ja doch, auf die Felsenseite der Insel zu kommen - wenn man sich vorsichtig, immer nah am Ufer, vorantastet? Die Bora wartet ein bisschen, bis die beiden Übermütigen auf dem Wasser sind, dann fegt sie heran. Knallt ihnen entgegen, dass sie stehen zu bleiben glauben, wirft kurze, fiese Wellen auf, die ins Boot schwappen. Aufgeben? Kein Aufgeben. Beide Paddler sind trainiert, beide nicht zum ersten Mal auf dem Wasser. Zwei Stunden keulen sie gegen den Sturm; sie schaffen es zu dem wunderbaren Sandstrand, an dem sonst die zweite Tagesetappe endet. Keine drei Kilometer wären es noch bis zu jener Felsnase, hinter der man auf die Felsenseite schauen könnte. Man müsste die Spritzdecken anziehen - und wie ging die Eskimorolle, die man braucht, wenn einen die Welle umwirft? Ein Blick, ein doppeltes Kopfschütteln; ein wilder Ritt zurück in die sichere Bucht, den Sturm im Rücken.
Am nächsten Morgen um sechs legt die Fähre ab, es geht heimwärts: strahlende Sonne, Windstille, wellenloses Meer. Die Wolken über den Bergen haben sich aufgelöst. Heute könnte man übers stille, tiefe Wasser gleiten, an den Felsen vorbei, in die Höhlen hinein. Hat es da geplatscht im Wasser voraus? Delfine! Die jagen hier in der Gegend und spielen mit den unbeholfenen Menschenbooten Fangen. Einer springt aus dem Wasser. Sein hochgezogener Mund sieht aus, als würde er lachen; lachen über das Menschlein, dass da glaubte, das Meer in seinen engen Terminkalender zwängen zu können.