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Historische Städtereise in Istanbul:Eine App, die aufdeckt

Armenier, Griechen und Juden: Gebäude in Istanbul erinnern daran, wie vielfältig die Stadt einst war. Die App "Kardes" führt dorthin - und erklärt, wer die Meerjungfrau vom Bosporus war.

Von Christiane Schlötzer

Ein Lokal in einer schmalen Seitengasse der Istanbuler Fußgängerzone, der Istiklal. Die Tische stehen eng, an einer Wand hängt eine weiße Kochschürze, unter Glas, in einem großen Bilderrahmen. Sie gehörte dem Besitzer des Restaurants: İsmail Şahin, 2019 ist er gestorben. Bei der Beerdigung waren Reiche und Arme, Schuhputzer, Messerschleifer und Bettler, die hat er oft durchgefüttert. Aber auch Geschäftsleute mit viel Geld in den Taschen vergossen Tränen im langen Trauerzug.

Das Kochen soll der Mann, das Lokal gibt es seit 1967, bei einem Istanbuler Griechen gelernt haben. Mittags ist es immer voll, der Sohn hat übernommen. Die Hamsi, die Sardellen aus dem Schwarzen Meer, gedämpft mit Zwiebeln und Tomaten zu einem Paket verschnürt, sind eine Spezialität.

Wer Istanbul kennenlernt, kann sich zuerst in das Essen verlieben und in die Art, wie man isst. Gemeinsam, im Gespräch, genießerisch. Und dazu als Beigabe gibt es die Geschichten, die man sich erzählt, wie die von Şahin, dem freigiebigen Koch.

Offiziell beruft sich die Stadt Istanbul heute gern wieder auf ihr reiches kulturelles Erbe

Diese Geschichten sind wie das, was auf den Tisch kommt, ein Produkt der Vielfalt der Kulturen. Und diese Vielgestaltigkeit wäre undenkbar ohne die Vergangenheit der Stadt, in der so viele Bevölkerungsgruppen - darunter die Minderheiten der Armenier, Griechen und spanischen Juden - zu einem einzigartigen Kulturmix beitrugen. Das Osmanische Reich war multiethnisch.

In den Jahren seines Zerfalls und während der vielen Kriege, die daraus folgten, wurden Millionen Menschen entwurzelt. Vom Balkan flohen Muslime nach Istanbul, und an der kleinasiatischen Küste mussten die Griechen die ihnen vertrauten Städte und Dörfer verlassen, im Osten erlebten die Armenier Tod und Vertreibung.

In Istanbul ging es den Minderheiten lange noch besser als im Rest des Reiches, aber mit Gründung der Türkischen Republik 1923 zog vor fast einem Jahrhundert auch ein neuer Nationalismus ein. Dazu kamen politische Spannungen mit den Nachbarn und andere Krisen, und das bekamen die Minderheiten dann immer besonders zu spüren. Heute leben nur noch ein paar Zehntausend Christen und Juden in der Stadt, die sich offiziell wieder so gern auf ihr reiches kulturelles Erbe berufen.

Zeugen der Vergangenheit, von Schutt bedeckt

Das aber lebt vor allem von der Erinnerung und zeigt sich in Gebräuchen und Gebäuden. In Kirchen, Friedhöfen, Schulen und Stadthäusern, manche so groß wie Paläste, denen man häufig ansieht, dass sie bessere Tage erlebt haben.

Man kann an vielen dieser stummen Zeugen in Istanbul achtlos vorübergehen, weil sie irgendwo in einem Hinterhof versteckt sind, von Schutt bedeckt oder von Unkraut überwuchert. Andere sind unübersehbar, wie die Kirchtürme oder die großen Friedhöfe so vieler Religionen und Nationen, mit ihren hohen Mauern, mitten im Stadtgebiet.

Beim Entdecken des Unerwarteten hilft jetzt die kostenlose App Kardes. Kardeş ist das türkische Wort für Bruder. Zwölf "Memory Tours" zu fast 900 Orten, jede etwa zwei Stunden lang, kann man damit in Istanbul unternehmen: vom einst hochherrschaftlichen Pera im Zentrum bis ins heute noch dörfliche Stadtviertel Sarıyer im Norden oder auf die große Prinzeninsel im Süden.

Die App ist ein digitales Geschichtenarchiv, in Englisch und Türkisch, aufbereitet für das Schlendern durch die Stadt, mit Fotos und Zeitzeugeninterviews.

Recherchiert und aufbereitet hat diesen kulturellen Schatz die Hrant-Dink-Stiftung. Sie ist nach dem im Januar 2007 in Istanbul ermordeten armenisch-türkischen Journalisten Dink benannt. Dink wurde das Opfer von nationalistischem Furor, die Stiftung hat sich dem Brückenbau zwischen den Kulturen verschrieben. Sie erforscht, kartiert und registriert.

Es gibt auch eine Webseite, auf der man sich fast vergessene Kulturstätten in Anatolien ansehen kann (turkiyekulturvarliklari.hrantdink.org). Und es sind weitere Stadtführer geplant, dafür fehlte bislang allerdings das Geld. Kardes haben die Gulbenkian-Stiftung und die norwegische Botschaft in der Türkei mitfinanziert.

Wer in Pera mitten in der Stadt beginnt, wird ins Ara Kafe geführt, über dem der berühmteste Foto-Chronist Istanbuls lebte und arbeitete: Ara Güler. Er ist 2018 mit 90 Jahren gestorben.

Seine Aufnahmen der Fischer auf der Galatabrücke, von Lastenträgern, Musikern und Matrosen, haben das Istanbul-Bild von Generationen in und außerhalb der Türkei geprägt. Eigentlich hieß er Güleryan, und der Namen sagt es, er war Armenier. Viele Armenier mussten ihre Namen ändern, sie sollten türkisch klingen.

Von Hrant Dink stammt die aus Erfahrung gewonnene Mahnung: Zwei Türken sollten sich nie über ihre Herkunft streiten, denn sie könnten, auch wenn sie es nicht ahnen, verwandt sein. Eine "Welt frei von Rassismus" und eine "freiere Türkei", das wünschte sich Dink.

Eine Muslima auf der Bühne? Skandal!

In Kadıköy, auf der asiatischen Seite der Stadt, führt die App auch zu einer historischen Polizeistation, in der die Schauspielerin Afife Jale vor 100 Jahren festsaß, nachdem sie sich als Muslima auf eine Bühne gewagt hatte. Das war damals noch ein Skandal.

Übrigens war Jale für eine armenische Schauspielerin eingesprungen, die das Land verlassen hatte. 2014 wurde das längst verlassene Polizeigebäude von jungen Leuten besetzt. Sie wollten es zum "Museum in Erinnerung an Polizeigewalt" machen. Und wie zu erwarten war: Die Polizei kam und räumte. Auch das erfährt man auf dem Kadıköy-Spaziergang.

Heilige Orte in Istanbul sind irgendwie doch allen Religionen heilig

Mit dem Schiff geht es dann vom Anleger in Kadıköy auf die große Prinzeninsel, türkisch: Büyükada. Dorthin schickte man in byzantinischer Zeit Prinzen und Prinzessinnen zur Verbannung.

Die Insel ist autofrei, bis vor Kurzem gab es Pferdekutschen. Tierschützer protestierten, weil viele Pferde schlecht gepflegt wirkten und sichtlich litten. Dann wurden vor ein paar Wochen viele Pferde krank, es gab eine Quarantäne. Jetzt hat die Stadtverwaltung den Kutschern die Lizenzen und die Pferde abgekauft.

Künftig soll es Elektrokutschen geben. Bis dahin heißt es zu Fuß gehen, ist ja ohnehin viel schöner - vorbei an den prächtigen, weißen Villen aus Holz und den üppigen Gärten. Die große Tour führt hinauf bis zum Kloster des Heiligen Georg (Türkisch: Aya Yorgi). Dort zünden auch muslimische Türkinnen schlanke Wachskerzen an. Das soll bei Kinderwunsch helfen, so sagen sie hier.

Heilige Orte in Istanbul sind irgendwie doch allen Religionen heilig oder zumindest ist ihre Zerstörung heute ein Tabu.

Die Meerjungfrau vom Bosporus

Mit Kardes kann man sich erzählen lassen, wie die Griechen früher auf Büyükada im Fastenmonat Ramadan Rücksicht auf ihre muslimischen Nachbarn nahmen und ebenfalls erst nach Sonnenuntergang aßen. Christen wiederum bekamen Glückwünsche zu ihren Hochfesten.

Im Norden Istanbuls, am Bosporus, im Fischerort Sarıyer, da lebte die "Meerjungfrau". Eigentlich hieß sie Eftalya Georgiadou und war eine Griechin, geboren 1881 in Istanbul. Sie hatte eine besonders schöne Stimme, und ihr Vater spielte das Saiteninstrument Saz. Der Vater spielte auch, wenn er auf einem Boot auf dem Bosporus fuhr, und Eftalya sang dazu, andere Boote folgten den beiden. Die Sängerin erinnerte sich: "Nachts haben sie meiner Stimme gelauscht, ohne zu wissen, wer ich war. So nannten sie mich Meerjungfrau."

Die Geschichte von Şahin, dem Wirt, fehlt noch in der Geschichtensammlung. Aber die soll ja auch noch erweitert werden, dann werden sicher auch noch einige der noch fehlenden Übersetzungen nachgeliefert.

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Quelle:
SZ vom 23.01.2020/kaeb
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