Es dauert, bis dieser Mann zum ersten Schwung ansetzen kann. Als er aus dem Sessellift aussteigt, der mit weißen Bannern für Gucci wirbt, klopft ihm ein Pistenarbeiter auf die Schulter - mit ihm muss er erst mal ein Schwätzchen halten.
Oben an der Pomedes-Hütte, wo die hellen Felsen der Dolomiten in der Morgensonne strahlen, wird er zu einem Dutzend Selfies gebeten, für jedes einzelne lacht er herzlich. Eine Frau knipst und sagt triumphierend: "Il re di Cortina." Der König von Cortina - das ist Kristian Ghedina, der italienische Abfahrer, der an fünf Olympischen Spielen teilgenommen hat und vor allem auch deshalb berühmt wurde, weil er einmal während des Zielschuss-Sprungs beim Hahnenkammrennen in Kitzbühel eine Grätsche in der Luft machte, aus reinem Übermut. Er lebt seit seiner Geburt vor 52 Jahren in Cortina d'Ampezzo.
Schon seine Mutter war hier Skilehrerin. Sie brachte auch ihrem Sohn bei, wie man sich auf zwei Brettern im Schnee bewegt. Am liebsten sei er außerhalb der Pisten gefahren, erinnert er sich, "ich hab Hindernisse gesucht, über die ich springen konnte". Im Alter von vier Jahren fuhr er zum ersten Mal die olympische Abfahrtsstrecke hinunter. Auf der hatte Toni Sailer 1956 die Goldmedaille für Österreich gewonnen.
Diese Olympischen Winterspiele waren ein Ereignis, bei dem ganz Italien mitfieberte. War das Land in der Lage, elf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein Sportfest für die Welt zu organisieren? Das halboffene Eisstadion mit hölzernen Tribünen wurde eine Ikone der Nachkriegsarchitektur. Daneben baute man eine große Kabinenbahn hinauf zur Tofana und gab ihr den stolzen Namen "Freccia nel Cielo" - Pfeil in den Himmel.
Siebzig Jahre später soll das Olympische Feuer wieder in Cortina brennen. Der Ort mit knapp 6000 Einwohnern, 1200 Meter hoch gelegen, wird gemeinsam mit Mailand die Spiele 2026 ausrichten. Was geht in einem Skiort mit ruhmreicher Tradition vor, der sich sozusagen auf den zweiten Lauf vorbereitet?
Kristian Ghedina, der sich nach seiner Skikarriere auch im Motorsport versuchte, vergleicht seinen Heimatort mit einem Sportwagen. Er sagt: "Es ist schön, wenn du dir ein schnelles Auto kaufst. Aber du musst es in Schuss halten, irgendwann braucht es einen Ölwechsel." Damit meint er: "Olympia bringt Geld, mit dem wir Cortina renovieren können - das ist dringend nötig. Viele Hotels sind in die Jahre gekommen. An Weihnachten geht es hier trotzdem zu wie im Sommer in Porto Cervo. Dann sind 50 000 Leute bei uns. Aber wir haben zu wenig Parkplätze."
Es gibt in Cortina nicht nur Berge und Pisten, sondern auch gediegenen Luxus. Der Corso Italia, die gepflasterte Fußgängerzone, führt gepflegt durch den Ort, vorbei am venezianischen Campanile. Hier werden wie zu Toni Sailers Zeiten noch Pelzträgerinnen gesichtet, in der Boutique von Christian Dior kostet ein Paar Moonboots 1190 Euro. Niemand lässt sich im Skianzug an einer Schirmbar volllaufen, man nimmt vor dem Abendessen stilvoll einen Aperitif in einer Vinothek. Kein Wunder, dass sich dieser mondäne Urlaubsort lange im Glanz vergangener Tage gesonnt hat.
"Am schlimmsten waren die Achtziger- und Neunzigerjahre", sagt Giovanni Menardi, "da waren wir auf den Lifestyle fokussiert. Inzwischen besinnen wir uns wieder auf unsere Berge." Er führt gemeinsam mit seiner Mutter das Traditionshotel Villa Argentina. Sein Großvater hat es vor dem Ersten Weltkrieg gebaut, als für den beginnenden Alpentourismus die Große Dolomitenstraße von Bozen nach Cortina gebaut wurde. Das Argentina gehört zu den wenigen Hotels am Ort, die nicht irgendwann von den einheimischen Besitzern für viel Geld an Fremde verkauft wurden. Viele Ampezzaner ruhten sich auf dem olympischen Lorbeer aus, Menardi beschreibt es so: "Wir waren müde."
Nun mehren sich Zeichen des Erwachens. Vor den Skiweltmeisterschaften, die hier im vergangenen Winter stattfanden, wurde die "Freccia nel Cielo" umgebaut, eine moderne Kabinenbahn ersetzte die alte Großgondel. Diesen Winter ging eine neue Seilbahn in Betrieb. Die "Skyline" ist 4,6 Kilometer lang, hat 18 Millionen Euro gekostet und verbindet Cortina mit dem Skigebiet am Lagazuoi. Langsam schweben Zehnerkabinen durch das Dolomitenpanorama, die Fahrt dauert 17 Minuten.
Neue Bahnen, modernere Hotels: Olympia soll als Projektbeschleuniger wirken
"Für diese Bahn haben wir elf Jahre gebraucht", sagt Menardi und stöhnt. Das lag nicht nur an den Einsprüchen der Naturschützer, sondern auch an den Strukturen in Cortina. Der Verbund der Lifte und Bergbahnen setzt sich aus acht Gesellschaften zusammen. "Es dauert, bis man gemeinsame Entscheidungen treffen kann", sagt Marco Zardini, der Präsident des Verbunds, "jeder glaubt, er hat die beste Idee."
Olympia soll als Projektbeschleuniger wirken. Für die Spiele ist noch eine weitere Seilbahn geplant. Sie soll Sportler und Zuschauer von einem großen Parkhaus am Ortsrand ins Skigebiet bringen. Aber sie soll kein weiteres Kapitel in der Geschichte des olympischen Gigantismus schreiben. Zardini sagt: "Die Leute vom Olympischen Komitee haben eine Kapazität von 3500 Personen pro Stunde gefordert. Wir haben sie heruntergehandelt auf 2800 - diese Bahn soll nicht nur 15 Tage sinnvoll sein, sondern 15 Jahre funktionieren."
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Am Ende der Skyline-Bahn öffnet sich ein weites Gebiet. Hier laufen noch alte Wadenkiller-Sessellifte ohne Sturmhaube oder anderen Komfort. Aber nach ein paar Abfahrten wird der Reiz dieser Pisten verständlich. Sie wurden nicht am Computer entworfen, sondern schmiegen sich in sanftes Gelände. Charakteristische Felsen tragen bizarre Schneekappen. In den Hütten essen italienische Familien zu Mittag.
Im Rifugio Averau serviert eine freundliche Kellnerin Radicchio-Flan und schwarze Ravioli mit Kürbis. In der Baita Resch gibt es Millefoglie - kunstvoll geschichtete Blätterteigtörtchen - mit Steinpilzen und Parmesancreme. Küchenchef Ivan Resch hat 15 Jahre lang eine Konditorei in Cortina geführt. Dann übernahm er diese Hütte und renovierte sie. Mit seiner Familie wohnt er im ersten Stock. Wenn er gegen 15 Uhr in der Küche fertig ist, schnallt er die Ski an und fährt bis Liftschluss mit seiner Tochter. "Irgendwann ist Corona vorbei, und Olympia kommt", sagt er.
Cortina liegt in den Dolomiten, gehört aber nicht zu Südtirol, sondern zum Veneto. Dieser Umstand bereitet Andrea Ronchetti Sorgen. Er ist der Direktor des Grandhotels Cristallo. Das bietet seit 1901 einen Logenplatz über Cortina. Von den Balkonen, vom Speisesaal und aus dem Spa blicken die Gäste auf die markanten Berge, die den Ort wie ein großes Amphitheater umgeben. In den Sechzigerjahren wurde hier "Der rosarote Panther" gedreht - jener Film, der Peter Sellers an der Seite von Claudia Cardinale zum Weltstar machte.
Trotz dieses Glamours betrachtet der Hoteldirektor Südtirol als Konkurrenz. Weil die dortigen Skigebiete ein Wettrüsten mit komfortablen und schnellen Liften veranstalten. Ganz zu schweigen von Österreich, wo es auch respektable Luxushotels am Pistenrand gibt. Die Cristallo-Gäste müssen mit dem Shuttle zur Faloria-Gondel, die breite Carving-Pisten am 3221 Meter hohen Monte Cristallo erschließt. Aber die Seilbahn ist in die Jahre gekommen, wirkt wie zu Toni Sailers Zeiten. "In Cortina brauchen wir in den nächsten vier Jahren große Veränderungen", sagt Ronchetti. "Wir Italiener sind ja nicht für gutes Zeitmanagement bekannt, wir warten gern bis zum letzten Drücker. Aber wir können, wenn wir wollen." Sein Hotel wurde mittlerweile aber von einem britischen Hedgefonds gekauft. Man wolle es nun fit machen "für eine neue Generation von Luxusreisenden, die größere Zimmer und mehr Komfort verlangen", wie Ronchetti sagt. Ansonsten macht der Direktor den Eindruck, als sei er lediglich Zuschauer in diesem Prozess.
Kristian Ghedina geht nach der letzten Abfahrt zu Fuß den kurzen Weg nach Hause. Er weiß noch nicht, ob er für das nächste Großereignis in seiner Heimat wieder als Botschafter unterwegs sein wird. Die Olympischen Spiele in Peking sind die ersten seit 30 Jahren, zu denen er nicht hingefahren ist. Doch darüber ist er nicht traurig. "In vier Jahren kriegen wir endlich wieder Skirennen an einem richtigen Ort in schönen Bergen", sagt er und lacht.
Anreise: Mit dem Zug über den Brenner bis Franzensfeste; dort mit dem Regionalzug bis Toblach und mit dem Bus nach Cortina d'Ampezzo.
Unterkunft: Hotel Villa Argentina, Dreisternehotel direkt an der Piste, einige Zimmer mit eigener Sauna; DZ mit Frühstück ab 93 Euro, hotelargentinacortina.it, Tel.: 0039/0436/5641. Traditionellen Luxus bietet das Hotel Cristallo am Logenplatz über dem Ort mit Spa, Gourmetrestaurant, Shuttleservice, DZ mit Frühstück ab 449 Euro, cristallo.it, Tel.: 0039/ 0436/881111
Skifahren und Corona-Regeln: Der Skipass für 120 Kilometer Pisten kostet für drei Tage 179 Euro. In Hotels, Restaurants und Skiliften gilt 2 G, in den Bahnen und Liften Maskenpflicht, dolomitisuperski.com
Weitere Auskünfte: cortina.dolomiti.org