Matera in Italien:Vom Elendsquartier zur Goldgrube

Blick auf die italienische Stadt Matera bei Sonnenuntergang

Die Häuser von Matera stapeln sich wie Schuhschachteln. Vor die Höhlen haben die Bewohner weitere Räume und Fassaden gebaut.

(Foto: Luca Micheli/Unsplash)

Lange Zeit waren die Höhlenwohnungen von Matera verlassen. Jetzt sind sie eine der Attraktionen der Europäischen Kulturhauptstadt. Nur Einheimische trifft man dort kaum.

Von Helmut Luther

Pio Acito findet, nun müsse es genug sein, ihm jedenfalls reicht es. Am frühen Morgen kniet der 64-jährige Architekt vor den Gemüsebeeten im winzigen Garten seines Hauses am unteren Rand der Sassi und jätet Unkraut. "Hier wächst alles", sagt Acito und zeigt stolz die Kapern, die wild aus Felsritzen ragen und deren Früchte er ebenso ernten wird wie die eines Feigenbaumes, der sich an einer Felswand schief dem Licht entgegenreckt. Alles wunderbar - wären da nicht die vorbeiflanierenden Touristen, die ein ruhiges Arbeiten laut Acito unmöglich machen. "Bitte respektieren Sie die Privatsphäre!", hat er auf ein Schild an seinem Gartentor geschrieben. Offenbar vergeblich. "Nicht wenige benützen meinen Garten als Klo", klagt Pio Acito.

Sassi, Felsen, werden die schon in der Jungsteinzeit bewohnten Höhlen von Matera genannt, dieser besonderen Stadt in der süditalienischen Region Basilikata. Über dem Wildbach Gravida stapeln sich wie Schuhschachteln die würfelförmigen Sassi - aus Tuffstein errichtete Häuser, hinter denen sich im Berginneren labyrinthische Wohnkomplexe verbergen. Früher lebten hier Mensch und Tier in Schmutz und Elend zusammen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Sassi-Bewohner in Neubauten umgesiedelt - oben über der Abbruchkante, wo seit dem Mittelalter die heutige Altstadt, das Centro storico, entstanden war.

Während die Sassi allmählich verfielen und die Einheimischen froh waren, dem Elend entronnen zu sein, wurde die Höhlenstadt von der Filmindustrie entdeckt. "Dort standen die Kreuze von Golgota, als Mel Gibson die 'Passion Christi' drehte", sagt Pio Acito und zeigt auf den von Höhlen durchlöcherten Hügel auf der gegenüberliegenden Talseite.

1993 wurden die Sassi zum Weltkulturerbe, in diesem Jahr ist Matera Europäische Kulturhauptstadt. Noch spielt sich das Leben weitgehend in der Oberstadt ab, im Centro storico, wo es Geschäfte, Bars und hübsche Plätze gibt. Aber in den Sassi bewegt sich etwas. Pio Acito, der oben zur Welt kam, kehrte bereits Ende der Achtzigerjahre zurück, andere folgten seinem Beispiel. "Tuff ist ein ausgezeichneter Dämmstoff. Im Winter brauche ich mein Haus kaum zu heizen. Im Sommer hingegen habe ich es angenehm kühl", sagt der Architekt.

Während Acito unter den zunehmenden Touristenzahlen in seinen Sassi leidet, versucht Salvatore Adduce, noch mehr Gäste nach Matera zu bringen. Mit einer Million Besuchern rechnet der Präsident der Stiftung Matera 2019 für das laufende Jahr. Er sitzt in seinem Büro in einem aufgelassenen Kloster im Stadtzentrum. "Es war ein langer Weg", sagt Adduce. Niemand habe anfangs geglaubt, dass sich das kleine süditalienische Nest gegen Konkurrenten wie Venedig und Siena durchsetzen könnte. "Als unser Traum im Oktober 2014 wahr wurde, haben wir eine Woche lang gefeiert", sagt Adduce. Matera stelle ein Vision für die Zukunft dar. "Unsere Stadt zeigt, wie umwelt- und ressourcenschonend gebaut werden kann."

Was der Präsident damit meint, wird einige Straßen weiter klar. "Ars Excavandi" heißt eine von vier großen Dauerausstellungen, die im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres gezeigt werden. Auf dem Weg zum Ausstellungsort, dem Archäologiemuseum Ridola, bilden die Banca d'Italia mit ihren weißen Marmorsäulen sowie die "Kirche des Fegefeuers" mit in Stein gehauenen Totenschädeln am Eingang eine kontrastreiche Nachbarschaft.

Die von Pietro Laureano, Urbanist und Uno-Beauftragter für Bewässerungstechnik, konzipierte Ausstellung zeichnet den Weg der Menschheit seit der Sesshaftwerdung nach. Man erfährt, dass in den ältesten Städten überall ähnliche Lösungen wie in Matera gefunden wurden, um das kostbare Wasser zu nutzen und dem regionalen Klima angepasste Wohnräume zu bauen. Insofern ist das Beispiel der seit der Jungsteinzeit bewohnten Höhlenstadt tatsächlich eindrucksvoll.

"Ein genial einfaches System", nennt Mauro Acito die Sassi mit ihren ausgeklügelten Wasserspeichern und Kanälen. Der junge Mann, ein entfernter Verwandter des Architekten Pio, arbeitet bei "Matera 2019" mit. Vom Palazzo Ridola sind es nur wenige Schritte hinüber zum Palazzo Lanfranchi an der Piazza Pascoli. Acito stemmt ein hölzernes Tor im Erdgeschoss auf, dann geht es über Steinstufen unter die Erde.

"Wir brüllten vor Freude"

Links und rechts zweigen Gänge und weitere Treppen zu Höhlen mit Kuppeldecken ab. Am jetzt trockenen Grund einer kegelförmigen Zisterne zeigt Acito dunkle horizontale Striche im gelben Tuff - bis dort reichte einst das Wasser. An der Decke klafft ein rundes, mannsdickes Loch: "Die Öffnung für das Regenwasser, das auf Dächern und Plätzen gesammelt und über Ziegelsteinrohre sowie in die Felsen gehauene Kanäle hierher geleitet wurde." Betastet man die porösen, mit grünen Schimmelflechten überzogenen Wände, bleibt an den Fingern ein muffiger Kellergeruch haften.

Etwa 1000 solcher Zisternen soll es in den Sassi geben, erzählt Mauro Acito, als er wieder zurück an die Oberfläche stapft. "Noch immer werden neue entdeckt." Auf der Piazza Vittorio Veneto bleibt er stehen und klopft mit dem Fuß auf die am Boden verlegten Steinplatten: "Darunter liegen die Reste eines Turmes. Als man neue Häuser errichtete und die Piazza vergrößerte, wurde das alte Quartier überbaut."

Wie viele andere junge Einheimische ist Acito wegen mangelnder Perspektiven in den Norden gezogen. "Als die Ernennung zur Kulturhauptstadt bekannt wurde, war ich über Skype dabei, zusammen mit Freunden, die sich aus ganz Europa zugeschaltet hatten. Wir brüllten vor Freude." Nun möchte er in Matera bleiben und mit anderen Rückkehrern in den Sassi ein Museum für moderne Kunst eröffnen.

Etliche Höhlenwohnungen stehen nämlich immer noch leer, manche wirken einsturzgefährdet. Doch es wird eifrig renoviert. Am schönsten sind die Sassi aus einiger Distanz, etwa frühmorgens auf einer Terrasse an der Piazza Vittorio Veneto. Man schaut über ein Gewirr ineinander verkeilter eckiger Klötze, die sich die steile Bergflanke Richtung Gravidafluss hinunterziehen: Gebleichte Ziegeldächer, verwaschene Tuffsteinmauern, kein Gebäude gleicht dem anderen. Dazwischen Treppen, Piazze und schlauchartige Durchgänge. Sobald die Sonne über die graue Felskulisse streicht, nimmt diese ein flammendes Rot an.

In den Sassi gibt es keine Autos - sieht man von Kleintransportern ab, die zur Versorgung der Hotels über die schräg zum Hang verlaufenden Hauptgassen rumpeln. Auf speckigen Stufen geht es hinunter, vorbei an herausgeputzten Häuschen mit Tonvasen vor dem Eingang, in denen Oleander wächst, Reben ranken an Steinmauern, Katzen dösen eingerollt auf Fenstersimsen. Läden, Bars, Ferienwohnungen und freskenbemalte Höhlenkirchen säumen die Gassen.

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In die schmalen Gassen von Matera kommt man nur mit kleinen Fahrzeugen.

(Foto: Saverio de Giglio/imago)

Man verirrt sich leicht im fein verästelten Geäder kleiner und kleinster Durchschlupfe, sobald man die Hauptwege verlässt. Schilder weisen den Weg zu den wenigen Hotels in den Sassi. Etwa zum Sextantio, einem Hotel, in dem sich die Gästezimmer in kleinen Höhlen um die imposante Haupthöhle scharen. Das Sextantio beteiligt sich am Kulturhauptstadt-Projekt "Matera Alberga / Gastfreundliche Kunst".

Deshalb können nicht nur Hotelgäste das Werk "Höhlen der Zivilisation" der Performance- und Installationskünstlerin Georgina Starr hören und sehen. Man sitzt auf einem Schaffell in der Hauptgrotte des Hotels, Kerzenlicht wirft zuckende Schatten auf die Wände, während im offenen Kamin Holzscheite brennen. Dabei umklammert man einen runden Stein, den ein Hotelmitarbeiter zuvor überreicht hat, ohne zu erklären, warum. Unterdessen erzählt die britische Künstlerin über Lautsprecher vom Leben in der Urzeit, die irgendwie auch die Vergangenheit des Zuhörers ist.

Anschließend hockt man draußen auf einer Holzbank zusammen. Vor den Höhlenzimmern, die mit renovierten Bauernmöbeln und frei stehenden Badewannen eingerichtet wurden, sitzen die Hotelgäste. Sie blicken dem versiegenden Strom der Tagesbesucher nach. Während sich der Himmel grau färbt, segeln Schwalben durch die Fensteröffnungen verlassener Höhlenwohnungen, wo ihre Nester kleben.

Einheimische, die dort nicht arbeiten, trifft man in den Sassi kaum. Schon gar nicht die alten Männer, die sich abends auf der Piazza Vittorio Veneto in Grüppchen versammelt haben. Die Beine gespreizt, die Arme vor den Bauch gestreckt, blättern einige im Eiltempo durch die Gazzetta del Mezzogiorno, während sie mit einem Ohr den Diskussionen der anderen folgen. Fragt man die Alten nach den Sassi, will sich keiner auf ein Gespräch einlassen, stattdessen erntet man ein ironisches Grinsen. Soll wohl heißen: "Nur Touristen finden die Steinhaufen interessant!" Aber nichts spricht dagegen, dass nun die jungen Bewohner Materas die Sassi als Goldgrube entdecken.

Reiseinformationen

Anreise: Mit dem Flugzeug am besten nach Bari, von dort in einer Stunde mit dem Auto nach Matera.

Übernachten: z. B. im Hotel Sextantio in den Höhlen der Sassi, DZ ab ca. 300 Euro pro Nacht, Tel.: 0039/0835/33 27 44, legrottedellacivita.sextantio.it; Hotel San Domenico im CentroStorico, zwei Gehminuten von der Piazza Vittorio Veneto am Einstieg zu den Sassi, DZ ab 150 Euro pro Nacht, Tel.: 0039/0835/25 63 09, www.hotelsandomenico.it

Arrangement: Studiosus hat mehrere Studienreisen nach Apulien im Programm, die auch nach Matera führen, z. B. die Reise "Apulien - Trulli und Castel del Monte", ab 1475 Euro, inkl. Flug, Rundreise, Hotel und Reiseleitung. Oder eine Apulien-Basilikata-Reise, auf der die Gäste drei Nächte in den Sassi von Matera übernachten, ab 2465 Euro, www.studiosus.com

Tourismusbüro Matera: www.prolocomatera2019.it

Kulturprogramm Matera 2019: www.matera-basilicata2019.it

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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Blick auf Matera, eine der beiden europäischen Kulturhauptstädte 2019

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