Süddeutsche Zeitung

Japan:Bei den Meerfrauen

Japan wirkt manchmal wie ein blank gewienerter Zukunftsort. Wie passen dazu die Muscheltaucherinnen aus Osatsucho?

Von Thomas Hahn, Toba

Sanayo Matsui ist heute schon tiefer gesunken als jeder ihrer Gäste. Sie war beim Tauchen, natürlich. Alle Meerfrauen in Osatsucho auf der japanischen Halbinsel Shima tauchen um diese Jahreszeit so oft, wie es geht. Im Winter schmecken die Meeresfrüchte besser, heißt es. Außerdem ist es nicht in jeder Saison erlaubt, Muscheln, Abalonen und Seegurken zu sammeln. Man muss die Chancen nutzen, die man kriegt. Nach diesem Vorsatz leben die Menschen hier.

Um neun ging es also los, nach der Freigabe des Fischereiverbandes. Die Sonne schien. Das Meer war glatt und kalt. Und es muss sich wieder gelohnt haben, denn Sanayo Matsui sitzt jetzt in der Meerfrauenhütte "Ozegosan" am reich belegten Grill und lächelt selig unter ihrer weißen Haube hervor. Lächelt sie, weil die Ausbeute gut war bei ihrem morgendlichen Streifzug durch die Unterwasserwelt? Oder weil jeder Tag im Meer für sie ein guter Tag ist? Beides wahrscheinlich, denn Sanayo Matsui, eine zierliche Frau mit gütigen Zügen, macht nicht den Eindruck, als könnte ihre Heimat sie jemals enttäuschen. Mit flinken Bewegungen wendet sie Muscheln und Fisch. Dazu erzählt sie von ihrem Leben als Meerfrau, als Ama, wie es auf Japanisch heißt. "Mit 17 habe ich damit angefangen", sagt sie, "das war unser Familienberuf, meine Eltern wollten es so." Mit 19 heiratete sie einen Fischer aus dem Dorf, brachte drei Kinder zur Welt und arbeitete immer weiter - im Meer und auf ihrem Feld an Land, das sie bis heute nebenbei bestellt. Sanayo Matsui ist 71 Jahre alt.

Japan, die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, wirkt manchmal wie ein besonders blank gewienerter Zukunftsort mit Robotern, die durch Hochhauswelten surren, und Hochgeschwindigkeitszügen, die mit fast einschüchternder Pünktlichkeit von einer Stadt zur anderen gleiten. Bis 2030 will Japans Regierung jedes Jahr 60 Millionen Auslandstouristen verblüffen mit einem perfekten Mix aus nationaler Fernosttradition und moderner Konsumlandschaft. Das Ziel ist immer noch aktuell, auch wenn wegen der Pandemie seit bald zwei Jahren keine Auslandstouristen mehr ins Land dürfen. Die Cool-Japan-Kampagne, die unter dem früheren Premierminister Shinzo Abe Fahrt aufnahm, soll die zahlenden Besucher der Welt beeindrucken.

Aber dann kommt man zu den Ama-Taucherinnen nach Osatsucho in die Präfektur Mie an der Südostflanke der Hauptinsel Honshu und erlebt eine ganz andere Form der japanischen Coolness. Nämlich eine gewachsene Gelassenheit, die aus einem alten naturnahen Gewerbe gewachsen ist.

Muscheltauchen ist Frauensache, das ist überlieferter Glaube in Japan. Frauen haben mehr Unterhautfettgewebe, das gegen das kalte Wasser schützt, Männer mehr Kraft für die schweren Fischernetze - deshalb hat sich diese Arbeitsteilung in vielen Fischerdörfern wohl durchgesetzt. Und zwar schon vor langer Zeit. Ama wurden erstmals im "Man'yoshu", der ältesten Gedicht-Anthologie Japans, erwähnt. Im Jahr 750 war das - schon damals waren sie wahrscheinlich ein altes Phänomen. Mit bloßer Hand und angehaltener Luft Seegras, Seefrüchte und Muscheln aus dem Meer zu holen, ist die ursprünglichste Version des Fischens. Es gibt praktisch kein Hilfsmittel. Nach der Überlieferung sollen die Frauen früher nicht einmal viel angehabt haben.

Dass die Frauen die Tradition pflegen, heißt nicht, dass sie nicht mit der Zeit gehen

Sanayo Matsui sagt: "Ich bin früher mit einem weißen Kittel getaucht." Mit einer Art Uniform aus anspruchslosem Stoff also, die heute wie die klassische Ama-Tracht wirkt. Der Unternehmer Mikimoto Kokichi stattete damit einst die Taucherinnen aus, die er Anfang des 20. Jahrhunderts für seine Tourismus-Attraktion Mikimoto-Perleninsel auf dem Stadtgebiet von Toba nicht weit von Osatsucho arbeiten ließ. Die Mikimoto-Perleninsel war Sanayo Matsuis erster Arbeitsplatz als Ama.

Sie zeigt aus dem Fenster der Ama-Hütte in die Bucht hinein. Fischerboote pflügen mit spritzender Gischt durch das Wasser. "Sie fahren jetzt zum Langusten-Fangen", sagt sie. Die Ama-Hütte duckt sich unter Bäumen am Rande einer schmalen Betontrasse, die in die Steilküste hineinführt. Man hat von hier aus einen erstklassigen Blick auf Osatsuchos Hafen und auf das Meer, das unter einer Herde aus Elefantenwolken in der Sonne glitzert. Der Blick auf diese Landschaft scheint Sanayo Matsui nie langweilig zu werden. Ob sie manchmal die Vorzüge von Metropolen wie Tokio oder Osaka vermisst? Sie lacht. "Überhaupt nicht." Aber das soll nicht heißen, dass sie nicht mit der Zeit gehen könnte. Sie hat nicht gefremdelt, als die Ama anfingen, Neoprenanzüge, Flossen, Taucherbrillen und Gewichtsgurte gegen den Auftrieb zu tragen. Das war in den 1960ern.

In den 2020ern sind die Herausforderungen vielfältiger. Und die Ama-Taucherinnen können nicht so tun, als ginge sie das nichts an. Die Ama sind die Hauptattraktion im Stadtgebiet von Toba, zu dem auch Osatsucho gehört. Orie Iwasaki, die Tourismusbeauftragte der Handelskammer in Toba, macht daraus keinen Hehl. Toba liegt im Grunde nicht ungünstig, um etwas vom großen Touristenstrom abzukriegen. Der Ise-Schrein, eine der wichtigsten Shinto-Anlagen Japans, ist nicht weit weg. Aber es gibt Negativeinflüsse: Der Hang zur Gruppenreise in Japan flaut ab, Ise liegt nicht auf der Stammroute für Auslandstouristen, die ja meistens eher der Shinkansen-Strecke entlang von Tokio über Kyoto nach Hiroshima führt. Und vor allem: Es herrscht noch Pandemie.

Regionale Kampagnen und gezielte Schulausflüge haben die Delle der Coronavirus-Krise etwas ausgeglichen. Der Ausländer-Statistik konnte das nicht helfen. 2019 kamen noch 2073 Menschen aus anderen Nationen ins Ama-Museum von Osatsucho. 2020 noch 29. 2021 sechs. Orie Iwasaki muss sozusagen eine Marke wieder neu aufbauen. Eine neue Ama-Webseite soll helfen, die aber ein weiteres Problem zeigt. Denn es werden ja nicht nur die Touristen weniger. Der demografische Wandel macht sich bemerkbar. Orie Iwasaki, Jahrgang 1977, sagt: "Als ich zur Welt kam, hatte die Stadt Toba 30 000 Menschen. Jetzt hat sie 17 000." Und natürlich werden auch die Ama-Taucherinnen nicht mehr.

Die Zeiten sind längst vorbei, in denen es für junge Frauen aus Osatsucho selbstverständlich war, einen örtlichen Fischer zu heiraten und Ama-Taucherin zu werden. "Für uns war das normal", sagt die Ama-Taucherin Michiko Nakamura, 69, "heute gibt es hier mehrere Frauen, die nicht Ama sind, die woanders Arbeit haben." Immerhin, in Osatsucho gibt es noch so viele Ama wie sonst nirgends in Mie. "Ungefähr 100", sagt Orie Iwasaki. In anderen Gegenden der Halbinsel Shima arbeiten nur noch zwei. Das Durchschnittsalter beträgt 65.

Ayami Nakata ist 42 und auch sonst eine Ama-Taucherin der anderen Art. Sie sitzt im ersten Stock des Souvenirshops, das im früheren Haus einer Ama-Taucherin eingerichtet wurde. Sie ist eine heitere Person. Und an ihr liegt es nicht, dass Japans ländlicher Raum ausstirbt. Sie hat einen früheren Klassenkameraden geheiratet und mit diesem fünf Kinder. Außerdem hat sie sich nach ihrem dritten Kind ins Ama-Tauchen einweisen lassen - obwohl sie nicht die günstigsten Voraussetzungen dafür hat. "Ich kann nicht schwimmen", sagt Ayami Nakata, "bis heute immer noch nicht." Mit Neoprenanzug und Flossen kann sie sich im Wasser bewegen, und letztlich geht es beim Tauchen ja ums Untergehen. Deshalb konnte sie auch als Nichtschwimmerin Ama werden. Aber es macht die Aufgabe nicht leichter.

Ayami Nakata ist eine bekennende Bewohnerin von Osatsucho. Mit 15 ist sie einst in eine Art Sportinternat gezogen, weil sie eine begabte Judokämpferin war. Aber auch weil sie das Gefühl hatte, noch etwas anderes kennenlernen zu müssen außer dem Trott im Fischerdorf, bevor sie eines Tages den Lebensmittelladen ihrer Mutter übernimmt. Sie wurde Bankangestellte und wohnte zeitweise in Osaka - allerdings mit Osatsucho in ihrem Herzen. "Ich habe viel davon erzählt in Osaka, ich habe den Leuten gesagt, ihr solltet mal dahin fahren."

Seit 13 Jahren ist sie wieder da. Seit fünf Jahren taucht sie. Ein einheimischer Meeresfreund brachte ihr die Tücken der Strömung bei und zeigte ihr die fruchtbarsten Stellen des Meeresbodens. Heute lässt sie auf ihren Heimatort nichts kommen. Sie liebt die schroffe, friedliche Landschaft hier, sowohl an Land als auch unter Wasser. "Es ist beruhigend, hier zu wohnen", sagt sie. Aber sie spürt auch die Probleme hier. Den Rückgang des Tourismus wegen der Pandemie. Und ihre mittlere Tochter hat in ihrem ersten Jahr an der Grundschule nur drei weitere Kinder in der Klasse.

"Ich denke insgesamt nicht so viel darüber nach", sagt Ayami Nakata. Sie tut, was sie kann, um zum Überleben ihres Dorfes beizutragen. Aber sie lässt sich auch nicht verrückt machen von unerfreulichen Zeichen. Keine Ama-Taucherin hier lässt sich verrückt machen. Sie sind Vorreiterinnen der modernen berufstätigen Frau, bringen seit Jahrzehnten Familie und Arbeit unter einen Hut und genießen das Leben im Einklang mit der Natur.

Die Pandemie? "Shoganai", sagt Sanayo Matsui in der Ama-Hütte. Kann man nichts machen. Sie persönlich hat auch keine Angst davor, dass es einen bleibenden Einbruch in den Gästezahlen gibt. Sie hat ein Feld und das Tauchen - wenn man bescheiden ist, braucht man nicht mehr. Die älteste aktive Ama-Taucherin ist 85. Ein paar Jahre bleiben ihr also noch - sofern das Meer sich nicht zu sehr verändert. Alle Taucherinnen erzählen, dass die Unterwasserlandschaft an Kraft verloren habe. Weniger Seegras, weniger Fische. Und Sanayo Matsui sagt: "Das Wasser ist nicht mehr so kalt wie früher." Sie wirkt dabei so gelassen wie bei allem, was sie sagt. Aber es kann schon sein, dass hinter diesem Satz ihre einzige tiefe Sorge steckt. Das Meer ist schließlich ihr Leben.

Informationen:

Anreise/Einreise: Vorerst genehmigt die japanische Regierung Touristen noch keine Einreise nach Japan. Wer schon im Land ist, erreicht Osatsucho von Tokio aus entweder mit Auto und ab Irago mit der Isewan-Fähre. Oder mit Zug und Bus über Nagoya und Toba.

Weitere Informationen: Lunch und Teezeiten in einer Ama-Hütte kann man über die Seite osatsu.org buchen. In Osatsucho befindet sich auch ein Schrein, der den Ama-Taucherinnen gewidmet ist, ein Ama-Museum und ein Ama-Souvenirshop.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5500803
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/mai
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.