Süddeutsche Zeitung

Reisebuch Jerusalem:Im Grenzland

"Gelobtes Haus": Lange hat sich der jüdische Autor Jonathan Garfinkel nicht mit Israel und Palästina beschäftigt. Dann wagt er es, in den Konflikt hineinzureisen.

Von Kirsten Jöhlinger

Dass es keine Direktflüge von Toronto nach Jerusalem gibt, will Jonathan Garfinkels Großvater nicht glauben. Der alte Mann, der in Israel sterben möchte, streitet mit der Mitarbeiterin einer Fluggesellschaft und gibt schließlich den Arabern die Schuld. Für den Enkel ist das ein Schock. Sein Großvater, der Briefe an Präsidenten geschrieben hat, um die Welt zu retten, wird plötzlich zum Hetzer. Dem kanadischen Autor wird aber noch etwas klar: Genau wie er selbst kennt sein Großvater Israel nur von Landkarten.

Garfinkel beschließt, sich auf die Reise zu machen. Im Gepäck hat er ein Referat über Jerusalem, das er als Schüler einer sozialistisch-zionistischen Schule in Toronto verfasst hatte, im Kopf die Gespräche mit seiner palästinensischen Bekannten Rana. Die hatte ihm von einem Haus in Jerusalem erzählt, das sich ein Palästinenser und ein Israeli teilen. Garfinkel möchte das Haus suchen, möchte Friedensansätze finden.

Angekommen in Israel und Palästina, hat er skurrile Begegnungen. In der Heiligen Stadt trinkt er mit dem ziemlich unheiligen Yonni, der nach seinem Militärdienst auf Weltreise gegangen war und bei seiner Rückkehr auf eine Orangenkiste springt und eine Rede an die "Muschis von Jerusalem" hält. Im Westjordanland wird Garfinkel ein Fahrrad geklaut, das er aber wiederbekommt, indem er den Dieben nachrennt und ihnen eine selbstgemachte palästinensische Flagge abkauft. Als er eine Freundin von früher besucht, umarmt sie ihn nicht mehr, weil sie nun streng orthodox ist.

Der Autor porträtiert zwei Gesellschaften, die mit sich selbst und miteinander hadern

Sein flapsiger, origineller Stil verstärkt die Szenen: Die Bekannten des Autors haben manchmal "Zähne wie Pommes frites", und wenn er sich erinnert, wie er mit den anderen Männern in Toronto in der Synagoge sang, dann klang das "wie ein betrunkener Rentnerchor". Mithilfe der auf den ersten Blick schrägen Szenen zeichnet der Autor in "Gelobtes Haus" aber subtil und doch ganz gezielt ein Porträt von zwei Gesellschaften, die mit sich selbst und miteinander hadern. Dabei kommt Garfinkel nicht an alle Gruppen heran, sucht aber aktiv nach Menschen, die mit sich reden lassen.

Einerseits drängen sich Traumszenen immer wieder in die Wirklichkeit, etwa wenn dem Autor sein Vater erscheint, als er an der Klagemauer mit seiner Identität hadert und mit Gott streitet, oder wenn seine Lehrerin von früher vermeintlich plötzlich neben ihm im Bus sitzt. Andererseits belegt Garfinkel einige Stellen im Buch mit Fußnoten. Indem er seinen Bücherschrank beschreibt, lässt er außerdem geschickt Literaturverweise einfließen und bettet seine Schilderung so in eine größere Diskussion ein.

Das englischsprachige Original ist 2007 erschienen, als Israel gerade die Grenzmauer zum Westjordanland baute und die Angst vor Selbstmordattentaten besonders groß war. In der deutschen Übersetzung schreibt Garfinkel in einem Nachwort nun über die Reaktionen auf sein Buch und geht auf die Covid-19-Pandemie und die Impfstoffverteilung ein. Doch auch ohne diese Ergänzung eignet sich das Buch, um die heutige Lage besser zu verstehen. Nebenbei ermöglicht "Gelobtes Haus" außerdem einen Einblick in die jüdische Diaspora in Kanada.

Die Recherche ist schmerzhaft für Jonathan Garfinkel. Nicht nur, weil er mit Steinen beworfen wird (von einem israelischen Kind) und mit Stöcken geschlagen (von einem palästinensischen Kind), sondern vor allem, weil seine Bekannten teilweise scharf kontern, wenn er ihnen unangenehme Fragen an den Kopf wirft. "Gelobtes Haus" ist ein mutiges Buch, das durch die Verletzlichkeit des Autors den Lesern die Chance bietet, ihre eigenen Grenzen im Kopf zu hinterfragen.

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