Süddeutsche Zeitung

Tourismus in Japan:Geschlossene Gesellschaft

Japan hat es auch im dritten Jahr der Pandemie nicht eilig, wieder Gäste aus dem Ausland zu empfangen. Aber fehlt da nicht doch etwas?

Von Thomas Hahn, Nara

Ein Sikahirsch geht bei Rot über die Ampel. Das ist eine der ersten Szenen, die man erlebt beim Besuch in Nara, wo vor 1300 Jahren der japanische Kaiser lebte. Es ist ein wolkiger Frühlingstag in der früheren Hauptstadt. Junges Grün umgibt die Tōdai-ji-Tempelanlage. Im Park ist nicht viel los. Und man ist nicht sicher, ob die wilden Hirsche die Ruhe genießen oder ob ihnen etwas fehlt. Seit Jahrhunderten gelten sie hier nach dem Shinto-Glauben als heilig, deshalb haben sie ihre Scheu vor den Menschen verloren und lassen sich gerne mit den Keksen aus Mehl und Reiskleie füttern, welche die Stiftung zum Schutz der Nara-Hirsche im Park verkaufen lässt. Aber es sind nicht viele Touristen da, die Kekse kaufen könnten. Vor dem Stand am Nationalmuseum steht ein Hirsch und scheint sehnsüchtig auf das Angebot zu blicken.

Es ist ein seltenes Privileg geworden, durch Japan zu reisen. Die Pandemie ist schuld, denn die Einreise zu beschränken ist für Japans Regierung eine Säule der Coronavirus-Abwehr. Seit April 2020 verfolgt sie diese Strategie mit großer Konsequenz. Jetzt, da der Impfschutz und die weniger aggressive Mutante Omikron der Lungenkrankheit Covid-19 den größten Schrecken genommen haben, hat sich die Lage entspannt. Die meisten Länder in Asien und im pazifischen Raum haben die Grenzen geöffnet. Japans Regierung erlaubt seit April immerhin wieder 10 000 Einreisende pro Tag. Aber weiterhin keine Touristen. Das hat Premierminister Fumio Kishida zuletzt höchstpersönlich betont. "Ein genauer Zeitplan wurde noch nicht entschieden", sagte er. Es klang, als wolle er seine Landsleute beruhigen: Keine Angst, so schnell kommen die fremden Urlauber nicht zurück.

Ein Land, das kein Fremder mehr besucht: In Japan gab es das schon einmal

Fühlt sich Japan wohl damit, dass es nicht besucht werden kann? Vielleicht sogar besser als in den vorpandemischen Jahren nach 2012, in denen der damalige Premier Shinzo Abe den Tourismus als neue Einnahmequelle anpries und gar nicht genug Besucher ins Land locken konnte?

Man kann das nur herausfinden, wenn man sich selbst auf den Weg macht. Am besten auf der klassischen Touristenroute mit dem Shinkansen von Tokio über Kyoto und Osaka nach Hiroshima. Nara liegt am Rande der Route. Mit dem Regionalzug dauert die Fahrt von Kyotos Hauptbahnhof knapp 45 Minuten. Nara wirkt wie eine Mischung aus Freilichtmuseum und Zoo. Allein die Hirsche auf dem Mittelstreifen zwischen Autos grasen zu sehen, ist ein Erlebnis, das man so wohl nur in Japan haben kann.

Masato Kosaka, Chef der Sektion Tourismus-Förderung im Tourismus-Büro der Präfektur Nara, legt Zahlen auf den Tisch. "Die Zahl der Touristen und der Konsum durch Besucher waren 2020 nur noch die Hälfte von 2019", sagt er. Ausländische Touristen gibt es seit 2020 so gut wie keine mehr, klar.

Nara ist ein typisches Beispiel für Japans Tourismus-Entwicklung. Nara City, die Hauptstadt der Präfektur, zählte 2012 noch 267 000 Urlaubsgäste aus dem Ausland. 2019 waren es 3,3 Millionen. Und der Boom sollte weitergehen. Daraus wird nun nichts, was Masato Kosaka nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen schlecht findet. Vor der Pandemie waren nur sieben Prozent der Touristen Ausländer. Für die Einnahmen ist es Nara deshalb erst mal wichtiger, die japanischen Reisenden zurückzuholen. Aber beim Tourismus geht es ja nicht nur um Geld. "Ein Besuch hier führt dazu, dass Ausländer mehr Verständnis von Japan haben", sagt Kosaka. Naras Park, das Museum, die Tempel, die Hirsche - all das erzählt die Geschichte des Inselstaates jenseits von Klischees und Vorurteilen. Mithilfe von Influencern versucht Nara deshalb, in den sozialen Netzwerken auf sich aufmerksam zu machen und betreibt Schulaustausch-Programme online. Die Welt soll Nara nicht vergessen.

Was wird aus einem Land, das kein Fremder mehr betrachten kann? Japan hatte diesen Zustand schon mal. In der Edo-Zeit von 1603 bis 1868 schotteten die herrschenden Tokugawa-Shogune das Land fast komplett ab, um ihre Macht vor äußeren Einflüssen zu schützen. Kaum jemand durfte rein, kaum jemand raus. Die Edo-Zeit war die längste Friedenszeit in Japans Geschichte. Als die Amerikaner Japan aus ihrer Isolation zwangen, wurde das Leben fortschrittlicher, aber auch komplizierter. Und ein bisschen lebt dieses Bedürfnis nach ungestörter nationaler Harmonie bis heute fort. Ohne ausländische Touristen gebe es weniger Dreck, Lärm und schlechte Manieren - das hört man oft auf der Reise. Auch in Nara.

Yukako Oka, eine gebürtige Nara-Bewohnerin, steht im Park bei der Nogaku-Halle. Ein paar Sikahirsche beschnuppern sie, weil sie Reiskekse in ihrer Jutetasche hat. Jede Woche ist Yukako Oka hier, und ihr entging vor der Pandemie nicht, dass die Zeiten stressig waren für die Tiere. Die Reiskeks-Verkäufer freuten sich über hohe Umsätze, und die Touristen verfütterten so viele Kekse, dass die Hirsche Durchfall bekamen. Schlimmer noch: Die Touristen gaben den Hirschen Sachen, die sie nicht fressen sollen, inklusive Papier und Müll. Und weil manche den Tieren zu nahe kamen, gab es Unfälle. Für Yukako Oka ist deshalb klar: "Für die Sikahirsche ist diese Situation mit wenigen Touristen gut."

Trotzdem hat der Frieden Nachteile. Der Hauptbahnhof von Kyoto wirkte vor der Pandemie immer wie ein Treffpunkt für Reisende aus aller Welt, die sich neugierig auf Japans Lebensart einließen. Jetzt sieht man hier vor allem Japaner, die keine Zeit haben. In den Straßen um den großen Tempel Kiyomizu-dera ist wenig los. Und Maryu Sugita spürt, dass ihr etwas Wichtiges fehlt.

Nur noch vertraute Klänge - da fehlt etwas

Sie ist Porzellanmalerin. Ihr kleiner Familienbetrieb liegt im Stadtteil Higashiyama inmitten von Souvenirläden und Kimono-Verleihen. Dass die ausländischen Touristen weg sind, schadet ihr eigentlich nicht. "Die meisten Kunden von mir sind Japaner." Und natürlich hat auch sie sich schon über die Symptome des Übertourismus geärgert, die Kyoto so belasteten wie keine andere Stadt in Japan. "Manchmal konnte ich nicht mit dem Auto zu meinem Haus, weil es so voll war." Aber diese Leere ist auch nicht natürlich. Maryu Sugita hört nur noch vertraute Klänge, kaum neue Perspektiven. Für sie als Porzellanmalerin ist das ein Problem. "Ich lasse Einflüsse von außen in meine Werke einfließen. Wenn man das nur aus dem Internet zieht, ist der Einfluss irgendwie gedämpft. Das ist traurig für die Kunst." Maryu Sugita will ihr lebendiges Kyoto zurück.

Auch der Rentner Hiromi Sugiyama zweifelt. Er lehnt mit seinem Fahrrad an der Steinmauer des Schlossgrabens von Osaka. Hinter ihm ragen die grünen Dächer des Hauptturmes in den Abendhimmel. Vor der Pandemie fand er die Touristen-Masse grenzwertig. "Aber ich hatte auch den Gedanken, dass diese Masse nicht nur nach Tokio, Kyoto und Osaka kommen könnte, sondern auch in andere Städte." So hätten die Menschen mehr über Japan erfahren können. Ob die Chance zurückkommt? 2025 findet die Weltausstellung in Osaka statt. "Da werden wir sehen, was die Folge des Einreisestopps ist, wie viele Leute kommen", sagt Hiromi Sugiyama. Er klingt skeptisch.

Keine Gäste in Hiroshima. Die Friedensbotschaft bleibt im Land, ausgerechnet jetzt

Am nächsten Tag prasselt in Hiroshima Regen auf den Platz vor dem Genbaku-Museum im Friedenspark, das an den Atombombenabwurf der Amerikaner von 1945 erinnert. Eine Schulklasse spaziert in Reih und Glied ins Museum. Sonst ist kaum jemand da, dabei ist das Vermächtnis dieses Ortes doch gerade jetzt wertvoll, da die drohende Atommacht Russland Krieg in der Ukraine führt. Nichts zu machen. Die Friedensbotschaft muss im Land bleiben. Immerhin ist Kiyoshi Kamachi von der städtischen Stiftung Hiroshima Convention & Visitors Bureau optimistisch. "Hiroshima wird nicht vergessen", glaubt er, "der Wille der Menschen, nach Hiroshima zu kommen, ist nicht gesunken."

Aber wenn der Wille zu lange enttäuscht wird, vergessen die Menschen vielleicht irgendwann, dass man nach Japan reisen kann. Japans Willkommenskultur ist gerade schwer einzuschätzen - aber im dritten Jahr der Pandemie hat es das Land eindeutig nicht eilig, wieder Gäste zu empfangen.

Im Shinkansen nach Tokio sind viele Plätze frei. Und am Kaiserpalast der Hauptstadt ist keine einzige internationale Reisegruppe unterwegs. Dafür sind die drei Freundinnen Natsumi, Alisa und Shizuka aus Saitama da. Sie sitzen auf einer Stufe bei der Kiefern-Wiese.

Natsumi und Alisa wollten Shizuka zum Zug bringen, und weil Zeit war, sind sie vom Hauptbahnhof zum Palast gekommen. Japan kommt ihnen "ein bisschen einsam" vor ohne Touristen, dafür können sie jetzt hier ohne Stress sitzen. Und Shizuka nutzt die Pandemie, um ihre Heimat besser kennenzulernen. Sie war schon in Kyoto, "weil es leer ist". Jetzt fährt sie nach Ise, wo einer der bedeutendsten Schreine Japans steht. "Ich wollte eigentlich nach Übersee, aber das ist schwierig." Also Ersatzprogramm. "Ich möchte Orte besuchen, an denen ich noch nie war, obwohl sie in Japan sind." Sie nutzt ihr Privileg, durch ein verschlossenes Land zu reisen.

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