Kaiserstadt und Metropole der Zukunft:Tiefenentspannung und Kontemplation

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"Kyoto ist ein Sehnsuchtsort, wo vieles von einer durchgreifenden Modernisierung verschont wurde", sagt Wolfgang Schwentker, Professor für vergleichende Kultur- und Ideengeschichte an der Universität Osaka. Repräsentationsbauten prägen das Stadtbild, in Tokio liegen sie eher versteckt. Kyoto wirke insgesamt sehr traditionell und ästhetisch-kultiviert. "Die Amerikaner haben aus gutem Grund auf eine Bombardierung verzichtet", erklärt der Historiker.

In dem alten Viertel Gion reihen sich schicke und zugleich dezente Restaurants aneinander. Immer weht ein Vorhang vor der Tür, es hat geregnet, und jetzt tropft es überall von den überstehenden Dächern. Auf kleinen Balustraden und Balkons wachsen Zierbäume. Eine Geihsa, die traditionelle japanische Unterhaltungskünstlerin, läuft anmutig über den regennassen, dampfenden Asphalt.

Am Kinkakuji-Tempel im Norden der Stadt hängen noch Gewitterwolken an den Berghängen. Hier steht der Goldene Pavillon hinter einem großen Teich, in dem sich der komplett mit Blattgold überzogene Bau spiegelt. 1950 zündete ein buddhistischer Schüler den Tempel an, angeblich weil er dessen Schönheit nicht ertragen konnte. So schildert es der Schriftsteller Yukio Mishima in seinem Buch "Der Tempelbrand". Nach der Zerstörung wurde der Pavillon neu errichtet und komplett vergoldet.

An einem Tag wie diesem, an dem wegen des Regens kaum Besucher kommen, ist Kinkakuji ein Ort stiller Kontemplation. Man ist tief entspannt und doch unerklärlich bewegt.

Tokio hat schon immer in die Zukunft geschaut

Natürlich gibt es auch in Kyoto ein modernes Leben und im Süden der Stadt viel Industrie. Und natürlich hat auch Tokio einige historische Sehenswürdigkeiten zu bieten: den Kaiserpalast, den Meiji-Schrein, das altstädtische Ueno mit seinem geschichtsträchtigen Park und den Sensoji-Tempel in Asakusa. Doch insgesamt ist Tokio eine Stadt, die immer schon die Verbindung zur Zukunft gesucht hat.

Als der General Tokugawa Ieyasu den Kaiser entmachtete und das Tokugawa-Shogunat begründete, begann der Aufstieg Edos. Die Provinzfürsten Japans mussten jedes zweite Jahr in die neue Hauptstadt kommen und dort residieren, wie Japankenner Schwentker erzählt. "Die Samurai residierten im Westen, dort, wo heute die Elite-Unis sind." Nachdem der Kaiser 1868 bei der Meiji-Restauration seine Macht wiedererlangte, zog er nach Edo. Die Stadt hieß fortan Tokio, was "Östliche Hauptstadt" bedeutet.

Die Modernisierung verdankt die Millionenstadt strategischen Überlegungen. "China war nach den Opiumkriegen Spielball der westlichen Mächte geworden", sagt Schwentker. Die Japaner wollten sich dagegen schützen, indem sie sich selbst modernisierten. "Der Gedanke war: Nur so können wir dem Westen auf Augenhöhe begegnen." Durch die siegreichen Kriege gegen China und Russland wuchs das Selbstbewusstsein des Landes weiter. 1923 bot ein gewaltiges Erdbeben die Chance, die Stadt neu aufzubauen. "Tokio war ein Schaufenster für die japanische Moderne."

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