Italien-Reisen: Stadtporträt:Voll im Trento

Im norditalienischen Trento verschmilzt das Beste aus zwei Welten: Alpenländische Tugenden treffen auf mediterrane Lebensfreude.

Claudia Schuh

Michele Lanzinger steht auf einem Baugerüst und bewegt seine Hände, als dirigiere er eine Verdi-Oper. "Hier, und hier! Und schauen Sie da!", ruft er und scheint zu erwarten, dass Zuhörer die gleiche Fantasie entwickeln wie er. Besucher sehen aber nur eine neue Markthalle und den nackten Beton von Rohbauten.

Kräne ragen am Ufer der Etsch in den Himmel. Bagger wühlen im Boden. Lanzinger malt die Umrisse des neuen Wissenschaftsmuseums in die Luft und lobt die geplante Fassade des Gebäudes, die dank Fotovoltaik-Elementen Strom erzeugen soll. Mit dem gelben Helm und den Bauarbeiterschuhen wirkt Lanzinger nicht wie ein Visionär. Er hat aber bereits vor Augen, was 2012 Realität wird: ein neuer Stadtteil für Trento.

Der 53-Jährige ist Geologe, Dozent und Direktor des Naturwissenschaftlichen Museums in der Altstadt. Ihm sei es vor allem zu verdanken, sagen die Trentiner, dass am Rand des Zentrums ein futuristisches Viertel entstehe, entworfen vom Genueser Stararchitekten Renzo Piano. Lanzinger saß in den Kommissionen, die über das Areal am Fluss entschieden, auf dem bis 1999 Reifen für Michelin produziert wurden.

Piano, der Gebäude wie das Centre Pompidou in Paris und das Debis-Haus nahe dem Potsdamer Platz in Berlin schuf, arbeitet normalerweise in Tokio, New York oder London. Aber in Trento mit seinen gut 100.000 Einwohnern? "Die Vorstellung hat ihn fasziniert, einer Stadt mit großer architektonischer Tradition eine neue Form zu geben", sagt Lanzinger.

Als im 16. Jahrhundert das Tridentinische Konzil tagte, war die Stadt das Zentrum der christlichen Welt. Knapp 500 Jahre später ist Trento die Hauptstadt der Provinz Trentino. Provinziell aber wirkt das Städtchen nicht. Es ist kein gewöhnlicher Ort des Alpenraums, sondern ein sehr italienischer, der sich Extravaganzen leisten kann.

Was Schönheitskorrekturen und Wandel betrifft, sind Trentiner geübt. Sie haben schon immer gern ein bisschen Gott gespielt in ihrer Stadt. Als im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung der Fortschritt und die ersten Eisenbahnzüge am Alpenrand ankamen, zwangen die Bewohner 1858 ihren Fluss auf die andere Talseite. Damit schufen sie inmitten der Altstadt Platz für den Bahnhof, verloren aber die Etsch als prägendes Element aus dem Blick. Durch das neue Quartier gewinnen sie den Fluss zurück. "Finestra sull'Adige", Fenster zur Etsch, heißt das Großprojekt.

Spitzenplatz hinsichtlich Lebensqualität

Schon ohne das Piano-Viertel belegt Trento regelmäßig einen Spitzenplatz unter Italiens Städten hinsichtlich der Lebensqualität. Die meistgelesene Wirtschaftszeitung Italiens, Il Sole 24 Ore, kürte es 2007 zum lebenswertesten Ort des Landes, das Wirtschaftsblatt Italia Oggi 2010 zur Metropole mit der höchsten Lebensqualität aller 103 italienischen Provinzhauptstädte. Trento hat eine gesunde Wirtschaft, ein Bruttosozialprodukt, das doppelt so hoch ist wie das Palermos, und eine Arbeitslosenquote, die nach heiler Welt klingt: drei Prozent. Die autonome Provinz profitiert wie ihr nördlicher Nachbar Südtirol von Zahlungen aus Rom.

Die Dolomiten sind genauso nah wie der Gardasee

So weit zur Sicht der Statistiker. Die natürlichen Reize erschließen sich ohne Tabellenstudium: Berge und Grün umgeben die Stadt, deren Kern einem frisch geputzten Puppenhäuschen gleicht. Lokale Erzeuger verkaufen Bioprodukte, die nicht nur so heißen, sondern auch danach schmecken. Die Wege sind kurz, Studenten bewältigen fast alles mit dem Rad. Und die Dolomiten sind genauso nah wie der Gardasee.

Unter den Römern war Trento Garnisonsstadt, heute ist es ein offenes Tor zwischen den Kulturen des Nordens und Südens. Italienische Leichtigkeit und Lebensfreude vereinen sich mit nördlichem Ordnungssinn und Zuverlässigkeit. Trentiner sind im Herzen Italiener, heißt es, denken aber wie Deutsche. Anders als in Bozen, wo auf den Straßen überwiegend Deutsch gesprochen wird, beherrschen in Trento das Italienische und mediterrane Gewohnheiten den Alltag: Der Aperitivo wird direkt nach der Arbeit oder zum Auftakt des Abendprogramms bestellt; in den Bars trifft sich ein Publikum mit grauen Schläfen und Woody-Allen-Brillen wie in Rom.

Aber wenn die Ampel auf Rot schaltet, bleiben Trentiner stehen. Sie parken selten in der zweiten Reihe, und die Müllabfuhr arbeitet ohne nennenswerte Ausfälle. Will heißen: In Trento funktionieren die Dinge.

Auf der Autobahn achtlos an der Stadt vorbeizufahren Richtung Gardasee, hält Signora Franca Passardi für einen Fehler, wenn nicht für skandalös. Die 60-jährige Fremdenführerin spaziert in engen Kleidern über den hell beleuchteten Domplatz und strahlt eine Grandezza aus, die so groß ist wie ihre Brillengläser. Woanders gelebt hat die hauptberufliche Lehrerin nur während ihres Studiums in Bologna. Als Kennerin Trentos führt sie mehrmals pro Woche Besucher durch die Altstadt.

An der Nordseite des Doms deutet sie auf die Querschiffmauer, wo in der Mitte Fortuna am Rad des Schicksals dreht, an dessen Rand zwölf Gestalten aufsteigen oder abstürzen. "Das Glück kommt und geht", deutet Signora Passardi das mittelalterliche Kunstwerk, "in Trento kommt es oft und bleibt lang."

Farbenfrohe Fresken, repräsentative Bauten

In ihren hochhackigen Schuhen eilt die Fremdenführerin voraus. Vorbei am Dom und dem Palazzo Pretorio, in dem das Diözesanmuseum Altäre aus dem 15. und 16. Jahrhundert ausstellt und eine Sammlung an das Konzil erinnert. An jeder Straßenecke warten offensichtliche oder versteckte Schönheiten: "Achten Sie auf den Boden! Sehen Sie die kleinen Muscheln und Schnecken in den Steinplatten? Die Fossilien sind Millionen Jahre alt und zeigen, dass hier einst das Meer war."

Genauer gesagt: vor rund 250 Millionen Jahren. Vulkanausbrüche schufen damals Erhebungen am Grund, die zu Korallenriffen wurden. Als sich die Kontinentalplatten verschoben und das Wasser zurückwich, entstanden daraus nach sehr langer Zeit und unter großem Druck die Marmorvorkommen des Trentino. Der Ozean ist längst graue Vorgeschichte. Das mediterrane Gefühl ist geblieben.

Das tridentinische Konzil prägte das Stadtbild

Während ihre Gruppe den Marmor bewundert, der die Straßen wohnlich macht wie das Atrium einer Villa, biegt die Fremdenführerin bereits in die Via Belenzani ab. Die Prachtstraße säumen Gebäude wie der Palazzo Thun, in dem die Stadtverwaltung residiert, oder der Palazzo Geremia. Die pompöse Ausstattung seiner Stadthäuser verdankt Trento einem epochalen Ereignis des 16. Jahrhunderts: dem Tridentinischen Konzil. 18 Jahre lang, von 1545 bis 1563, tagten hier die Geistlichen, um nach der Reformation die Einheit der Kirche wiederherzustellen - ohne Erfolg.

Fürstbischof und Kardinal Bernardo Cles ließ für das Konzil die gesamte Stadt farbenfroh verzieren und repräsentative Bauten errichten. Neben Büroeingängen, Bäckerei-Schaufenstern oder an Schulhofmauern prägen jahrhundertealte Fresken das Stadtbild. Auch ein kulinarisches Vermächtnis stammt aus den Konziltagen und bereichert die Speisekarten der Gaststätten: Spinatnockerln mit Parmesan, genannt Strangolapreti.

Ein feines Lächeln huscht über Signora Passardis Gesicht, als sie übersetzt: "Auf Deutsch heißt Strangolapreti 'Priesterwürger'." Gut gemacht schmeckt das Gericht geradezu himmlisch - weniger teuflisch, als der Name vermuten lässt.

Über die Via Manci geht es zum Schloss Buonconsiglio. Sechs Jahrhunderte war es Sitz der Fürstbischöfe, die Trento nicht nur spirituell, sondern auch politisch regierten. Mit seinem Schlossgarten, den schattigen Innenhöfen, der Bibliothek Feininger, die seltene Partituren gregorianischer Gesänge verwahrt, und dem Adlerturm, der keine Greifvögel beherbergt, sondern ein bedeutendes Kunstwerk der Gotik: Ein Freskenzyklus aus der Zeit um 1400 stellt die verschiedenen Monate dar, wie sie Bauern und Herren jeweils standesgemäß durchlebten. Die einen säen und ackern, die anderen überwachen, beschützen und trinken Wein.

Die Tour endet mit einem Cappuccino am Domplatz, dem Mittelpunkt der Stadt. Kein Wölkchen traut sich, den Himmel zu trüben. Unter den gütigen Blicken der Engel und Heiligen, die einst auf die Wände ringsum gemalt wurden, sitzen Cafébesucher in der Abendsonne und trinken Spritz. Eiswürfel klimpern in den Gläsern. Dolce Vita, süßes Leben, ist hier kein Italien-Klischee, sondern Wahrheit.

Der verdoppelte Zauber

In seiner Lieblingsbar am Dom, die zum Hotel Aquila d'Oro gehört, erklärt Riccardo Bodini, welch ausgezeichneten Ruf Trento genießt. Als der heute 34-jährige Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler aus der Lombardei nach neun Jahren in den USA vorschlug, zurück nach Italien zu ziehen, war die Antwort seiner Frau und der beiden Kinder eindeutig: Bloß nicht! Berlusconi! Chaos! Bürokratie! Als er erklärte, er habe ein Angebot der Universität Trento, war der Protest vom Tisch. Die Familie fing an zu schwärmen, von der Lebensqualität, der Lage. "In 30 Minuten bist du im Winter auf der Piste", sagt Bodini. Der Monte Bondone ist der Hausberg der Stadt. Nach einem kurzen Aufstieg bietet sich ein großartiger Blick auf die Dolomiten. Bodini sagt: "Ich kann hier nicht das gleiche Angebot erwarten wie in der Millionenstadt Chicago. Aber das, was ich im Umkreis von einer Autostunde mit Verona, Bozen und dem Gardasee habe, ist unschlagbar."

Die Stille in den Semesterferien

Natürlich gibt es auch weniger begeisterte Trentiner. Zum Beispiel Vito. "Um Mitternacht kannst du hier das Licht ausknipsen", sagt der Jurastudent im 1. Semester und nippt unter gewölbten Mauern im Club 21.1 an einem Beck's-Bier. Es ist Samstag, aber es sind Semesterferien. Die meisten Studenten, die das Nachtleben sonst beleben, sind außerhalb der Stadt. Zwei Clubs sind während dieser Zeit geschlossen, einer hat ganz dichtgemacht. Das 21.1 ist die einzige Adresse, die zu dieser Stunde noch Cocktails mixt und Musik auflegt. Im Hintergrund dudeln pappsüße Schlager.

Vito träumt sich woandershin: "Einen Apero am Wasser zu trinken wäre jetzt lässig", sagt er. Die Idee kommt ihm zu spät. Viele Partygänger haben die Spätsommernacht unter dem Motto "Andare al Mare" genutzt: Wir fahren ans Meer. In Trento heißt das: Wir fahren zum Gardasee, wo in der Ferienzeit mehr los ist.

Wenn es nach Michele Lanzinger, Renzo Piano und den Stadtplanern der Gemeinde ginge, würde "Andare al Mare" bald auch bedeuten: Wir fahren an die Fluss-Promenade mit ihren Kinos, Apartments, Restaurants und Bars. Das Neubauviertel "Fenster zur Etsch" wird Trento verändern wie zuletzt vielleicht die Verbannung des Wasserlaufs aus der Innenstadt oder das Konzil zu Beginn der Neuzeit.

Museumsdirektor Lanzinger scheut den historischen Vergleich nicht. Er kennt die Bedeutung des Projekts am Fluss und sagt Trento eine wunderbare Zukunft voraus: "Künftig wird es zwei gleichwertige Mittelpunkte geben: den alten um den Dom und den neuen an der Etsch."

Kaum vorstellbar, dass sich der Zauber Trentos so einfach verdoppeln ließe. Er wirkt heute schon unendlich groß.

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