Masako Taira ist 93 Jahre alt und kennt das Geheimnis der ewigen Jugend. Aber sie verrät es nicht gleich. Gemeinsam mit zwei ebenso betagten Freundinnen hat sie eine Gruppe Touristen an deren Bus abgeholt, nun führt sie die Besucher durch das Dorf am Meer: Bescheidene, ein- bis zweistöckige Häuschen mit bunt bepflanzten Vorgärten, Gemüsebeete, Felder mit Süßkartoffeln, eine schmale Durchgangsstraße ohne Autos, alles so verschlafen unter der Mittagssonne, dass man nur die Vögel zwitschern hört - das ist Ogimi auf Okinawa Honto, der Hauptinsel des gleichnamigen Archipels im äußersten Südwesten Japans. Es ist eine entlegene, doch berühmte Ortschaft, nicht nur, aber auch wegen Masako Taira.
Rund 3000 Einwohner hat Ogimi, ein Drittel davon ist älter als 65 Jahre. 13 Bewohner haben laut der Gemeindeverwaltung schon mehr als 100 Sommer erlebt. Auf der gesamten Inselgruppe gibt es deutlich mehr Hundertjährige als irgendwo sonst im Land. Und auf diesem Archipel der Alten ist Ogimi das Zentrum der Uralten. Da fragt man sich natürlich: Warum ist das so? Die Senioren von Ogimi wiederum hätten in ihrem langen Leben wenig Weisheit erlangt, wenn sie diese Neugier nicht auch ein wenig touristisch ausschlachten würden. Sie empfangen gerne organisierte Gruppen - und dann machen sie es erst einmal spannend.
Masako Taira stützt sich auf einen Gehstock, aber sie ist erstaunlich flott unterwegs. Säbelbeinig und leicht schwankend wie ein Matrose, der ein bisschen zu lange auf dem Pazifik gesegelt ist, geht sie voran. Sie hat ihre weißen Haare ordentlich geföhnt und sich elegant gekleidet: Brille mit Goldrand, Bluse mit Blumenmuster, Jeans mit Bügelfalte. "Man darf sich nicht hängen lassen", sagt sie, "und auf gar keinen Fall andauernd alleine zu Hause sitzen. Man muss rausgehen, Leute treffen." Dabei verliert sie nur manchmal den Faden. Auf die Frage, ob sie viel Besuch bekomme, antwortet sie: "Als Jugendliche habe ich in Peking Schreibmaschine gelernt." Damals gab es in Japan noch einen Kaiser, der in China einmarschierte, dann kamen die Amerikaner, und um Okinawa tobte eine entscheidende Schlacht, in der Tausende Soldaten starben. Doch darüber spricht Masako Taira nicht. Sie erinnert sich lieber an ihren Mann, einen Lehrer. "Er war immer sanft zu mir", erzählt sie.
Eine gewisse Grundentspanntheit ist auf der ganzen Insel zu spüren. Okinawa Honto liegt in den Subtropen. Das Thermometer fällt selten unter 20 Grad. Es gibt viele Strände und Buchten mit türkisfarbenem Wasser in Badewannentemperatur. Die Straßen der Insel sind von Palmen gesäumt. Kirschblüte ist hier bereits im Januar, in Tokio erst im April. Statt Betonfassaden, wie man sie aus den Großstädten im Norden kennt, gibt es auf Okinawa noch viel Backstein-Architektur aus dem 18. Jahrhundert - zumindest das, was die vor allem im Herbst zuschlagenden Taifune übriggelassen haben. Die Plätze in den Dörfern sind teils von Banyan-Bäumen überschattet, und wo man hinschaut, blüht der Hibiskus wie auf Hawaii. Die Inselkette weiter südlich im Pazifik lieferte auch die Vorlage für eine modische Eigenheit Okinawas: eine Art Hawaii-Hemd, das sogar als Büro-Outfit akzeptiert ist und ein unbeschwertes Lebensgefühl zur Schau stellt. Das alles wirkt auf Japaner "vom Festland", wie sie hier sagen, ungewöhnlich, exotisch. Und mit der Hektik des urbanen Alltags hat es auch nichts gemein.
Vier Jahre nach dem Unglück von Fukushima kehren die Touristen nach Japan zurück
"Das geruhsame Leben schont die Menschen hier", sagt Till Weber, der seit 17 Jahren als Professor für Geschichte und Kunstgeschichte an Okinawas Universität lehrt, deutscher Honorarkonsul ist und als Kenner des Landes gilt. "Deshalb werden die Leute auch so alt: Die Energie, die man fürs Leben braucht, reicht in Europa für 70, hier aber für 100 Jahre." Dieses Lebensgefühl zieht auch Touristen an. Okinawa ist eine beliebte Urlaubsinsel der Japaner, nicht zuletzt für Hochzeitsreisende. Nach dem Reaktorunglück von Fukushima galt Okinawa erst recht als ideales, da möglichst weit vom Unglücksort entferntes Reiseziel innerhalb Japans. Heute, vier Jahre später, haben die Touristen generell wieder Vertrauen in das Land gefasst. Zuletzt meldete die Japanische Fremdenverkehrszentrale JNTO einen Besucherrekord für 2014: 30 Prozent mehr internationale Ankünfte als im Jahr zuvor, mit 140 000 Besuchern auch 15 Prozent mehr aus Deutschland.
Tourismus ist der wichtigste Wirtschaftsfaktor Okinawas. Die meisten ausländischen Gäste kommen aus China, Korea und vor allem aus Taiwan, das näher an Okinawa liegt als Tokio. Europäer trifft man dagegen kaum. Die meisten von ihnen erkunden die japanischen Hauptinseln, nur wenige runden ihren Urlaub an den Stränden des Südens ab. Dabei würde sich das durchaus lohnen. Zur Präfektur Okinawa zählen 160 Inseln, nur 49 davon sind bewohnt - da gibt es viel zu entdecken für Taucher und Segler.
Das heißt nicht, dass hier alles nur eitel Sonnenschein wäre. Zu Streit führt immer wieder die starke Präsenz der USA, die aufgrund der strategisch günstigen Lage vor Nordkorea und China seit Ende des Zweiten Weltkriegs Militärbasen auf Okinawa betreiben. 50 000 US-Bürger leben in der Präfektur, die Hälfte aller US-Streitkräfte in Japan ist hier stationiert. Kritiker lasten den Truppen Lärm, Kriminalität und Umweltverschmutzung an. Die Bevölkerung geht dagegen auf die Straße.
"Okinawa bekommt immer die negativen Auswirkungen der Weltpolitik zu spüren", sagt Till Weber. Das war schon vor 600 Jahren so, als die Inseln das unabhängige Königreich Ryukyu bildeten, das bis ins 19. Jahrhundert bestand. Es war durch Handelsbeziehungen mit China und Japan verbunden und zwischen den beiden Mächten zerrissen. So bildeten sich andere Traditionen als im Rest Japans aus. Der chinesische Einfluss zeigt sich heute noch unter anderem in Burgen und Schreinen, die zum Weltkulturerbe zählen, in Drachen- und Wachlöwenfiguren an den Häusern sowie in einer speziellen Ausprägung des Shintoismus: Verehrt werden Bäume, Steine oder andere, für Uneingeweihte nicht besonders bemerkenswert erscheinende Stellen in der Natur, an denen die Gläubigen Räucherstäbchen anzünden. Der Kunsthistoriker Weber gerät ins Schwärmen über diese kulturellen Besonderheiten. Dazu gehört auch der Ahnenkult. "Vorfahren und Alte werden nirgendwo in Japan so respektiert wie hier." Das gilt natürlich auch für Ogimi, wo es zum Beispiel eine Gemeinschaftskasse gibt, in die alle Dorfbewohner einzahlen für diejenigen Alten, die das Geld am nötigsten brauchen.
Reise-Knigge für Japan:Im Land der Fettnäpfchen
Es gibt andere Länder, andere Sitten. Und es gibt Japan. Hier ist es für Touristen besonders leicht, unangenehm aufzufallen.
Schon von Weitem ist jetzt ein Tamburin zu hören. Masakos Freundin Sumiko Taira schlägt es am Eingang zum Gemeindesaal von Ogimi. Lachend ruft sie den anderen Frauen entgegen, hereinzukommen. Jeden Freitag treffen sich die Seniorinnen zur Gymnastik mit einer Krankenschwester, die meint: "Das Besondere ist nicht, wie alt die Dorfbewohner werden, sondern wie fit sie dabei sind." Sumiko Taira macht bereits seit 27 Jahren regelmäßig mit, wie sie stolz berichtet. Sie ist 97 Jahre alt, hat sechs Kinder, 16 Enkel, 28 Urenkel - bewältigt ihren Alltag aber immer noch alleine. Außer im Gemeindesaal turnt sie auch zu Hause, jeden Morgen vor dem Radio. Ihren Kopf hält sie ebenfalls in Schwung: "Ich schreibe Tagebuch und lese Zeitung."
Dann ist genug geredet. Alle einen Stuhl schnappen! Einen Kreis bilden! Masako Taira klopft auf die freie Sitzfläche neben sich und lächelt einladend, der junge Mann aus der Reisegruppe soll sich zu ihr setzen. Und jetzt mitmachen! Aus einem abgegriffenen Kassettenrekorder eiert die Melodie eines Saiteninstruments, dazu gibt die Krankenschwester Anweisungen: Arme heben, Kopf in den Nacken, Füße locker kreisen. Das soll das Gleichgewicht schulen, bei Stürzen vor Verletzungen schützen. Dazu gibt es Tee, die Tassen sind mit Hello-Kitty-Figuren bedruckt. Kein Stress, familiärer Zusammenhalt, Gymnastik - ist das die geheime Formel fürs Steinaltwerden? Masako Taira kann nicht antworten, denn jetzt wird auch noch getanzt. Sie schnappt sich den jungen Mann und schiebt ihn trippelnd durch den Saal.
Wissenschaftler führen das hohe Alter der Ogimianer auf ihr gesundes Essen zurück: wenig Salz, wenig Fett, viel Gemüse aus den eigenen Gärten. Im Restaurant von Emiko Kinjo kann man das kosten. Ihr Lokal liegt am Ortseingang, ist aus Holzlatten gezimmert wie ein Schuppen. Die 67-jährige Köchin serviert die Speisen in einer schwarz lackierten Kiste, die unterteilt ist wie ein Setzkasten. In jedem Kästchen liegt ein Mini-Gericht: Heringe in Meersalz, Tofu mit Seegras, Aloe-vera-Nudeln, frittierte Papaya mit der hiesigen Shekwasha-Zitrone - alles aufwendig drapiert, lauter Kunstwerke. Sechs Stunden habe sie daran gearbeitet, sagt Emiko Kinjo.
So viel Mühe machen sich nicht mehr alle Bewohner von Ogimi. Bei den Jüngeren sei Mikrowelle und Fast Food statt Seegras angesagt, meint Emiko Kinjo, dank der Amerikaner sind die Imbissketten auf ganz Okinawa verbreitet. Aber viel drastischer sind ganz andere Veränderungen: Die Leute ziehen vom Land in die Städte, und in Ogimi wie in ganz Japan schrumpft die Bevölkerung. Bis 2040, so die Schätzungen der Behörden, soll es 20 Millionen Japaner weniger geben als im Jahr 2010. In die Schule von Ogimi gehen gerade noch drei Dutzend Kinder, Masako Taira erinnert sich noch an einst 500. Und viele der Hundertjährigen leben nicht mehr in ihren Familien, sondern im Pflegeheim.
Die Musik ist zu Ende. Gemeinsam mit den Seniorinnen spazieren die Gäste zurück zum Bus. Masako Taira hakt sich bei dem jungen Mann ein. Sie zeigt das Feld, auf dem sie ihr Leben lang bittere Goya-Gurken angebaut hat. Einmal hat sie damit sogar einen Preis gewonnen, erzählt sie.
Und was ist nun das Geheimnis der ewigen Jugend, Frau Taira? Sie sagt etwas, aber die Übersetzerin darf es erst im Bus wiedergeben: "Man soll nicht nur eine Oma werden, sondern immer auch eine Frau bleiben. Sie freut sich schon auf den Besuch der nächsten jungen Männer."