Italien:Ausgeschmiert

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Im Dom von Florenz dürfen Touristen jetzt legal ihre Graffiti hinterlassen - auf Bildschirmen. Die Idee kommt gut an und zeigt bereits Wirkung bei potenziellen Vandalen.

Von Evelyn Pschak

Zur Kuppel hinauf führen 463 Stufen. Eng ist es hier, und in annähernd sechs Jahrhunderten haben die Besucher die Steine auch reichlich ausgetreten. "Questo Brunelleschi!", schimpft ein Junge über den Baumeister, während er hinter seinen Mitschülern die Wendeltreppe hinauf stolpert. Man glaubt allerdings, auch Stolz aus den Worten zu hören. Denn dieser Filippo Brunelleschi, dem es zu Beginn des 15. Jahrhunderts durch geniale Ingenieurskunst gelang, das Dach der Kathedrale Santa Maria del Fiore mit einer Kuppel zu krönen, ist auch 2017 noch ein Held in Florenz.

Jedes Jahr besuchen rund 1,3 Millionen Menschen den Dom, etwa die Hälfte davon wagt den beschwerlichen Aufstieg zu der die Kuppel überragenden Laterne, von wo aus man in einer Höhe von 106 Metern über die Stadt blicken kann. Das macht 2000 Kuppelbezwinger täglich. An besonders engen Stellen staut es sich nicht selten, hinauf wie hinunter. So mancher der Besucher hat da schon mal den Kuli ausgepackt, einen Lippenstift oder sogar Sprayfarbe - und sich verewigt. Ganz im Bewusstsein, Teil der Menschheit zu sein, die ein solches Meisterwerk hervorgebracht hat. "Pamela, 14.3.90" konnte man bis vor Kurzem im Treppenaufgang lesen. Oder "München rules". Oder "Ivan" in Großbuchstaben, begleitet von Herzchen aus schwarzem Edding.

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(Foto: Museo dell'Opera del Duomo Firenze)

Die Namen von Liebespaaren,...

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(Foto: Museo dell'Opera del Duomo Firenze)

...lustige Sprüche,...

...die Kathedrale in der einen...

...oder anderen Form: Die Motive der digitalen Graffiti unterscheiden sich wenig von den herkömmlichen.

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(Foto: Claudio Giovannini/Museo dell'Opera del Duomo Firenze)

Herkömmliche gibt es jetzt allerdings keine mehr zu sehen.

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(Foto: Claudio Giovannini/Museo dell'Opera del Duomo Firenze)

Handschuhe, Lappen, Scheuermittel: Der Florentinische Dom wurde von allerlei Schmierereien gereinigt.

Vor einem Jahr wurden im Glockenturm, Giottos Campanile, nach einer Grundreinigung dafür Tablets aufgestellt.

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(Foto: Claudio Giovannini/Museo dell'Opera del Duomo Firenze)

Auf diesen konnten seither rund 17 500 digitale Botschaften gesammelt werden.

Fotos mit solchen Schmierereien hat Alice Filipponi auf ihrem Handy abgespeichert. Sie ist Philosophin, arbeitet für die Opera del Duomo, eine Institution, die 1296 von der Republik Florenz für die Errichtung von Dom und Glockenturm gegründet wurde und auch heute noch für den Erhalt der zum Komplex gehörenden Gebäude verantwortlich ist. Und dass die Kritzeleien zwar auf Filipponis Mobiltelefon zu sehen sind, aber nicht mehr an den seit diesem Winter sauber ockerfarben gestrichenen Treppenwänden, ist zu einem großen Teil der 30-jährigen Florentinerin zu verdanken. Man muss jetzt nämlich nicht mehr die Wand verschandeln, wenn man sich im Dom von Florenz verewigen will. Man kann das digital tun.

Die Spraydose muss niemand mehr mitbringen. Sie ist auf dem Touchscreen installiert

"Wir haben uns gefragt, wie wir es anstellen könnten, dass die Touristen nach der Renovierung der Treppengänge nicht mehr ihren Namen oder das Datum ihres Besuchs an den Wände hinterlassen würden", sagt Filipponi. Die Lösung war: eine App namens Autography, die sie eigens dafür entwickelt hat. Seit Ende Februar können Besucher des Doms ihre Graffiti auf zwei Tablets zeichnen, die am Aufgang der Kuppel und auf dem Weg zurück auf Ständern montiert sind. Schilder erklären den Besuchern, was es mit den Tablets auf sich hat: "Wir beschützen seit Jahrhunderten Meisterwerke. Von heute an werden wir Graffiti von den Kuppelwänden entfernen. Aber wenn du uns - virtuell - eine Nachricht hinterlässt, werden wir sie bewahren: genau wie ein Meisterwerk."

Auf dem Touchscreen tauchen verschiedene Instrumente auf: Bleistift, Filzschreiber, Pinsel oder Spraydose. Mehrere Farben warten auf ihren Einsatz. Und man kann zwischen den Untergründen wählen, die es auch im Dom zum Bekritzeln gäbe: Marmor, Ziegelmauer, Verputz, Gold. Hinzu kommen Szenen aus den Fresken der Kuppel - kein Zeichner käme normalerweise dort hin. Wie schon zuvor analog, lassen die Besucher auch am Bildschirm hauptsächlich Kürzel, Namen und Daten zurück. Man findet Herzchen und die Namen Verliebter. Italiens Fahne wird oft gemalt - und natürlich der Dom. Wobei die Verfasser beileibe nicht nur Italiener sind, die als besonders verewigungslustig gelten. Alice Filipponi hat in ihrer Sammlung schon jetzt Graffiti von Besuchern aus Deutschland, Japan, den USA und Korea. Es kommen ja nicht nur italienische Schulklassen in den Dom, sondern Touristen aus aller Welt. Inzwischen kann man die App Autography zudem aufs Handy herunterladen und von daheim aus kritzeln, als Vorbereitung auf die Florenz-Reise.

SZ-Karte (Foto: a)

Wer fertig ist, kann noch seine E-Mail-Adresse und das Herkunftsland angeben. Die Zeichnung wird auf der Webseite veröffentlicht und in den Archiven der Opera del Duomo bewahrt. Zudem erhält der Digitalkünstler einen Code, über den er den Verbleib seines Werks nachverfolgen kann. Allerdings kontrolliert die Social-Media-Fachfrau Filipponi die Eingänge jeden Abend. Denn nicht jeder Beitrag wird für die Öffentlichkeit freigegeben. Anstößiges wie die Abbildung nackter Körperteile oder Beschimpfungen, sagt Filipponi, werde nicht archiviert.

Alice Filipponi glaubt an den pädagogischen Effekt ihrer App. "Irgendwann wird keiner mehr auf die Idee kommen, seinen Namen direkt an die Wand zu schreiben." Der Erfolg gibt Filipponi bislang recht. Bereits vor einem Jahr hat die Opera del Duomo im benachbarten Glockenturm, Giottos Campanile, nach einer Grundreinigung Tablets aufgestellt; seitdem konnten dort 17 500 digitale Botschaften gesammelt werden. Seit diesem Frühjahr warten die kleinen schwarzen Bildschirme nun auch in der Kuppel auf Einträge. Bereits nach der ersten Woche hatten 700 Touristen ihre digitalen Grüße an die Nachwelt hinterlassen, inzwischen haben sich aus Glockenturm und Dom über 19 500 Graffiti angesammelt. Mit echter Farbe beschmiert wurden die Wände des Campanile in den ersten neun Monaten des Tablet-Testlaufs hingegen nur neun Mal. Restauratoren entfernen die Zeichnungen jetzt umgehend. Denn wo mal ein Graffito ist, gesellen sich schnell andere hinzu.

Dreieinhalb Monate lang hatten in diesem Winter 20 Handwerker - Restauratoren, Glaser und Maler - den Dom von Graffiti befreit. Vor allem bei Marmor ist das schwierig. Das poröse Material nimmt Farbe besonders leicht auf. Selbst nach der Reinigung sehe man häufig noch den Schatten früherer Kritzeleien, sagt Beatrice Agostini, die für die Renovierung zuständige Architektin. Je nach Untergrund - Holz, Stein, Mauerwerk, Bronze oder Marmor - und je nach benutztem Schreibwerkzeug wurden die Wände unterschiedlich gereinigt. Das Prozedere bestand zumeist darin, ein Lösungsgel aufzutragen, es einwirken zu lassen und die Masse danach mit Schwämmchen vorsichtig wieder abzunehmen. Wo die Arbeiter schon mal dabei waren, konnten sie auch gleich kaputtes Mauerwerk wieder instand setzen, Schimmel und Vogelexkremente entfernen. Nie zuvor sei das Innere des Doms mit einem solchen Aufwand gereinigt worden, sagt Beatrice Agostini.

Einige Graffiti allerdings haben die Restauratoren erhalten, weil sie als historisch wertvoll eingestuft werden: Schriftzüge in lateinischer Sprache etwa. Manche der alten Graffiti stammen aus dem 18. Jahrhundert; Florenz war damals schon Teil der Grand Tour. Erst in den vergangenen Jahrzehnten, seit die Besucher in Massen kommen, wurde aus dieser einst elitären Vorliebe eine Plage.

Nun hat der Massentourismus aber auch Vorteile. Die Opera del Duomo finanziert den Erhalt des Dom-Komplexes ohne staatliche Zuschüsse, allein aus dem Ticketerlös. Den Besuchern gibt man jetzt ein großes Versprechen: die Unsterblichkeit ihrer Hinterlassenschaften. Die Graffiti werden dabei nicht nur in der digitalen Welt existieren. Die Werke der Besucher sollen zudem Eingang finden in Kataloge: ein Buch für je 10 000 Graffiti. Das erste liegt bereits im Büro von Alice Filipponi. Die Kataloge werden im Archiv aufbewahrt, Seite an Seite mit den Plänen Brunelleschis zum Kuppelbau. Und neben der Geburtsurkunde von Lisa Gherardini, von der es heißt, sie sei die geheimnisvoll lächelnde Schöne, der ganzen Welt als Mona Lisa bekannt.

© SZ vom 13.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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