Jungfrau im Berner Oberland:Die kalte Schöne

Hier sind schon viele abgestürzt, manche hat man nie gefunden: Seit 200 Jahren beflügelt die Jungfrau im Berner Oberland die Phantasie der Bergsteiger. Ein Abenteuer ist die Eroberung des ersten erklommenen Viertausenders der Schweiz bis heute.

Jochen Temsch

Es geht nicht. Die Steigeisen ins Eis gekrallt. Darunter nur noch Luft. Die Eisaxt eingeschlagen. Jetzt wäre ein Klimmzug fällig. Dann läge der Bergschrund hinter mir, eine Gletscher-Randspalte, hoch wie eine Hauswand, die zum Rottalsattel auf fast 3900 Meter Höhe führt. Es geht aber nicht. Die Stelle ist wie ein Schwimmbecken mit viel zu hohem Rand, aus dem man einfach nicht herauskommt.

Jungfrau im Berner Oberland: Der erste erklommene Viertausender der Schweiz gibt sich immer noch unnahbar: Die Jungfrau im Berner Oberland.

Der erste erklommene Viertausender der Schweiz gibt sich immer noch unnahbar: Die Jungfrau im Berner Oberland.

(Foto: Presence Switzerland/oH)

"Dann halt so!", ruft der Bergführer. Er zieht am Seil. Geschafft! Der Sattel ist erreicht. Geschafft? Eben im Schrund war noch Sonne. Jetzt ist es plötzlich finster, schattig, und ein starker, eiskalter Wind weht von schräg unten. Der Blick verliert sich in einer Abgrund, so tief, dass vom Boden nichts zu sehen ist, nur ein riesiges, bläulich-schwarzes Loch. Hier geht es fast 1000 Meter runter. Und man muss auf einem schmalen Firnband daran entlang.

Es ist die gefährlichste Passage der Jungfrau-Besteigung auf dem Normalweg - eine Bezeichnung, die harmloser klingt, als der Weg normalerweise ist. So ein Abgrund gähnt nicht, er macht hellwach. Er beschleunigt den Herzschlag und den Atem. Hier sind schon viele abgestürzt, manche hat man nie gefunden. Schon die Erstbesteiger der Jungfrau, die vom Rottalhorn kamen, packte an dieser Stelle das Grausen.

Den Begriff Sattel nahmen sie wörtlich: "Wir befestigten, wo dieser anfing, an einem tief in den Schnee eingestoßenen Stock das Seil und setzten uns reitend auf den zugespitzten Schneesattel. So glitten wir, einer nach dem anderen, glücklich hinab . . . " So schrieben die Brüder Johann Rudolf und Hieronymus Meyer aus dem Wallis in ihrem Bericht "Reise auf den Jungfrau-Gletscher und Ersteigung seines Gipfels".

Am 3. August 1811, kurz nach zwei Uhr nachmittags, war es soweit: Sie hatten gemeinsam mit zwei Gamsjägern den Gipfel, "diesen vorher seit der Schöpfung nie erstiegenen Eisthurm" auf 4158 Metern Höhe, betreten - als erste Menschen auf einem Viertausender der Schweiz. An diesem Tag vor 200 Jahren begann der alpine Tourismus im Berner Oberland.

Damen wurden in Tragestühlen auf die Passhöhe geschafft

Wenige Jahre später bezwangen britische Forscher einen Berg nach dem anderen. Die feine Gesellschaft folgte ihnen nach. Einheimische zeigten den Fremden die Naturschönheiten. Sie schafften die Damen in Tragestühlen auf die Passhöhe Kleine Scheidegg, zum sagenhaften Panorama von Eiger, Mönch und Jungfrau.

Heute ist die Region eine der am besten erschlossenen der Alpen. Züge, Seilbahnen, Fahrrad- und Wanderpfade bringen die Touristen selbst in entlegenste Seitentäler. Seit 1912 fährt eine Zahnradbahn von der Kleinen Scheidegg aufs Jungfraujoch. Ursprüngliche Endstation sollte der Gipfel sein. Doch so weit reichte die Technik nicht. Die Spitze blieb den Bergsteigern vorbehalten.

Der Auftakt ist gemütlich. Man zockelt in der Zahnradbahn an mampfenden Kühen und meterhoch vergletscherten Felswänden entlang, in einem Tunnel durch den Eiger aufwärts, Fotostopp mit Gänsehautgarantie am Panoramafenster in der Nordwand inklusive, und hält am Jungfraujoch auf 3454 Metern Höhe. Eingestiegen sind die Fahrgäste im Sommer. Ausstieg ist im Winter, inmitten vereister Gipfel und Hochtäler, in denen mehrere gewaltige Gletscher zusammenfließen, so gleißend, dass man ihren Anblick ohne Sonnenbrille nicht erträgt.

Sari und Strickmützen

Aus dem Eismeer ragt der Sphinx-Felsen empor, auf dem Restaurants, Uhrengeschäfte und Aussichtsplattformen übereinandergestapelt sind. Es riecht nach Tandoori Chicken. Die Anlagen mit ihren glänzenden Metallfassaden ähneln einer Weltraumstation. Den Part der Außerirdischen spielen die Alpinisten. Zum Beispiel Markus Fuchs vom Bergführerverein Lauterbrunnen, der an der Kaffeebar auf den Reporter aus Deutschland wartet und als Einheimischer inmitten der Touristen als einziger exotisch wirkt.

Karte Jungfrau
(Foto: SZ-Grafik)

Die Inder, Japaner und Araber tragen Sneaker, Sari und Strickmützen - Fuchs Stiefel, Seilbündel und Eisaxt. Seine Haut ist von der Sonne gegerbt, der Schnurrbart frisch gestutzt, die Gletscherbrille abgenutzt. Der 41-Jährige war schon zig Mal auf der Jungfrau. Für mich ist sie das, was sie für die Schweiz ist: der erste Viertausender.

Vom Strom der Tagesausflügler lassen wir uns durch einen Stollen auf den Gletscher schieben. Es geht eine Dreiviertelstunde zur Mönchsjochhütte auf 3657 Metern Höhe, tagsüber Kaffee-und-Kuchen-Ziel, am Abend Refugium der Gipfelstürmer. Der Weg über den Gletscher wird mit einer Pistenraupe planiert und wirkt entsprechend harmlos. Doch kaum in der Hütte angekommen, Fuchs hat gerade ein Radler bestellt, wird er von der Wirtin zu Hilfe gerufen: Ein Mitarbeiter der Jungfraubahnen ist bei Vermessungsarbeiten zehn Meter tief in eine Spalte gestürzt.

Der Bergführer springt auf und kehrt erst nach einer Stunde zurück. "Glück gehabt. Der Mann kann jetzt zweimal im Jahr Geburtstag feiern", sagt er und bestellt ein neues Radler. Die Erstbesteiger hatten es nicht so gemütlich wie die Touristen in der Mönchsjochhütte. Sie schliefen in Schneekuhlen, über die sie eine Leiter legten, die sie zum Klettern dabei hatten. Über die Sprossen breiteten sie ihre Gehröcke und ein schwarzes Fahnentuch, das sie am Gipfel hissen wollten.

Warum taten sie sich das an?

Auch sonst war ihre Ausrüstung primitiv: genagelte Schuhe, Stöcke, schwarze Gazeschleier vorm Gesicht gegen die Sonne. Warum taten sie sich das an? Was reizte sie an diesem von Eis und Schnee starrenden Berg, der so unnahbar war, dass ihn die Leute Jungfrau tauften? Darauf gibt es eine etwas ausführlichere und eine sehr kurze Antwort.

Die ausführlichere: Der Vater der beiden war ein reicher Industrieller, der an einem Kartenwerk der Schweizer Berge arbeitete. Seine Söhne trugen mit wissenschaftlichen Expeditionen dazu bei. 25 Jahre zuvor war bereits der Mont Blanc bestiegen worden, das dürfte ihren Ehrgeiz zusätzlich angespornt haben.

Die kürzere Begründung für ihren Aufwärtsdrang lautet: "Jeden naturverbundenen Menschen, der die Jungfrau sieht, zieht es an allen seinen Haaren zu ihr hoch." Das sagt Peter Brunner, Lokalhistoriker, Leiter des Talmuseums Lauterbrunnen und bis zur Pensionierung viele Jahre bei den Bergbahnen tätig. Für ihn ist es kein Wunder, dass der erste Viertausender die Jungfrau sein musste, nicht etwa die andere, heute berühmtere Berg-Ikone des Landes, das Matterhorn.

"Nicht nur vollkommen, sondern erhaben"

"Vom Norden her betrachtet, ist das Matterhorn eine markante Pyramide", sagt Brunner, "aber vom Aosta-Tal aus ein lächerlicher Steinhaufen." Die Jungfrau dagegen ist selbst von der Jurahöhe, vom Feldberg und den Vogesen aus imposant. "Viele Gipfel leuchten weit ins Land hinaus, aber nur einer strahlt: die Jungfrau", schwärmt Brunner, "sie ist nicht nur vollkommen, sie ist erhaben."

Er kann das erklären, ein befreundeter Kunstmaler hat ihm das Geheimnis der Jungfrau verraten: ihre gleichmäßigen Linien, ihr Gipfelaufbau, ihr Verhältnis zwischen Schnee und Eis, die ihr vorgelagerten Silberhörner - das alles entspricht den Regeln der Kunst, dem Goldenen Schnitt. "Ihre Schönheit ist wissenschaftlich begründbar", sagt Brunner. Kurz: Ein Bergsteiger muss da hoch, er kann nicht anders.

Beim Abendessen in der Mönchsjochhütte drehen sich die Gespräche um das Wetter: Es hat knapp über null Grad Celsius, viel zu warm, das macht den Firn weich. Mit am Tisch sitzt ein junges Paar aus den Niederlanden. Das Mädchen war schon zweimal auf der Jungfrau und will das Erlebnis nun mit ihrem Freund teilen. Der klagt über Kopfschmerzen und dass ihm schon auf dem Weg zur Hütte die Puste ausgegangen ist. Er spürt die Höhe, wirkt nervös.

Überhaupt haben die Bergsteiger Respekt vor ihrer Unternehmung. Wortspiele zum Thema Jungfrau und Besteigung sind im Tal unvermeidlich. Hier oben, kurz bevor es ernst wird, macht sich niemand mehr lustig. Schon gegen 19 Uhr legen sich fast alle ins Matratzenlager. Aber es wird nicht geschlafen, nur übernachtet. Zumindest als Viertausender-Neuling findet man keinen Schlaf.

Das Lager mit all seinen Geräuschen ist nicht das Problem. Auch der heulende Wind nicht. Die Höhe lässt das Herz hämmern. Die Phantasie spult alle möglichen Absturz-Steinschlag-Lawinen-Szenarien ab. Ein Glück, wenn es zwei Uhr morgens ist - nur noch eine Stunde bis zum Aufstehen. Es gibt löslichen Kaffee und Bircher Müsli. Die verquollensten Augen hat der Niederländer.

Sitzgurt festziehen, Achterknoten binden, Stirnlampe an - bei Fuchs sitzt jeder Handgriff. Seine Routine wirkt beruhigend. Er nimmt immer nur einen, maximal zwei Gäste ans Seil. Man kann ihn für alle möglichen Berge engagieren, nur nicht für die Eiger-Nordwand. Er hat Familie und will sein Leben nicht riskieren.

Blau schimmert das Berner Oberland

Sehr langsam und konzentriert, aber dafür stetig stapfen wir hintereinander durch die Nacht. Am Himmel leuchten die Sterne, auf dem Berg die Stirnlampen der Seilschaften - eine Schweigeprozession. Es geht über Gletscher und Firn, also Eis mit und ohne Spalten, und in leichter Kletterei über einen Felssporn. Wenn das Ziel schon sehr nah erscheint, kommt der Rottalsattel. Die letzten, steilen Meter kosten Kraft an der dünnen Luft.

Der Blick vom Gipfel um acht Uhr morgens hat etwas Stratosphärisches. Den Mont Blanc kann man sehen. Blau schimmert das Berner Oberland. Das Lauterbrunnental sieht genauso aus, wie es die Meyers vor 200 Jahren beschrieben haben: Es gleicht "einem mit finsteren Schatten ausgefüllten Felsenrisse".

Und Platz ist auf der schiefen Gipfelebene nur für eine Handvoll Bergsteiger. Sie gratulieren sich per Handschlag, ziehen dafür extra ihre Handschuhe aus. Dann machen sie Platz für die nächsten.

Johann Rudolf und Hieronymus Meyer zerlegten damals ihre Leiter und pflanzten auf einer der Stangen die schwarze Fahne auf, zum Beweis, dass sie am Gipfel waren. Aber vom Tal aus konnte man das Tuch nicht sehen, so mussten sie die Besteigung im Jahr darauf wiederholen.

In der beeindruckendsten Schilderung ihres Berichts erklären die Brüder, dass man sich lange auf den Eisfeldern der höchsten Alpen aufhalten müsse, "der flüchtige Spaziergang" nicht genüge, um zu spüren, was die Natur dem Menschen zu geben imstande ist. Das klingt dann überhaupt nicht mehr nach kalter, abweisender Jungfrau. Das klingt, als hätten sie sich verliebt.

Anreise: per Bahn aufs Jungfraujoch, ab/bis München ca. 400 Euro, www.db.de, www.sbb.ch, www.jungfraubahn.ch Unterkunft: Bellevue Wengen, DZ/F ab ca. 180 Euro, www.bellevue-wengen.ch Weitere Auskünfte: Tagestarif Bergführer ca. 550 Euro; www.4000plus.ch;Büros: www.be-je.ch; www.grindelwaldsports.ch; alles zum Jubiläum und Bestellung Bildband "200 Jahre Jungfraugipfel" von Peter Brunner: www.jungfrau4000plus.ch; www.myswitzerland.com, Tel.: 00800/10020030 (gratis)

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