Italien:In Brixen liegt Südtirols Seele

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Blick auf den Dom in der Innenstadt von Brixen. (Foto: mauritius images)

Renaissance und Barock, Palmen und Schnee, Bischofsgärten und Weinberge: Die Alpenhauptstadt 2018 lebt seit jeher von Gegensätzen.

Von Dominik Prantl

Brixen ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Josef Gelmi sagt das selbst, so ähnlich jedenfalls. Zumindest kommt auf die Frage, ob Brixens Vergangenheit tatsächlich größer ist als seine Gegenwart, nur ein einziges Wort, und das sehr deutlich: "Ja!"

Josef Gelmi hat am Priesterseminar gewartet, einem Ort der Bildung und des Wissens, was hervorragend passt. Denn Gelmi ist so etwas wie ein Gedächtnis der Stadt. Er war von 1973 bis 2007 Professor für Kirchengeschichte an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Brixen; seit 1998 ist er Präsident des Diözesanmuseums. Er hat in seiner Heimat zu viele Preise und Ehrungen erhalten, um sie hier alle aufzulisten, und außerdem diverse Bücher zu Tirols Kirchengeschichte und über Brixen geschrieben. Kurz: Er kennt jeden Stein in Brixen. Samt dem Jahr, in dem er verlegt wurde.

Wer mit Gelmi durch die Brixener Altstadt geht, tut das möglicherweise in einem Tempo, das man von einem Herren Jahrgang 1937 nicht unbedingt erwarten würde. Pfarrkirche, Bischofskirche, Frauenkirche, Brixens Sakralgebäude im Sauseschritt. Mal legt er einen Zwischenstopp im romanischen Kreuzgang ein, mal im Jahr 990, als der Bischofssitz von Säben nach Brixen verlegt wurde. Die Münsteranlage geht auf das 10. Jahrhundert zurück, so viel bleibt hängen. Dort die Hofburg, "tolle Hochzeit zwischen Renaissance und Barock", sagt Gelmi, und da die Pfarrkirche mit ihren gotischen Spitzbögen. Er weiß, in welcher Wohnung Papst Benedikt und dessen Privatsekretär Georg Gänswein während ihres Urlaubs vor einem Jahrzehnt logierten und, selbstverständlich, wann die weltliche Herrschaft der Bischöfe, die Brixen letztlich angelegt hatten, endete, nämlich 1803. Er hat auch den Schlüssel für die leider nicht öffentlich zugängliche Bibliothek im Priesterseminar, wo es wirklich noch nach Büchern riecht. Manchmal sagt er nur: "Das steht auch in meinem Reiseführer." Da steht dann zum Beispiel, dass Brixen nach 1803 von Adligen und Hofbeamten verlassen wurde und zu einer Provinzstadt verkam.

Menschen wie Gelmi sind nicht nur deshalb wichtig, weil sie Zusammenhänge erklären können, statt nur Bruchstücke hinzuwerfen, sondern auch deshalb, weil in ihren Sichtweisen etwas wohltuend Altmodisches mitschwingt. Sie bedienen sich nicht der kaum erträglichen Vermarktungsprosa, die gerade dieser Tage, wenn die Urlauber von nördlich des Brenners gerne ihre Südtiroler Seele bei Kastanienmousse und Törggelen entdecken, noch einmal eine neue Blüte erfährt. Die Gelmis dieser Welt sind glaubwürdig.

Also, Herr Gelmi, bedauern Sie die touristische Entwicklung?

Gelmi sagt: "Nein. Dafür ist jetzt ja Leben hier."

Er weiß ja noch allzu gut, wie das war, als er 1973 von seinem Studium der Theologie und Kirchengeschichte aus Rom zurückkehrte. In Rom hatte er mit Führungen für deutsche Touristen Geld verdient. Aber in Brixen? "Hier war alles ausgestorben." Er hat sich die Haltung jener bewahrt, die ihre Heimat lieben, ohne sie zu verklären. Für ihn ist Brixen vor allem eine gemeinhin unterschätzte Kunst- und Kulturmetropole, der es noch nie an Polaritäten mangelte: Klerus und Laien, Renaissance und Barock, alte Hofburg und daneben der futuristische Bau der Tourismusinformation. Als "vorbildliche Schlüssel-Destination zwischen Stadt und Berg" wurde Brixen vom "Verein Alpenstadt des Jahres" zur Alpenhauptstadt 2018 ernannt. Manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Brixen in Kombination mit der Plose, dem 2576 Meter hohen Hausberg, inzwischen sogar zu viele Gegensätze bieten soll, als es einem Ort mit 22 000 Einwohnern gut tut. Im südlichen Teil des Domplatzes, "dem schönsten Platz in Tirol", bleibt Gelmi stehen, vor einer kleinen Anlage mit Palmen, Lavendel, Agaven, Olivenbaum. Gelmi meint: "Ein bisschen Toskana. Das hat man absichtlich so gemacht. Unten Palmen, oben Schnee."

Einige sehen in Brixen ja gerne eines dieser Zwitterwesen aus mediterranem Lebensgefühl und alpinem Flair, aber wer sich mit Einheimischen unterhält, stellt schnell fest, dass diese Schnittstelle weiter südlich liegt, in Bozen etwa oder in Meran. Dafür ist Brixen die südtirolerischste aller Städte, eine, die nach der Säkularisation unter österreichische, bayerische und schließlich italienische Herrschaft geriet und sich heute ebenso über das Umland wie über das Stadtzentrum definiert. Drinnen Hofburggarten, draußen Weinberge.

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Das Weingut Pacherhof, das sich seit seiner Gründung im 12. Jahrhundert in Familienbesitz befindet, liegt zum Beispiel nur vier Kilometer von der Altstadt entfernt, quasi fußläufig. Der Weg führt ein gutes Stück am Wasser des Eisack entlang und zu einem Grundprinzip der Gegend: Sie hat sich gewandelt, ohne ihre Seele zu verlieren. Zwar stehen heute hinterm Pool des Hotels die Rebstöcke, und über gemauerte Terrassen zieht sich der Wein den Hang hinauf, doch das war nicht immer so. "Wein haben wir hier erst seit etwa 1840. Zuvor wurde vor allem klassische Landwirtschaft betrieben, mit Vieh und Obst", sagt Katharina Huber, die das Weingut gemeinsam mit ihrem Bruder führt.

Huber spricht von "vielen jungen Winzern", die das Eisacktal an beiden Talseiten bewirtschaften. Die schon alleine wegen der Berglandschaft keine großen Mengen produzieren - am Pacherhof sind es etwa 120 000 Flaschen im Jahr - aber deren Weine dafür alle einen besonderen Charakter hätten. Was wahrscheinlich auch mit der Topografie zu tun hat. Huber redet von "säurehaltigen Weinen, weil wir warme Tage und kalte Nächte haben", und von deutschen Weinsorten, Riesling, Müller-Thurgau oder Kerner etwa, die sich hier wohlfühlen. Sie erzählt von ihrer Mutter, die in den Siebzigerjahren damit begann, das Gastgewerbe zu professionalisieren, indem sie neben Wein auch Essen zum Törggelen servierte. Und je länger sie redet, desto mehr versteht man, weshalb so viele Autos - die meisten davon mit deutschen Kennzeichen - vor dem Hof parken.

Zurück in Brixen steht man an den Verkaufsbuden am Pfarrplatz, dort, wo die Kirche auf den Kommerz trifft und Bio-Apfelringe, Cabernet-Wein, Trüffelöl und Wildschweinspeck angeboten werden. Josef Gelmi hatte gesagt: "Die gab es hier auch schon im 19. Jahrhundert." Manchmal ist Brixen schlicht noch das, was es einmal war.

© SZ vom 04.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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