Jackson:Elvis' zweite Heimat

Jackson, Mississippi, wird neu entdeckt. Die Stadt stand lange im Schatten von Memphis und New Orleans. Nun wird sie restauriert und will ihr Image als Hauptstadt des Soul pflegen.

Jonathan Fischer

Wer Bob Harmons Drugstore betritt, der sucht normalerweise nicht nach Pflaster, Zahnbürsten oder Kopfschmerztabletten. Gut, irgendwo hinter dem Tresen hängen ein paar der Artikel, die sich auch in gewöhnlichen Drogeriemärkten finden. Doch die fallen hier kaum auf: Stattdessen leuchten dem Besucher überall Pulver, Seifen und Kerzen in grellen Rot-, Grün-, Gelb- und Violett-Tönen entgegen.

Bei genauerer Betrachtung sind diese "Curio" genannten Waren nach einem peniblen System geordnet: Einige Kerzen etwa tragen süßliche Zeichnungen von Engelswesen, Hufeisen und Dollarscheinen. Ihre Inschriften: "Harmony", "Fast Luck", "Draw Money" oder auch "Love Power". Andere wirken bedrohlicher: Was hat man etwa von "Do As I Say" oder "Send Back Evil" zu erwarten? Und für wen mag man eine schwarze Kerze mit Totenkopf anzünden?

"Das Ganze", sagt Bob Harmon, "funktioniert nur, wenn du selbst daran glaubst." In seinem weißen Kittel wirkt der Ladeninhaber wie ein approbierter Apotheker. "Florida", ruft er seiner Frau im Rückraum zu. "Bring mir das Buch über ,Uncrossing' und ,Power Control'!"

Hip-Hop statt Louis Armstrong

Eine junge Frau im Trainingsanzug hat sich ihm offenbar mit einem speziellen Beziehungsproblem anvertraut. Sie verlässt schließlich mit einer Papiertüte voller Seifen und Pulver den Laden. "Manche Kunden kommen täglich", amüsiert sich Mr.Harmon, "ganz nach der Devise' umso mehr, umso besser. Ich habe das noch niemandem geraten - aber für's Geschäft ist es nicht schlecht".

Offensichtlich haben die Bewohner seines Viertels eine gute Portion Glauben nötig. Den Häusern im historischen schwarzen Herz von Jackson, Mississippi, sieht man die jahrzehntelange Vernachlässigung an: abblätternde Farben, blinde Scheiben, Müll übersäte Brachen.

Das altehrwürdige Nobelhotel "King Edward" steht seit 1967 leer und rottet vor sich hin. Und die zentrale Farish Street wirkt trotz einiger frisch gepflasterter Bürgersteige und bunt bewimpelter Straßenlaternen so ausgestorben wie eine Kinofassade nach Drehschluss. Tatsächlich tobte hier einmal das rauschende Leben: "Wir sind das letzte überlebende Familiengeschäft in unserem Block", sagt Florida Harmon.

"Als unsere Drogerie 1954 eröffnete, tönte Musik aus allen Läden, die Menschen drängten sich in die Restaurants und Clubs, verspielten ihren Wochenlohn oder gingen Tanzen." Mrs.Harmon deutet auf den zweistöckigen Backsteinbau ein paar Türen weiter, das einstige "Crystal Palace". Dort, wo heute ein paar junge Männer in Hip-Hop-Klamotten an Billardtischen die Zeit totschlagen, hätte sie früher zum Klang der Big Bands von Louis Armstrong, Cab Calloway und Dinah Washington getanzt.

Jackson aber, mit gut 390.000 Einwohnern die mit Abstand größte Stadt sowie das wirtschaftliche und politische Herz von Mississippi, will die Vergangenheit nicht ruhen lassen. Ein ehrgeiziger Restaurierungsplan soll die afroamerikanische Geschichte am Ort wieder lebendig machen und erneut Musiker und damit Touristen und Geschäfte anziehen.

Denn in Jackson gibt es - im Gegensatz zum durchkommerzialisierten Elvis-, Beale Street- und Stax-Tourismus in Memphis - noch jede Menge zu entdecken: Zwar hinkt die Instandsetzung der historischen Häuserzeile um die Farish Street dem Zeitplan arg hinterher. Doch als Perle des Südens galt die nach dem Nationalhelden des Krieges von 1812 benannte Metropole sowieso noch nie. Dafür sorgte schon General William Tecumseh Sherman, der die Stadt während des Bürgerkriegs gleich dreimal niederbrennen ließ. Nur das Capitol, den Gouverneurssitz und das Rathaus verschonte er.

Auf den Spuren afroamerikanischer Geschichte

Erst mit dem Bluesboom kam neues Leben: In den 1920er und 30er Jahren hatte sich die Farish Street zu einer Vergnügungsmeile entwickelt, die sich mit den Pendants in Memphis und New Orleans messen konnte. Einige Bronzeplaketten vor dem Alamo Theatre, dem einstigen Theater für Afroamerikaner in Jackson, erinnern an die Lokalmatadore: Von Bluesmann Sonny Boy Williamson bis zur Soul-Lady Dorothy Moore.

Das 1996 renovierte Theaterhaus allerdings öffnet bisher nur sporadisch seine Türen - etwa zum "Apollo Talent Search", der eine alte Tradition wieder aufnimmt und heute statt staubiger Bluessänger aus dem Delta junge 50Cent - und Mary J.Blige-Epigonen auf die Bühne bringt.

Wer in der Farish Street nach der schwarzen Geschichte Jacksons sucht, der findet neben zugenagelten Fensterhöhlen ein Beerdigungsinstitut, einen Blumenladen, einen Fisch-Supermarkt und landet irgendwann zwangsläufig im "Peaches Café" vor einem gewaltigen Plastikteller mit Fried Chicken, Collard Greens und Corn Bread. Rundum zerschlissene Kunstledersessel und bunte Plastikdecken. Aus der Jukebox dringen alte Southern Soul-Schlager.

"Elvis Presley", raunt ein Typ mit Schnauzbart und Stetson, "hat diesem Ort mehr zu verdanken als Memphis. Die Leute sind der Jobs wegen weggezogen. Aber unser Blueserbe ist einfach stärker". Jesse Robinson ist einer der wenigen Musikveteranen, die noch hier leben.

Er selbst habe, so erzählt der weißhaarige Afroamerikaner, einst noch mit Elmore James Gitarre gespielt. Dann erlebte er, wie die wohlhabenderen Nachbarn nach der Aufhebung der Rassentrennung in die weißen Viertel zogen und die Farish Street zum Treffpunkt von Fixern und Prostituierten verkam.

1978 hob Robinson den legendären Subway-Club aus der Taufe: Hier trafen sich Musiker und Eingeweihte nach Mitternacht im Keller eines verlassenen Hotels. Eine ähnlich verschworene Atmosphäre bietet heute nur noch das "Queen Of Hearts" am Martin Luther King Drive, wo sich die schwarze Nachbarschaft zu Juke Joint-Parties und Live-Blues trifft.

Hauptstadt des Südstaatensoul

Erst vor wenigen Jahren, sagt Robinson, habe der Gouverneur das Blueserbe von Mississippi anerkannt und Geld für dessen Bewahrung bewilligt: "Jetzt hoffen wir, dass das neugebaute Convention Center Downtown ein bisschen Leben in die Innenstadt pumpt."

Wenn Jackson als heimliche Hauptstadt des Südstaatensoul gilt, dann vor allem wegen eines starken lokalen Radiosenders. WMPR verschafft nicht nur lokalen Blues-, Soul- und Gospelstars Gehör. Der Sender begreift sich auch als verlängerter Arm der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre. Kein Wunder: WMPR-Betreiber Charles Evers ist der Bruder des 1963 vom Ku Klux Klan ermordeten Bürgerrechtsaktivisten Medgar Evers.

Wenn er nicht im Sendestudio sitzt, dann überwacht er den Restaurantbetrieb der "E&E Lounge" gleich um die Ecke. Freundlich aber autoritär klopft er dem einzigen weißen Gast in seinem Laden auf die Schultern: "Willkommen und probier unbedingt den gebackenen Wels!"

An den Wänden hängen Fotos, die Evers in Gesellschaft seiner einstigen Verbündeten Martin Luther King, Robert und John F.Kennedy, bei der Amtseinführung als erster schwarzer Bürgermeister Mississippis und im Wahlkampf um den Gouverneursposten 1971 zeigen.

"Wir haben auf dem Papier viel erreicht", sagt der bullige Politiker. "Aber der Kampf, Afroamerikaner in wichtige öffentliche Ämter zu wählen und damit an der Macht teilhaben zu lassen, dauert bis heute an." Aus diesem Grund annonciert sein Sender neben Gospelgottesdiensten, "Blues Battles" und "Mother Day Picnics" auch alle Kampagnen, die für die schwarze Community von Belang sind.

Von der Restauration des verwahrlosten Ghettos im Herzen von Jackson bis zum jährlichen "Medgar Evers Homecoming Concert": "Southern Soul", sagt Evers, "hat in den 1960er Jahren die Marschhymnen der Protestierer vorgegeben. Er spiegelt das Lebensgefühl der Menschen hier, ihre Geschichte."

In Jackson lassen sich auf engstem Raum sowohl die Erfolge als auch die unbeabsichtigten Flurschäden der Bürgerrechtsbewegung beobachten: Heute hat Mississippi mit 36 Prozent nicht nur den höchsten afroamerikanischen Bevölkerungsanteil aller US-Staaten, sondern auch die meisten schwarzen Amtsträger.

Schuhe putzen für die Stars von gestern

Das macht sich auch in der Kulturpolitik bemerkbar: Zwei Straßen nördlich vom Alamo Theater betreibt eine vom Staat Mississippi unterstützte Bürgerinitiative in einer ehemaligen Schule das Smith Robertson Museum & Cultural Center: Mag das benachbarte Glasscherben-Viertel noch so trostlos wirken - die Dauerausstellung über das Leben und die Geschichte der Afroamerikaner in Mississippi erzählt eine alternative Geschichte: Folk-Art-Skulpturen, gemalte Musiker-Porträts, Quilts und historische Fotos räumen selbst bei einem flüchtigen Durchgang mit dem Vorurteil auf, afroamerikanische Kultur beschränke sich auf den Blues.

Wer die ausgestellten Artefakte und Bilder mit erlebter Geschichte füllen will, der lässt sich am besten in Riff Dixons Friseurladen auf der Farish Street die Haare schneiden. Hier stehen noch die schmiedeeisernen Schuhputzbänke aus den 1940er Jahren. Mr.Dixon sitzt in zerrissenem Kittel vor einem fast ebenso alten Fernseher, schaut Baseball und haut bei Bildstörung - sie tritt leider alle paar Minuten ein - auf den Wackel-Kasten.

"Ich bin pensioniert," knurrt der alte Mann, "also schicke mir bitte keine neuen Kunden". Dann erzählt er doch: von Typen wie Nat King Cole, Duke Ellington oder Count Basie, die sich vor einem Auftritt im benachbarten "Crystal Palace" hier zumindest die Schuhe putzen ließen. "Vergiss nicht Medgar Evers", unterbricht ihn Mrs.Harmon aus dem Drugstore nebenan.

"Ich habe ihn hier noch am letzten Tag seines Lebens gesprochen. Als er mir ein hinter ihm herfahrendes Polizeiauto zeigte, meinte ich: 'Schön, vielleicht beschützen sie dich' - aber insgeheim wussten wir, dass eher das Gegenteil der Fall war. Am selben Abend hörte ich die Schüsse aus dem Nachbarhaus."

Riff Dixon und Florida Harmon sind sich sicher, dass Evers nicht umsonst starb. "Der Mord brachte die Bürgerrechtsbewegung erst richtig in Gang". Mrs.Harmons Anstellung in der Bibliothek des gemischtrassigen Milsaps College, das Studium von Mr.Dixons Kindern - man dürfe diese Errungenschaften nicht unterschätzen. "Die Jugendlichen heute nehmen das alles für selbstverständlich".

Später am Abend im "Blues Café", dem neuesten Nachtclub in Jackson. Ein bluesbegeisterter weißer Anwalt hat eine baufällige Villa in unmittelbarer Nachbarschaft des Capitols aufgekauft, eine Bar daraus gemacht und damit neben dem strahlend weißen Regierungssitz ein wenig Mississippi-Delta-Dreck etabliert. Es riecht nach Bratfett und Qualm. Hier gilt das Rauchverbot der feineren Restaurants noch nicht. Von der Bar am einen Ende bis zur Bühne an der anderen trinken alle das gleiche Dosenbier - nur die Kleiderordnung trennt die Rassen: Schwarze Paare laufen im Sonntagsornat ein, die Männer in Anzug mit Krawatte, die Frauen grell geschmückt. Ein paar Jugendliche haben sich mit Melonen und Goldketten herausgeputzt.

Als Lokalmatador Nolan Struck die Bühne betritt, ist es bereits so heiß, dass das Kondenswasser von den Wänden tropft. Strucks leidenschaftliches Falsett erschafft eine Sorte Soul, die schmutziger und verzweifelter klingt als alle Hits der aktuellen Rhythm'n Blues Charts. Der Sänger hat die ersten Akkorde eines alten Bobby Blue Bland-Songs angestimmt: "You know how it feels, you understand/what it is to be a stranger/in this unfriendly land..." Ein Dutzend schwarze Pärchen schieben über die Dielen, bewegen die Lippen synchron zum Gesang. Sie kennen den Text seit langem auswendig.

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