Hier in der Lagune ist Bibione ganz weit weg. Nichts zu sehen, nichts zu hören von den zigtausend sonnenhungrigen Menschen. Nur ein bisschen Wellenplätschern, ein wenig Blätterrauschen im kühlenden Wind und das Blubbern der auftauchenden Fische. Ansonsten: Stille. Als würde es den Rummel dort vorne am Meer überhaupt nicht geben.
Dabei ist die Badestadt an der nördlichen italienischen Adria keinen Kilometer Luftlinie entfernt. Ein Ort des Massentourismus, wie er sich an vielen Stellen der Küste fast ebenbildlich finden lässt. Angebot und Nachfrage haben sich im Lauf weniger Jahrzehnte perfekt eingependelt: Es gibt in großen Mengen zu trinken, zu essen und Dinge zu kaufen, von denen man zu Hause nicht mehr genau weiß, warum man sie eigentlich erworben hat. Meistens, weil sie schön billig waren. Und hier? Wasservögel kreisen am blauen Himmel, kaum ein Laut dringt aus dem dichten Schilf, das die Lagune säumt.
Man könnte jetzt sagen, weil es gut klingt: Hier ist Bibione ganz bei sich. Aber das wäre Unfug, denn nirgendwo als in diesem Landschaftsschutzgebiet ist Bibione weniger bei sich, weniger der Ort, für den die Menschen aus allen Teilen Europas - vor allem aber aus Deutschland und Österreich - seit Jahrzehnten zwischen Mai und September anreisen. Sie kommen, weil es hier diesen Sandstrand gibt: mehr als zehn Kilometer lang, sanft und flach ins saubere, klare Meer gleitend, feinkörnig. Darüber hinaus ist der Strand auch noch ungeheuer breit: bis zu 400 Meter, Platz für 50 Reihen Liegen. Bibione hat nicht nur Sonne, Sand und Meer, sondern vor allem viel Sonne, Sand und Meer zu bieten.
Also, warum wirbt die Stadt Bibione neuerdings damit, dass man mit kleinen Booten in der Lagune herumfahren kann? Warum will sie Menschen auf ihr weitläufiges Radwegnetz locken? Warum preist sie die einsamen Strände beim alten Leuchtturm in der Nähe der Mündung des Fiume Tagliamento an, die man auf diesem Radwegnetz erreichen kann? Und warum ermöglicht sie seit Kurzem die Anmietung eines Anwesens, das man niemals in Bibione erwartet hätte? Weil man den Beweis führen will, dass diese kleine Stadt, die im Sommer in Hotels, Ferienwohnungen und Campingplätzen 100 000 Menschen beherbergen kann und im Winter gerade mal 2000 Einwohner zählt, dass diese kleine Stadt, die pro Jahr sechs Millionen Übernachtungen aufweisen kann, mehr ist als einfach Bibione.
Tabakqualm unter einem der 21 000 Sonnenschirme? Schlimmer als Autoabgase!
Wir können auch anders, lautet die Losung. Nach dem Motto: Ihr liebt den Rummel? Ihr liebt das pralle Angebot am vollgepackten Strand, den Eiswagen, die Strandmasseuse, die Beachvolleyballfelder, die erwartungsvoll aufgespannten Sonnenschirme, die sandfrei geputzten Liegen, ihr liebt die Strandbar gleich in hundert Meter Entfernung und die bemerkenswerte Sauberkeit, mit der das alles in Form gehalten wird, samt sanierter Strandpromenade?
Gut, aber hier gibt es auch das Gegenteil!
Pasqualino Codognotto ist der Bürgermeister von Bibione. Das Hotel, in dem er über die Zukunft Bibiones spricht, gehört seinem Stellvertreter. Das wichtigste Thema ist der erste rauchfreie Strand Italiens. Ein Leuchtturmprojekt, allerdings mit Einschränkungen, denn beileibe nicht der ganze Strand ist rauchfrei. Unter den 21 000 Sonnenschirmen und auf den 42 000 Liegen, die sich an diesem gewaltigen Strand aufbauen, darf weiterhin geraucht werden. Rauchfrei ist lediglich der Abschnitt zwischen Wasser und dem Bereich, in dem sich die kostenpflichtigen Liegen befinden. Dort also, wo sich die Menschen kostenfrei und zwanglos wie auf der Liegewiese mit ihrem Handtuch niederlassen können. "Wo auch die Kinder am Wasser spielen, die vor Rauch und Zigarettenstummeln geschützt werden sollen", wie Codognotto betont.
Mit ernstem Gesicht verweist er auf eine Studie des Mailänder Istituto Nazionale dei Tumori, wonach die Luftverschmutzung durch Zigarettenrauch unter einem Sonnenschirm "unter bestimmten Bedingungen" stärker ist als die Verunreinigung an verkehrsreichen Straßen. Gerade diesen Bereich klammert man noch aus, irgendwann soll der ganze Strand nikotinfrei sein. Aber selbst im Windschatten eines Rauchers wurden noch in zehn Meter Entfernung Werte mit ähnlich hoher Schadstoffkonzentration gemessen.
Immerhin, das ist ein Anfang für sanften Tourismus. Aber da geht sicher noch mehr!
Lorenzo Braida ist ein smarter 59-Jähriger mit herrlich zerzaustem Vollbart und grauer Mähne, ein Tourismus-Experte, der lange Zeit Besucherströme nach Neapel geleitet hat. Jetzt ist er in Bibione unter anderem für einen Strandabschnitt mit 3000 Sonnenschirmen, einen riesigen Campingplatz und 100 Mitarbeiter verantwortlich. Und er vermarktet einen stilvollen Palazzo in der Lagune, der wirkt, als sei er von einem Frachtflugzeug versehentlich abgeworfen worden. Einsam liegt das Valgrande Bibione Resort neben einem großen Gartengrundstück, ein venezianischer Adliger hat den Palast im 17. Jahrhundert errichtet.
Die mit dunklem Holz vertäfelten Räume sind teilweise im Originalzustand erhalten und stilvoll ausgestattet. Sie können gemietet werden. Allerdings ist das Anwesen in einem Jahr erst einmal gebucht worden, "weil die Klientel in Bibione für eine solches Angebot nicht die richtige ist", wie Lorenzo Braida achselzuckend einräumt. "Die kommen doch nicht her, um so was zu mieten."
Die kommen wegen Bibione. Wegen des guten alten Bibione-Gefühls. Das hat natürlich mit den schönen Sommerzutaten zu tun, von denen hier schon die Rede war, mit dem Wimmelbildeffekt, den vollgepackte Adriastrände im heiligen Touristen-Monat August bieten. Bibiones Strand hat nun mal etwas vorzuweisen, womit viele andere Adriastrände nicht aufwarten können: diese sagenhafte Tiefe und Weite, die alles aufnehmen kann, den Rummel und den Lärm, der zu Bibione gehört wie das Bier aus Bayern. Und auch, kein Witz, eine Lagunen-Ruhe, naja, fast jedenfalls.
Man muss nur weit genug hinten liegen. In der 23. Reihe zum Beispiel hängt über dem Strand eine Glocke des Friedens. Hier tauscht man das Lärmen all dieser vergnügungsfreudigen Menschen da vorne - das Kreischen der Badenden, das Rufen der Väter und das Lachen der Kinder - ein gegen Möwenrufe und Windrauschen. Das Meer ist hier weder zu sehen noch zu hören. Einfach, weil man in der 23. Reihe zu weit weg ist vom Eiswagen und dem Kokosnuss-Mann. So planscht die eine Hälfte der Menschheit im Meer. Und die andere träumt auf der Liege davon, sich demnächst wieder ans Wasser zu stellen, wobei ein Geräuschmix das Leben auf der Liege unter dem Sonnenschirm bestimmt: das Plopp, das Pitsch und das Wusch.
Die Italiener sind ein spielendes Volk, ein vor allem ballspielendes Volk. Und deshalb ist der Strand, wo er an die Strandpromenade stößt, eine Flaniermeile der Sportskanonen, die sich mit der Hingabe des sonnengebräunten Athleten noch in der größten Hitze austoben, als würden sie am Abend olympische Medaillen überreicht bekommen. Mehr als zehn Beachvolleyballfelder liegen hier nebeneinander. Ein paar Hundert Meter weiter werfen sich Rugbymannschaften zu einem knochenkrachenden Knäuel zusammen. Wer sich also zu fein ist, um sich mit seinen Kindern beim Strandfußball zu verausgaben, der hat immer was zu gucken. Oder kann sich auf seiner Liege auf den Abend freuen. Der Abend, an dem sich Tausende durch die Haupteinkaufsstraße schieben werden, an der Pizzarestaurants neben Bierbars, Spielsalons und Billigboutiquen liegen. Es ist wie ein großes Kirmesfest im Sommer, ohne Karussells. Aber die gibt's ja gleich ein paar Hundert Meter weiter im bunt beleuchteten Luna-Park.
Noch ist es aber nicht soweit, noch ist ja Strandtag, noch bemüht man sich um totale Entspannung am ersten rauchfreien Strandabschnitt Italiens, der mittlerweile einige Nachahmer gefunden hat, wie der Bürgermeister stolz hervorhebt. Nicht wenige, vor allem italienische Tagesurlauber haben sich in dem gebührenfreien Abschnitt direkt am Meer niedergelassen. Auch Elena aus Mailand, die mit ihrer Tochter hergefahren ist. Vor 18 Jahren war sie das erste Mal hier, sie liebt den feinen Strand und das saubere Meer. Und sie raucht gern mal eine an der frischen Luft, jetzt auch. Ob sie denn nicht weiß, dass hier rauchen verboten ist? Nein, sagt sie und blickt sich erstaunt um. Niemand habe sich daran gestört. Wer das denn sage? Die Stadtverwaltung. Ach so, hm.
Ob sie denn die Verbotschilder nicht gesehen habe. Nein, wo denn, fragt Elena, drückt die Zigarette aus und dreht sich auf den Bauch. Dann sagt sie noch: Ich mach's nie wieder. Ehrenwort!
Die Schilder sind wirklich dezent gehalten, klein und unauffällig hängen sie unter Hinweisen auf Veranstaltungen. Die Stadtverwaltung will das Thema Kontrolle defensiv angehen. Bisher gebe es keine Strafen, wehrt der Bürgermeister ab, niemand soll sich drangsaliert fühlen.
Naja, sagt Stefano del Salo, der für die Sauberkeit am Strand in Bereich von 18 000 Sonnenschirmen, also 36 000 Liegen zuständig ist. Sechs Sandreinigungsmaschinen stehen ihm dazu zur Verfügung, sieben Tage die Woche sind sie im Einsatz. Jetzt sitzt er in einer Strandbar und erzählt von dem großen Aufwand, diesen riesigen Strand so picobello zu halten. "Ein bisschen mehr Kontrolle, um das Rauchverbot durchzusetzen, das würde nicht schaden."
Dann blinzelt er zum wolkenlosen Himmel und grinst entspannt. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, der Strand ist gelb. Und Bibione ist und bleibt Bibione.