Israel:Tanzen bis zum Marschbefehl

Wer in Jerusalem ausgeht, sucht vor allem Normalität: Hedonismus statt Heiligkeit, Beats statt Bomben. Denn wenn es Nacht wird, dann beginnt für manche erst das richtige Leben.

Peter Münch

Wenn es Nacht wird in Jerusalem, wenn das letzte Gebet gesprochen und der letzte Stein geflogen ist, dann legt sich Ruhe über diese Stadt. Der Sabbat hat begonnen mit Sonnenuntergang, die Uhr geht gegen zwölf, und Andrej Levit genehmigt sich im "Putin-Pub" einen Wodka. Im "Sira" um die Ecke tapst ein weißer Hund über die Tanzfläche - oder sind hier alle nur so bekifft, dass sie schon weiße Hunde sehen? Vor dem "Toy Club" stehen die Reichen und Schönen Schlange, und unten im Industriegebiet Talpiot, zwischen schäbigen Werkstätten und grell beleuchteten Einkaufszentren, gibt sich die junge Soldatin Paulina Schipow im "Haoman 17" den Bässen hin. Wenn es Nacht wird in Jerusalem, dann beginnt auch in dieser Stadt für manche erst das richtige Leben.

Ein Nachtleben in Jerusalem? Zur religiösen Erbauung kommt man hierher - die Juden zur Klagemauer, die Muslime zur Al-Aksa-Moschee, die Christen zur Grabeskirche. Das Stadtbild prägen die Frommen: die jüdischen Haredim mit Schläfenlocken und schwarzen Anzügen; und in der Osterwoche auch die christlichen Pilger, die in Massen durch die Gassen ziehen.

Alles ist voll

Viele tragen ihr eigenes Kreuz - und oft genug hat diese Stadt schwer zu tragen an ihrer heftig umkämpften Heiligkeit. Jerusalem ist für viele der Nabel der Welt, doch eigentlich lappt die Stadt mit all ihren Gebetsstätten und den riesigen Friedhöfen deutlich ins Transzendentale. Religiöse Regeln und Riten bestimmen das diesseitige Leben. Doch Adi Talmor sagt nur: "Der Freitagabend ist gut zum Ausgehen. Da sind die Straßen leer, weil wegen der Sabbat-Ruhe keine Busse und weniger Autos fahren. Aber wenn du in Clubs und Bars kommst, ist alles voll."

Er muss es wissen, seit 15 Jahren betreibt er in Jerusalem die Plätze, an denen man bei Dunkelheit gesehen werden muss. Angefangen hat es mit dem "Haoman 17", der Laden ist Legende - nun ja, er war es. "Einer der bekanntesten Clubs nicht nur in Israel, sondern in der ganzen Welt", sagt Adi Talmor mit der Bescheidenheit des Ex-Besitzers. Von einem "Mega-Club" mit "Mega-Partys" und "Mega-DJs" spricht er, und es stimmt tatsächlich, dass die Gäste sogar aus dem feierversessenen Tel Aviv zum Tanzen ins Jerusalemer "Haoman 17" fuhren, bis 2005 an der Küste eine Dependance aufmachte.

Heute gelangt man ins "Haoman 17", wenn man sich an ein paar muskelbepackten Wachmänner vorbeidrückt und gleich hinter dem Eingang über kollabierte Teenies klettert. Es ist "Soldiers Night", 30 Schekel (umgerechnet sechs Euro) kostet der Eintritt für die Wehrpflichtigen, Getränke sind verbilligt. Der DJ spielt House-Musik, die Gäste tragen Uniform: Enge T-Shirts und Jeans die Jungs, kurze Röcke und knappe Tops die Mädchen, die Stiefel sind aus Knautsch-Lack. Paulina Schipow, 19 Jahre alt, kommt jedes zweite Wochenende hierher, dann hat sie Ausgang. Ansonsten verbringt sie ihre Nächte in einer Militärbasis nahe Jerusalem, und an den Tagen bewacht sie die Grenze zu den Palästinenser-Gebieten.

Die Disko ist Kampfzone

"Ich will nur tanzen und trinken", sagt sie, und so geht es hier allen. Die Stimmung ist aufgeheizt bis aggressiv, die Disko ist Kampfzone, und wer will, kann hier bei den jungen Soldaten das erste Motiv finden fürs Ausgehen in Jerusalem: Feiern gegen die Furcht; Tanzen bis zum Marschbefehl. Vielleicht ist es aber auch ganz anders. Vielleicht geht es auch hier nur um Liebe und Triebe, um Spaß und den ganz normalen Frustabbau. Leider kann dazu keiner mehr wirklich Auskunft geben, weil ja die Getränke in dieser Nacht verbilligt sind.

"Die ganze Clubszene hat sich verändert", meint Adi Talmor, der Ex-Besitzer des "Haoman 17". "Früher war jeder happy", alles sei so leicht gewesen, spielerisch. Das waren die neunziger Jahre, und die meisten waren happy - wohl auch dank Ecstasy. Aber es war tatsächlich eine Zeit der Hoffnung, nach den Oslo-Verträgen schwelgten viele im Frieden, und auch das hat die Party beflügelt. "Doch irgendwann sind wir aufgewacht und es war Intifada", sagt Talmor. Die Bomben drehten die Stimmung, und bis heute sei es nie mehr so geworden, wie es war.

Mit solch grundsätzlichen Gedanken jedoch mag sich natürlich kaum einer befassen, der nachts ausgeht. Wer feiert, will überall auf der Welt den Alltag vergessen. Mag sein, dass es in Jerusalem mehr zu vergessen gibt als anderswo. Aber es gilt dasselbe zu beachten: Wo spielt die beste Musik? Wo sind die tollsten Frauen/Männer? Wo gehöre ich hin?

Andrej Levit gehört in den Putin-Pub. "Wie zu Hause ist das hier", sagt er. Auf der Tafel stehen die Angebote in kyrillischen Lettern, die Bilder sind russisch, die Gäste sind russisch. Acht verschiedene Sorten Wodka gibt es - "nicht viel", meint der Thekenmann. Aber es gibt ja auch noch anderen Schnaps, es gibt Wein, und es gibt Bier in großen Gläsern. Stammgäste bevölkern den Putin-Pub. Je voller es wird, desto lauter wird die Musik, und es kann sehr voll werden." Levit kommt alle zwei Wochen vorbei, sagt er. 35 Jahre ist er alt, seit 20 Jahren lebt er in Israel, Russland aber ist die Heimat. Mit jedem Glas kommt man der Heimat näher - auch das kann ein Motiv sein fürs Ausgehen in Jerusalem. Leider kann auch dazu kaum noch einer wirklich Auskunft geben, es gibt ja acht verschiedene Sorten Wodka im Putin-Pub.

Doch für fast jeden findet sich ein Platz, für manchen auch nur eine Nische im Nachtleben von Jerusalem. Die Araber, die ein knappes Drittel der 800 000 Einwohner der Stadt ausmachen, haben im Ostteil Jerusalems eine eigene, sehr beschauliche Szene. Die säkularen Juden treffen sich im alten Westen, dort gibt es für die klammen Studenten die Wasserpfeifen-Kneipen rund um die Schlomzion-Hamalka-Straße, für die Schwulen die "Indoor Street Party" im versteckt liegenden "The Edge", für die Äthiopier eine Kaschemme mit Fernsehen und Neonlicht, und für die Bärtigen und Batikbetuchten das "Sira". Dort hinter dicken Mauern aus dem hellen Jerusalem-Stein konserviert die ewige Stadt die siebziger Jahre mit Reggae und Rauchschwaden. Das Motiv? Irgendwie geht alles, man kann im frommen Jerusalem so freakig sein wie überall auf der Welt.

Tanzen und trinken

Und auch so chic und so hip. "Wie in New York", sagt Adi Talmor, und er meint damit seinen neuesten Club, den "Toy Club", der früher tatsächlich einmal ein großes Spielwaren-Geschäft auf drei Etagen war. Heute wird im Tiefgeschoss getanzt, in Parterre und auf der Galerie getrunken. Wer hier hin geht, der kommt, um sich selbst zu feiern. Hier ist die heilige Stadt ganz hedonistisch. "Der da ist ein Basketball-Profi", sagt Talmor, "da drüben ist eine bekannte Schauspielerin." Mittendrin steht Alon Tayeb, den keiner kennt, der aber gerne jemanden kennenlernen würde. "Hier sind die hübschesten Frauen", sagt er, "der Laden ist einzigartig für Jerusalem." Viel kann er dem Nachtleben dieser Stadt ansonsten nicht abgewinnen, er hat bis vor kurzem noch in Tel Aviv gelebt. "Alle Jungen gehen nach Tel Aviv, da kann man viel besser ausgehen", meint er. Doch nun ist er 34, und wie manch anderer kommt er zurück in die Heimat, müde und ernüchtert. "Die Mädchen in Jerusalem sind etwas schwierig", sagt er, "aber es ist okay, wenn du weißt, wie du es machen musst."

Erst wenn es hell wird, will er nach Hause gehen, nach einer ganz normalen Nacht in Jerusalem. Der Muezzin hebt dann wieder an zu seinem Ruf an die Muslime, die Juden streben zum Sabbat-Gebet in die Synagoge, die Christen rüsten zum Ostermarsch. Dafür ist Jerusalem berühmt. Doch wenn die Stadt in den Mittelpunkt der Welt gestellt wird - von den Gläubigen wie von den Politikern - , dann wird ganz schnell gestritten und geschossen.

Wenn aber einfach nur getrunken wird, getanzt und gefeiert, dann kann Jerusalem eine Stadt sein wie alle anderen auch. Mal ein bisschen schräg, mal ein bisschen schillernd. Mal ein bisschen lässig, mal ein bisschen laut - und einfach einmal nicht so überschätzt. Jerusalem könnte so schön langweilig sein.

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