Süddeutsche Zeitung

Italien:Bloß weg vom Meer

Die Cinque-Terre-Dörfer an der italienischen Riviera sind chronisch überlaufen. Aber es gibt eine Alternative.

Von Helmut Luther

Seit Giorgio Andreani in Rente ist, schnürt er so oft wie möglich seine Wanderschuhe. Geht es auf den knapp 700 Meter hohen Monte Cravadora hinauf, der den Ort Pignone überragt, kann Andreani an der Haustür losmarschieren. Er überquert die von einem steinernen Tor abgeschirmte Piazza Marconi und folgt dem Lauf des Wildbachs, dessen Ufer ein paar langsam verfallende Mühlen säumen. Nach einer Steinbogenbrücke geht es im Zickzack durch lichten Laub- und Pinienwald. Am Gipfel schaut man weit über das Ligurische Meer. Im Westen sind die Cinque Terre zu sehen. Im Osten, wo sich die Bucht von La Spezia ausdehnt, ankert ein Kreuzfahrtschiff. "Manchmal sind es zwei solcher Riesen an einem Tag", sagt Andreani. Die Passagiere wollen alle zu den Cinque Terre: Monterosso, Vernazza, Corniglia, Manarola und Riomaggiore, so heißen die fünf Dörfer, die spektakulär auf Klippen kleben. "Die Massen ruinieren sie", sagt Giorgio Andreani.

Obwohl manche Bewohner für die Cinque Terre das Schicksal Venedigs befürchten und immer wieder von Besucherbeschränkungen die Rede ist, hält der Ansturm an. Dabei ist es im wenig bekannten Hinterland genauso schön. Auf dem Kamm hoch über den überlaufenen Dörfern verläuft der markierte Wanderweg Alta Via delle Cinque Terre. Der Weg 556 aus Pignone, wo Giorgio Andreani einige Zimmer vermietet, führt zur Alta Via und von dort zu den Cinque Terre hinunter. "Bei uns ist das Essen besser und billiger, man wird auch von niemandem angerempelt", sagt Andreani.

Zum Wandern kommen hier bisher nur wenige Touristen her. Doch viele nutzen die Dörfer im Hinterland als angenehmes und günstiges Basislager, um von dort Ausflüge in die berühmten Küstenorte zu unternehmen. Wanderwege verbinden Pignone auch mit dem weiter nördlich gelegenen Varatal sowie mit dem 440 Kilometer langen Höhenweg Alta Via dei Monti Liguri, der von der Grenze zu Frankreich bis in den toskanischen Apennin führt. Es gibt hier viele parallel verlaufende Täler wie das Varatal, durch das sich grün schimmernde Flüsse schlängeln.

Ähnlich und noch unberührter ist das Mangiatal. In Mangia, dem Dorf am Talausgang, stapft Giuliano Cerchi die Via Unica zu seinem Haus unter der Kirche hinauf. Es ist ein regentrüber Nachmittag. Über die Felder und Wiesen, wo die Grashalme vor Nässe ihre Köpfe hängen lassen, kriechen Nebelschleier. Sie hüllen auch die Häuser ein, die sich links und rechts der einzigen autotauglichen Gasse übereinandertürmen. "An solchen Nachmittagen schleicht der Fuchs herum", sagt Cerchi, daher habe er seine Hühner im Stall eingesperrt.

Der stämmige Mittfünfziger, der zum Einheizen ein Bündel Brennholz unter dem Arm trägt, ist einer von 14 ständigen Bewohnern des Dorfes. Es gibt kein Postamt, keinen Laden, keine Bar. Über die Via Unica spannen sich steinerne Bögen, in deren Ritzen Schwalben ihre Nester gebaut haben. Unter Eisengittern zu Cerchis Füßen plätschert ein Bach. "Bis dorthin", sagt er und zeigt auf eine Tafel, die an einer Hauswand befestigt wurde, habe das Hochwasser am 25. Oktober 2011 gereicht, als während eines Starkregens fast die Niederschlagsmenge eines Jahres gefallen war und der Bach das Dorf überflutet hatte.

Von den Folgen des Unwetters zeugen noch überall in der Gegend am Straßenrand aufgestellte Betonblöcke - sie sollen Autofahrer vor Erdrutschen schützen. "Die Straßen und Böschungen sind in einem desolaten Zustand, dafür werden seit dem Einsturz der Autobahnbrücke in Genua im vergangenen Jahr eilig sämtliche Brücken saniert", spottet Cerchi.

Am nächsten Morgen glitzern Regentropfen in den Zweigen. Hinter der Kirche St. Anna am oberen Dorfrand von Mangia führt ein gepflasterter Weg nach Cornice, das auf knapp 400 Metern auf einem Felssporn klebt. Baumheide wuchert über den von moosigen Mauern eingefassten Weg, ein grüner Tunnel, durch dessen löchriges Dach die Sonne blitzt. Auf einer Lichtung steht eine Marienkapelle.

Giuliano Guerri, der hier mit einem Fadenmäher den Wildwuchs zähmt, sitzt im durchgeschwitzten Shirt auf einer Bank bei der Brotzeit. Der pensionierte Marineoffizier hat in Mangia viele Sommer bei seinen Großeltern verbracht. Er sei wochenlang über den Ozean gekreuzt, sagt Guerri: "Und wenn ich am Himmel ein Flugzeug sah, habe ich überlegt, warum die Menschen so oft herumhasten, ohne dabei etwas zu erleben." Deshalb hat er mit Freunden den Nonprofit-Verein Mangia Trekking gegründet. Im Dorf gibt es ein Versammlungslokal, wo Mitglieder gratis wohnen können, dort werden auch Feste gefeiert. "Wir halten hier die alten Wege frei und erneuern die Markierungen", sagt Guerri. Es gehe um ein Stück Kulturgeschichte. Über den Weg nach Cornice seien früher die Toten von Mangia zum Friedhof getragen worden. "Hier bei der Kapelle wurde die Bahre abgelegt, um Maria um ihre Fürsprache zu bitten. Auf diese Weise sind noch meine Großeltern begraben worden." Wie die meisten Bewohner von Mangia hießen sie Cerchi. Das sei der Name eines mächtigen Adelsgeschlechts aus Florenz gewesen, das aus der Stadt vertrieben wurde und sich hier niederließ.

Oben in Cornice ist Ivano Luigi Denevi dabei, Wein zu pflanzen. 2000 Reben wolle er in den nächsten Tagen in die Erde setzen. "Mir steht die Arbeit bis hier", sagt der 71-Jährige und hält sich die Hand ans Kinn. Stolz zeigt er dennoch die Stahlfässer im Gewölbekeller, wo sein Albarola und sein Vermentino reifen, lokale Weißweine.

Zu Denevis Kunden gehört Stefano Ariani. Der Agriturismo, den Ariani zusammen mit seiner Frau betreibt, liegt in Usurana, einem Dorf in der Gemeinde Calice al Cornoviglio. Über den Weilern stehen viele Burgen. Vor 20 Jahren hat das Paar den halb verfallenen Bauernhof gekauft, um ihn in einen Bio-Agriturismo-Betrieb umzuwandeln. Dort sitzen die Gäste zwischen stattlichen Olivenbäumen. Der Blick fällt auf Hügelland mit hineingestreuten Dörfern. Während man gegrilltes Lamm mit Gemüse verspeist, alles vom eigenen Bauernhof, erzählt Ariani, dass ihm eher die "groben Arbeiten" lägen: "Roden, Pflanzen und das Bauen von Steinmauern." Wenn diese Pionierarbeiten einmal abgeschlossen sind, möchte Stefano Ariani den Hof an seine jüngste Tochter übergeben. Die Teenagerin sitzt mit am Tisch. Sie findet die Lämmer, die auf der Wiese herumspringen, "süß". "Ein gutes Zeichen" für ihren Vater, der auf Nachfolge hofft.

Reiseinformationen

Anreise: Mit dem Auto über Brescia und Cremona nach La Spezia. Mit der Bahn über Florenz.

Unterkunft: z. B. Azienda Agrituristica Giandriale in Tavarone di Maissana, die Übernachtung mit Frühstück kostet 35 Euro pro Person, mit Abendessen 55 Euro. Apartments mit fünf Betten kosten 100 Euro am Tag, www.giandriale.com; zum Agriturismo gehört ein Abenteuerspielplatz: www.parcoavventuravaldivara.it; Bed & Breakfast Il Cigno Ligustico im Ort Pignone, die Übernachtung mit Frühstück kostet zwischen 55 und 65 Euro pro Person, www.cignoligustico.it

Wanderwege: www.altaviainfoh24.com

Allgemeine Auskünfte: zur Val di Vara: www.valdivara.it; zu Ligurien: www.lamialiguria.it

Hinweis

Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

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SZ vom 29.05.2019/edi
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