Süddeutsche Zeitung

Italien: Capri (SZ):Generation Golf von Neapel

Mehr Landschaft für den Quadratmeter gibt es nirgendwo: Warum der Sehnsuchtsort der Fünfziger neuerdings auch die Jüngeren begeistert.

Claudius Seidl

Die besten Tage sind die Tage nach dem Sturm. Und die Stürme kommen, im Frühjahr und im Herbst, das ist schon mal das Gute, und sie gehen schnell vorüber, was noch besser ist, und das Beste dabei ist das Meer, das sich noch lang nicht beruhigt, wenn der Wind nach Osten weitergezogen ist.

Das sind nämlich die Tage, da stehen die Kapitäne auf den Brücken ihrer Tragflügelboote in den Häfen von Ischia und Sorrent, und dort können sie auch lang stehen bleiben; denn die Pauschaltouristen und die Reisegruppen, alle jene, die Capri auch mal gern betreten wollen, trauen sich heute nicht an Bord, weil das Wasser hier im Golf von Neapel und im Tyrrhenischen Meer, wenn es aufgewühlt ist, einen deutschen Magen durcheinander bringen kann. Das hat, im Frühjahr 1787, schon Goethe erfahren, was man aber nicht unbedingt wissen muss als deutscher Tourist.

Dass es ein guter Tag für Capri wird, merkt einer schon morgens gegen zehn, wenn er den Weg vom Hotel zur Piazzetta durch Capris Hauptstraßen, die in Wirklichkeit schmale Gassen sind, in ein paar Minuten schafft und dabei kein einziges Mal im Stau hängen bleibt. Er merkt es in den Läden, wo jetzt vorwiegend italienisch gesprochen wird. Und in den Cafés kriegt er einen sonnigen Platz. "Dueschpress" sagt der Kellner im hiesigen Dialekt, wenn er die Bestellung bestätigt, und nicht "Zweiämaläespresso" wie an den Touristentagen.

Es gibt wohl keine gesetzliche Grundlage dafür, irgend jemandem den Zutritt zu der Insel Capri zu verwehren, und man möchte ja auch jedem den schönen Anblick gönnen - es hat sich aber eingebürgert, dass die Tagestouristen immer in Gruppen von mindestens 25 Menschen kommen, was viel ist für die Gassen, die dann schnell verstopft sind - und wo sich die Enge der Altstadt ein wenig öffnet, vor dem noblen Hotel Quisisana zum Beispiel, da stauen sich gleich mehrere Reisegruppen, und ein Führer brüllt in die Menge: "Otelläquisisana isdä älteste Otellä aufä Capri." (Auch wenn die Führer eine italienische Gruppe betreuen, scheinen sie mit italienischem Akzent zu sprechen.)

Gegen fünf bringen die letzten Boote ihre Fracht zurück in die Hauptquartiere des Tourismus, und mancher mag froh sein darüber, dass er hier nicht länger bleiben musste. Was schon daran liegt, dass er in Capri noch nicht einmal die Simulation von Folklore und authentischem einheimischen Leben geboten kriegt: In den Hauptstraßen, die, wie gesagt, nur Gassen sind, in der Via Camerelle und Via Vittorio Emanuele, dort, wo es eigentlich Blumenläden geben müsste und Bäcker und Metzger, dort gibt es mehr Modeläden als auf der Münchner Maximilianstraße; sie sind nur noch ein bisschen teurer, und wenn einer vor so einem Schaufenster stehen bleibt und etwas genauer die Preise studiert, dann lächeln die hübschen Verkäuferinnen noch ein bisschen spöttischer, als sie das eh schon tun, und natürlich sind diese Mädchen so hübsch angezogen, als ob sie nur in solchen Geschäften kauften.

Irgendwelche Kunden sind in diesen Geschäften eigentlich gar nicht vorgesehen, so wie Touristen auf der Insel Capri eigentlich nicht vorgesehen sind - und woran das liegt und wie das zusammenhängt: Das spürt man ganz genau erst nach fünf, wenn die Boote abgelegt haben; und die richtige Jahreszeit muss es außerdem sein. Der späte Herbst ist gut, das frühe Frühjahr vielleicht noch besser, und wenn es überhaupt einen Anlass für Kulturpessimismus gibt, dann ist es der Umstand, dass auch hier die Hotels über den Winter schließen. Der Winter wäre die beste Zeit, und wer hier schon mal miterlebt hat, wie in der ersten Novemberwoche ein Restaurant, ein Hotel nach dem anderen zumacht: Der wird nochmal ziemlich wütend auf F. Scott und Zelda Fitzgerald, oder wer auch immer die verrückten Amerikaner waren, die den Sommerurlaub erfanden und Schluss machten mit der schönen Tradition, dass man im Winter in den Süden fährt, weil es im August auch im Norden ganz menschliche Temperaturen hat.

Capri, nach fünf, an einem hellen Frühlingstag: Die Gassen sind nicht leer, aber ziemlich ruhig, die Mädchen aus den teuren Geschäften sitzen jetzt in der Bar gegenüber, trinken einen Kaffee und beaufsichtigen die schönen Sachen aus der Ferne, und als Besucher steht man ratlos vor den Schaufenstern und fragt, für wen das alles gut sein soll, die Kleider von Gucci, die Prada-Taschen und die Schuhe, wo doch noch niemand da ist, der das kaufen will.

Die Antwort kennt man am nächsten Tag, wenn morgens die Sonne über den theatralischen Felsen der Faraglioni aufgeht; oder wenn man nachmittags selber einen Felsen bestiegen hat und hinunterschaut auf ein Meer, dessen Bläue überwältigend ist; man kennt die Antwort, wenn man zum Meer hinunter gestiegen ist, und im flimmernden Licht des Mittags sieht das Boot, das die Touristen einmal rund um die Insel steuert, so aus, als wäre Odysseus an Bord und würde gleich an Land gehen und im Café eine Limonade bestellen: Es ist hier soviel Naturschönheit auf so engem Platz konzentriert, dass die Menschen sich ganz schön anstrengen müssen. Dieser Schönheit sollte man in Freizeitkleidung eigentlich nicht gegenübertreten - und wenn einer hier ein Schaufenster hat, darf er da nicht Brote hinein legen oder ein paar Kofferradios. Eine Handtasche für fünf Millionen Lire kann auch nicht wirklich bestehen gegen die Farbe des Himmels und die Schönheit der Felsen. Aber es ist immerhin ein ehrenwerter Versuch.

Und das ist es, was auch der Besucher auf Capri lernen kann: Die Schönheit hier ist eher eine Herausforderung als eine Ware, die sich konsumieren ließe; sie macht mehr Arbeit, als dass sie bloß erholsam wäre - und am besten beginnt man diese Arbeit damit, dass man sich in ein Café setzt und den Leuten zuguckt, die hier zuhause sind. Die Frauen tragen lieber Röcke als Blue Jeans, lieber hohe Hacken als flache Schuhe - was ihnen, wenn sie einen Hügel hinaufgehen, den Anstieg leichter macht, und wenn es abwärts geht, nehmen sie die Schuhe in die Hand und laufen barfuß, und natürlich wissen auch sie, welche Anforderungen diese Insel stellt an die Haltung derer, die hier spazieren gehen.

Dass für Touristen eigentlich kein Platz mehr bleibt, das ergibt sich zwingend aus der Grundfläche der Insel: Zehn Quadratkilometer; das ist ungefähr zweieinhalbmal der Englische Garten in München - mit dem Unterschied, dass es vermutlich nirgendwo mehr Landschaft pro Quadratkilometer gibt. Der Dramatiker Moritz Rinke hat einmal eine sehr schöne Geschichte über seine (vergebliche) Suche nach dem Theaterwunder von Capri geschrieben; und je genauer man diese Insel kennen lernt, desto mehr neigt man der These zu, dass hier (und nicht in griechischeren Gegenden) das Theater überhaupt erfunden wurde. Fast jeder Punkt, an dem man stehen bleibt und sich umsieht, scheint der beste Platz in einem Amphitheater zu sein - und ist zugleich doch Schauplatz und Kulisse für die Blicke derer, die woanders stehen: So glaubt der Besucher, mitten in dieser Naturschönheit, er betrete ein Kunstwerk, er werde womöglich selber ein Teil dieses Werks. Und vielleicht ist es dieses Bühnenwerk, dessen Geist und Kulissen anscheinend Homer entworfen hat, dessen Kostüme aber von Miuccia Prada sind - diese magische Mischung ist es wohl, was neuerdings so viele Jüngere an den Sehnsuchtsort der fünfziger Jahre lockt, dass man fast von der Generation Golf von Neapel sprechen möchte.

So viele: das ist natürlich relativ, weil hier weniger immer mehr ist, und im Sommer, wenn zur Hitze die Enge der Überfüllung kommt, ist die Insel kein angenehmer Ort - was zum klassischen Nebensaison-Paradoxon führt: Kämen alle im April, wäre der April kein Vergnügen.

In den vergangenen Jahren kam - keiner weiß, woher - das Gerücht in die Welt, dass die Capresen der Schönheit ihrer Insel nicht mehr gewachsen seien. Von hohen Selbstmordraten war da die Rede, und die Arbeitshypothese ging ungefähr so, dass die Leute im Sommer zu viel zu tun hätten, als dass Zeit für trübsinnige Gedanken wäre. Aber im Winter, wenn es ruhig wird auf Capri, hielten viele Capresen ihre Insel nicht mehr aus. Naturgemäß sagt jeder Caprese: er wisse von nichts, so etwas gebe es höchstens in Anacapri, dem zweiten Inselort; und die Anacapresen antworten umgekehrt.

Auch dieses Rätsel löst sich auf, wenn man auf einen der vielen Felsen steigt. Man möchte hier nicht sterben. Aber manchmal glaubt man, dass man jetzt losfliegen könnte. Oder der Wind wehte einen fort.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.223543
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
s.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.