Italien:Neapels neue Schönheit

Italien: In der Metrostation Toledo ist die Fahrt mit der Rolltreppe ein Erlebnis, denn man landet in einer in vielen Blautönen schimmernden Welt unterhalb des Meeresspiegels.

In der Metrostation Toledo ist die Fahrt mit der Rolltreppe ein Erlebnis, denn man landet in einer in vielen Blautönen schimmernden Welt unterhalb des Meeresspiegels.

(Foto: mauritius images)

Das einst so verrufene Neapel macht es einem leicht, die Massen von Touristen zu umgehen und trotzdem die schönsten Kunstwerke zu sehen. Nur eines schafft der Besucher nicht: Die Stadt zu verstehen.

Von Christian Mayer

Wenn man stundenlang die Gassen von Neapel erkundet hat, vielleicht zu Fuß die vielen Stufen bis zum Castel Sant' Elmo emporgestiegen ist, um die Aussicht auf die Stadt und den Vesuv zu genießen, ist es Zeit für den Untergrund. Einfach mal stehen bleiben und staunen. Die Wunder von Neapel schrauben sich ja nicht nur in luftige Höhen, sie manifestieren sich nicht allein in den Kirchen und Palästen, sondern auch auf der Ebene der Katakomben.

Der neueste Wallfahrtsort ist die U-Bahnstation Toledo, eine zentrale Haltestelle der "Metrò dell'Arte", wie die Linie 1 auch genannt wird. Durch eine Galerie mit historischen Figuren aus der Geschichte, in der natürlich der Stadtheilige San Gennaro nicht fehlen darf, gelangt man zur Rolltreppe und damit in eine ozeanische Gegenwelt.

Man kann gar nicht anders, als beim Hinabgleiten den Hals zu recken, wie gebannt folgt der Blick dem "Crater de luz", einem horizontalen Kegel, durch den Tageslicht 40 Meter in die Tiefe fällt. Es ist wie beim Tauchen, man bewegt sich zwischen Tag und Nacht: ein Geniestreich des Lichtkünstlers und Theaterzauberers Robert Wilson; die ganze Palette der Blautöne schimmert in diesem Mosaik durch.

Naples San Gennaro repeats the ´miracle" for the May procession The confirmation of the dissolut

Die Maiprozession für den Heiligen Gennaro, bei der auch das Blutwunder im Dom von Neapel zelebriert wird.

(Foto: imago)

Der aus Barcelona stammende Architekt Óscar Tusquets Blanca hat die spektakulärste Metrostation Europas gestaltet - seit der Eröffnung 2012 bringt sie Besucher wie Einheimische dazu, für einen Moment innezuhalten, wenn man ganz unten angekommen ist. Neapel zeigt sich hier von seiner besten Seite: aufgeräumt und zukunftszugewandt.

Noch vor zehn Jahren hätte man es kaum für möglich gehalten, dass sich diese Stadt, die gegen ein Müllproblem epischen Ausmaßes und hohe Kriminalität zu kämpfen hatte, so wandeln würde - mit dem Nebeneffekt, dass man hier gar nicht mehr ins Auto steigen möchte, es sei denn, man hat Sehnsucht nach dem üblichen Hupkonzert.

Für ein verlängertes Wochenende ist Neapel, wo pralle Lebenslust, Theatralik, Katholizismus und Hochkultur eine Symbiose eingehen, wie geschaffen. Besonders an Ostern werden wieder viele Touristen unterwegs sein, sie werden die Spaccanapoli fluten, jenen schnurgeraden Straßenzug voller Devotionalien, Kitschmotive und Süßgebäck, sie werden Schlange stehen vor der "ältesten" Pizzeria der Welt (je nach Interpretation die Antica Pizzeria Port'Alba oder die Pizzeria Brandi, wo angeblich die Margherita erfunden wurde), um sich nach einer Stunde Wartezeit an einen viel zu kleinen Tisch zu quetschen. Und sie werden sich bestimmt auch noch ein paar Mal gen Himmel strecken.

Etwa auf der Piazza del Gesù Nuovo, wo sich täglich Tausende Touristen den Kopf zerbrechen, aus welchem Winkel sie die Statue der Jungfrau Maria fotografieren sollen. Man kriegt sie nicht wirklich zu fassen, die Unbefleckte auf ihrem viel zu hohen Sockel - dafür hat man in der volkstümlichen Jesuitenkirche Gesù Nuovo Gelegenheit, in Kontakt zu Heiligen, Märtyrern und Missionaren zu treten.

"Versuchen Sie niemals, Neapel zu verstehen"

Auch in diesem Gotteshaus ist die Opulenz fast mit Händen zu greifen: Als 1584 mit dem Bau begonnen wurde, war Neapel die bedeutendste Stadt des spanisch-habsburgischen Weltreichs und für einige Zeit die größte Metropole Europas, mit fünf- und sechsstöckigen Bürgerhäusern, einem florierenden Seehafen und einem Kunstmarkt, der die talentiertesten Künstler Europas anlockte.

Wer nur kurze Zeit in der Stadt ist, hat die Qual der tausend Möglichkeiten, es ist wie auf einem Basar der Sehenswürdigkeiten: eine toller als die nächste. Fast immer kann die Stadtführerin Antonella Minotta ein paar persönliche Anekdoten dazu erzählen. "Die Geschichte ist nicht wahr, aber wir glauben daran - typisch neapolitanisch", sagt die Kunsthistorikerin gern.

Italien: Der Stadtheilige Gennaro ist auch mit zeitgenössischem Antlitz präsent.

Der Stadtheilige Gennaro ist auch mit zeitgenössischem Antlitz präsent.

(Foto: mauritius images)

Beim Spaziergang vom Castel Nuovo bis zur Piazza Dante hat Minotta noch einen anderen Rat für ihre Besucher: "Versuchen Sie niemals, diese Stadt zu verstehen." Und tatsächlich: Wenn nachts um halb zwei ein Auto nach dem anderen mit immer neuen Partygängern auf die bereits total verstopfte, vor Lebenslust vibrierende Piazza Bellini vorfährt und die diensthabenden Bersaglieri (erkennbar am dekorativen Fes) keinerlei Anlass sehen, auch nur ein Mindestmaß an Ordnung herzustellen, muss man das nicht verstehen, man kann es auch amüsant finden.

Und zumindest versuchen, eine Ahnung von der Widersprüchlichkeit dieser Stadt zu bekommen, die schon so manchen Niedergang glänzend überlebt hat.

Dafür empfiehlt sich ein Besuch der Kirche Pio Monte della Misericordia, in der die Kunstsammlung einer der ältesten Bruderschaften Neapels zu besichtigen ist. Vor allem verfügt die Kirche über eines der Meisterwerke Caravaggios: "Die sieben Werke der Barmherzigkeit". Noch eines dieser Bilder, für die man den Kopf himmelwärts emporrecken muss.

Italien: Caravaggios Hauptwerk "Die sieben Werke der Barmherzigkeit" im Pio Monte della Misericordia.

Caravaggios Hauptwerk "Die sieben Werke der Barmherzigkeit" im Pio Monte della Misericordia.

(Foto: mauritius images)

Hungernde speisen, den Dürstenden zu trinken geben, die Nackten bekleiden, die Fremden aufnehmen, die Kranken und die Gefangenen besuchen, die Toten begraben: Dieses biblische Postulat der Nächstenliebe zeigt Caravaggio in einer einzigen nächtlichen Straßenszene, in der sich die Figuren - vom Totengräber bis zur liebevollen Tochter, die ihren Vater im Gefängnis mit ihrer Muttermilch nährt - fast schon auf den Füßen stehen. Typisch Neapel eben, wo das Schöne und das Hässliche direkte Nachbarn sind.

Und großes Theater, wie immer bei diesem Ausnahmekünstler in starken Hell-Dunkel-Kontrasten. Dass Caravaggio für diesen Auftrag 1607 die ungewöhnlich hohe Summe von 400 Dukaten erhielt, hat sich auch für die Auftraggeber gelohnt, ein Kreis junger Adliger, die etwas gegen die wachsende Armut in ihrer Stadt tun wollten.

Rummel vor den Promi-Kunstwerken

Um bei der Schönheit zu bleiben: Allein das Archäologische Museum lohnt die Reise. Manchmal erlebt man bei der Besichtigung zwar noch den alten Schlendrian: halb restaurierte Räume, kryptische Erklärtafeln und Besucherwege, die ins Nichts führen - aber das sind Nebensächlichkeiten angesichts der herausragenden Werke aus der Sammlung Farnese und den Ausgrabungen in Pompeji. Neuerdings gibt es sogar einen funktionierenden Audioguide.

Allerdings sollte man sich vorher überlegen, wann man etwa das Mosaik der Alexanderschlacht in Augenschein nehmen möchte: Vor den Klassikern der Kunstgeschichte herrscht der gleiche Rummel wie vor den Pizzerien. Aber Neapel ohne Massen, ohne Messen? Wäre nicht Neapel.

Zum Schluss noch ein Tipp für alle, die es etwas ruhiger mögen: Das Museo di Capodimonte, das mit Werken von Rafael, Tizian, Bruegel und den neapolitanischen Caravaggisten unbedingt zu empfehlen ist, liegt abseits der ausgetretenen Pfade, vom Park hat man einen wunderbaren Blick auf die ganze Stadt.

In manchen Sälen ist man in der Nebensaison fast alleine, sogar mit einer der anmutigsten Frauen der Kunstgeschichte, der "Antea" von Parmigianino, die nicht von dieser Welt ist.

Reiseinformationen

Stadtführung und Museen: Freie Führung mit ortskundigen Neapolitanern (kein Ticket nötig): www.napolithatsamore.org. Unbedingt zu empfehlen bei vorzeitiger Anmeldung mit Führung: das Archäologische Museum Neapel, www.museoarcheologiconapoli.it. Ein Schmuckstück ist auch die Kirche Sant'Anna dei Lombardi mit Meisterwerken der Renaissance-Skulptur, der "Beweinung des toten Christus" von Guido Mazzoni und der Sakristei von Giorgio Vasari. Aktuell wieder im Museo Capodimonte zu sehen: Caravaggios Hauptwerk "Die Geißelung Christi" (bis 14. Juli).

Schönste Aussicht: vom Castel Sant'Elmo auf dem Vomero (Anfahrt mit dem Bus), daneben die Terrassengärten des Klosters Certosa di San Martino.

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