Süddeutsche Zeitung

"Forest Therapy" in Südtirol:Mein Freund, der Baum

Lesezeit: 4 min

Rinde streicheln und barfuß gehen: Manche Menschen glauben an eine heilsame Wirkung des Waldes. In Südtirol finden sie dazu spezielle Urlaubsangebote.

Von Ingrid Brunner

Komische Gedanken, die einem durch den Kopf ziehen, wenn man zum ersten Mal barfuß im Wald unterwegs ist: Ob Rehe es wohl auch so angenehm finden, über weichen Moosboden zu laufen? Waldtherapeut Martin Kiem freut sich, wenn seine Klienten sich derart auf den Wald einlassen. Dann haben sie bereits eines der Ziele erreicht, die er mit seinem "Forest Therapy" genannten Waldspaziergang vermitteln möchte: Man schaut, spürt, riecht, lauscht, was um einen herum ist. Sprich, der so kontemplierende Spaziergänger stellt eine Naturbeziehung her. Der Trick dabei sei es, langsam zu gehen, sagt Kiem. "Je schneller wir gehen, desto mehr Gedanken haben wir im Kopf." Das Gedankenkarussell lasse sich also recht einfach ausbremsen: "Die Langsamkeit bringt uns ins Hier und Jetzt."

Hier und jetzt steht eine Gruppe Menschen in einem herbstlichen Bergwald bei Hafling in Südtirol. Auf 1230 Metern Höhe bilden sie einen Kreis und erzählen, was sie sich von der Forest Therapy erhoffen: Sie wollen abschalten, entspannen, den Geist zur Ruhe bringen. Es sind Menschen mittleren Alters, die Karriere, Gesundheit und Lebensqualität neu justieren wollen - mithilfe des Waldes.

Wer in Japan zum Arzt geht, weil er Schlafstörungen hat, erschöpft oder depressiv ist, dem verordnet der Arzt nicht selten Shinrin Yoku, was man ungefähr mit "Waldbaden" übersetzen kann. "Waldmedizin" ist an japanischen Universitäten ein anerkanntes Forschungsgebiet. Wissenschaftler untersuchen schon seit etlichen Jahrzehnten die Auswirkungen, die ein Aufenthalt im Wald auf den Menschen hat. Demnach verbessern sich angeblich beim Waldbaden schon nach kurzer Zeit Blutdruck, Puls und Atmung.

Die Stresshormone Adrenalin und Cortisol im Blut verringern sich, das sympathische Nervensystem, zuständig für Leistung und Aktivität, für Flucht oder Kampf in Stresssituationen, beruhigt sich. Gleichzeitig erhöht der Parasympathikus, der als Ruhe- oder Erholungsnerv gilt, seine Aktivität. Pflanzliche Botenstoffe, zum Beispiel Terpene, stärken angeblich das Immunsystem. Waldluft soll sogar den Blutzuckerspiegel bei Diabetes-Patienten senken.

Auch die Ludwig-Maximilians-Universität in München befasst sich wissenschaftlich mit den möglichen positiven Auswirkungen der Waldtherapie. Gisela Immich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung (IBE). "Wir sind dabei, ein Ausbildungscurriculum für Waldtherapeuten in Deutschland zusammenzustellen, ebenso entwickeln wir in Zusammenarbeit mit dem australasiatischen Dachverband für Forest Therapy einen internationalen Mindeststandard für diese Ausbildung", sagt sie. Der Waldtherapeut wäre eine Zusatzausbildung im Gesundheitswesen. Besonderes Interesse an dem Beruf besteht in Mecklenburg-Vorpommern. Dort hatte man sogar eine Evaluierung in Auftrag gegeben - der Lehrstuhl unter Leitung von Angela Schuh sollte klären, ob sich die Wälder für Kur- und Heilzwecke eignen. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass Waldbaden Stress vermindert und den Schlaf verbessert. Wer sich im Wald aufhält, ist danach ausgeglichener, hat eine bessere Immunabwehr und ein besseres Gedächtnis.

Ein Hotelier serviert das Frühstück mitten im Wald

Dass der Wald heilen kann, davon ist Hotelier Klaus Alber überzeugt. Der Chef des Hotels Miramonti in Hafling ist als junger Mann Skirennen gefahren, bis er mit 18 Jahren Schmerzen bekam, die ihn immer mehr in seiner Mobilität einschränkten. Irgendwann stand die Diagnose Morbus Bechterew fest, die Sportkarriere musste er aufgeben. Jetzt ging es darum, nicht berufsunfähig zu werden. In der Hotelbranche war er und wollte er bleiben. Ein Arzt aus Frankfurt, der Urlaub in Südtirol machte, sprach ihn an, lud ihn nach Frankfurt ein und behandelte ihn. Er riet ihm, täglich eine Runde im Wald zu gehen.

Hotelier Alber glaubt an die heilende Wirkung des Waldes und hat sich deshalb eine Reihe von Waldangeboten für seine Gäste ausgedacht. In der warmen Jahreszeit serviert er ein Frühstück im Wald. In den Steilhang hat er eine Waldsauna gebaut. Und vom vierten Stock seines Hotels führt eine Treppe in den Wald. Hundert Stufen - und man steht auf einem kleinen Rundweg, auf dem Alber gern selbst mit seinen Gästen unterwegs ist.

Auch Martin Kiem nimmt den Rundweg, vorbei an einem kleinen See, in dem sich ein Waldidyll spiegelt. Bäume umarmen, auch dazu lädt Kiem die Teilnehmer ein - er hat damit kein Problem. Er sieht das als Achtsamkeitsübung, um sich klarzumachen, dass Bäume das Kohlendioxid, das wir ausatmen und sonst in die Luft blasen, mittels Fotosynthese in Sauerstoff verwandeln. "Man muss keinen Baum umarmen, aber man kann." Etwa bei der Übung "Lass dich von einem Baum finden." Und die geht so: stehen bleiben, Augen schließen, im Kreis drehen und den Baum erspüren. Ja, warum nicht mal an den Stamm lehnen, am Harz riechen, mit den Händen über die schuppige Rinde streichen? Man ist dann nur noch ein klitzekleines Stück vom Umarmen entfernt.

Womit Kiem ein Problem hat, ist die Vermenschlichung der Bäume, wenn Menschen ihnen ein Bewusstsein, eine Seele zuzuschreiben. Ein Trend, den nicht zuletzt der Autor Peter Wohlleben mit seinem von der Wissenschaft stark kritisierten Bestseller, "Das geheime Leben der Bäume" ausgelöst habe. Der Südtiroler Martin Kiem lebte nach dem Studium der Psychologie in Innsbruck etliche Jahre in Australien, dort beriet er als Coach gestresste Mitarbeiter von Weltkonzernen. Sein Zertifikat als Natur- und Waldtherapeut hat er in Neuseeland erworben.

Doch nicht er, sondern der Wald sei der Therapeut, sagt er. Er sei lediglich der Moderator. Es gehe um die Interaktion des Menschen mit der Natur. Und genau darin sieht er auch den Grund, warum die Waldtherapie so gut und so schnell wirke - ohne Equipment, ohne besondere Outdoorkleidung und ja, sogar ohne Anleitung. Jeder ist ja schließlich in der Lage, allein in den Wald zu gehen - oder war es zumindest einmal. "Mensch und Natur haben eine gemeinsame Geschichte, sie haben eine Koevolution durchlaufen. Der Mensch lebte im Busch, in der Savanne, an Küsten, in der Prärie, im Wald", erklärt Kiem. Industrialisierung, Urbanisierung und Turbokapitalismus haben dieses alte Band durchtrennt. "Nun sind wir wie der Fisch, der aus dem Wasser genommen wurde", erklärt Kiem. Im Wald sei der Mensch wieder zurück in einer Umgebung, an die er sich über Jahrtausende angepasst habe - wie ein Heimkommen.

Das Hotel Miramonti bietet die Forest Therapy das ganze Jahr über an, Preis: 45 Euro. Die Nacht im DZ ab 155 Euro/Person, www.hotel-miramonti.com

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Quelle:
SZ vom 19.10.2017
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