Island:"Schafabtrieb ist schöner als Weihnachten"

Katharina Sommermeier freut sich jeden Herbst auf Göngur, den Abtrieb der Schafe in einem riesigen Tal im Norden Islands. Ihr Platz dabei: am steilen Berghang zwischen den Felsen.

Von Katja Schnitzler

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Island Schafabtrieb Schafe Abtrieb Herbst Reise Iceland

Quelle: Katharina Sommermeier

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Am Anfang steht das Warten. Zwischen den Felsen am steilen Berghang im Norden Islands, ein, zwei Stunden lang, den Blick in das Tal, in dem die Flussarme des Kolbeinsdalsá mäandern und die Richtung vorgeben: von den Gletschern, die das Tal begrenzen, hinunter zum Fjord Skagafjörður. Die Menschen am Berghang haben Glück in diesem Jahr. Es regnet nicht, es stürmt nicht. Und vor allem: Es zieht kein Nebel auf. Denn die Leute, die sich in zwei menschlichen Ketten an diesem Hang und an seinem Gegenstück auf der anderen Talseite aufgestellt haben, sie warten auf Tiere, die im Nebelweiß verschwinden würden: Schafe.

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Den ganzen Sommer über gehört das Tal Kolbeinsdalur den Tieren. Der Gletscher Tungnahryggsjökull und die Berghänge links und rechts verhindern, dass sie sich auf die falschen Grasflächen verlaufen. Meistens jedenfalls, manchmal überwinden Schafe von Nachbarhängen die Pässe und bleiben bis zum Herbst zu Besuch. Dann, bevor der Schnee das Futter unter sich begräbt, endet die Zeit der Freiheit für die Schafe, für manche auch die Lebenszeit. Vor allem die der Lämmer, die vor einem halben Jahr an den Höfen der Umgebung geboren wurden und dann, als sie stark genug waren, gemeinsam mit ihren Müttern in das Tal umzogen.

Für sie bedeutet es die Welt, hier grasen und wachsen sie. Seit die letzten menschlichen Anwohner vor etwa hundert Jahren das Tal verlassen haben, wird es im Sommer zur riesigen Koppel, auch für Islandpferde. Doch vor allem die Schafzüchter der Gegend rund um den Ort Hólar nutzen die Lage, um mit nur einem Zaun am Talausgang ein gemeinschaftliches Weideland abzustecken, von dem (Schlacht-)Vieh hierzulande nur träumen kann.

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Während der Abtrieb der Islandpferde auch in Nordisland ein Fest für Reiter und viele, viele Besucher ist, bleiben die Bauern beim Schafabtrieb, Göngur, eher unter sich, aber Helfer sind immer willkommen. Katharina Sommermeier freut sich das ganze Jahr darauf, "es ist schöner als Weihnachten". Die Deutsche hatte hier nach dem Abitur auf einem Hof gearbeitet - der Nachbarssohn ist heute ihr Lebensgefährte. Mit ihm übernahm die 38-Jährige den Betrieb der Schwiegereltern, auf dem keine Schafe, dafür aber viele Milchkühe und einige Pferde leben. Trotzdem nimmt die ganze Familie am Schafabtrieb teil: Hier trifft sie Freunde und Bekannte von entlegenen Höfen, andere reisen von Reykjavík extra in die alte Heimat. Jede Helferin und jeder Helfer wird gebraucht. "Das ist übrigens keine Männerdomäne", sagt Sommermeier, die einst Geografie und Pädagogik studiert hatte und in diesem Jahr den Abtrieb in Fotos festgehielt. Etwa 50 Leute helfen zusammen, um 1200 Mutterschafe mit ihrem Nachwuchs davon zu überzeugen, dass es nur einen Weg gibt: talabwärts.

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Viel erklärt wurde Katharina Sommermeier nicht, als sie vor Jahren das erste Mal dabei war: Als Anfängerin stand sie unten am Jeep, die Berghänge bleiben den erfahreneren Treibern vorbehalten. Bereits im Morgengrauen waren Reiter bis ans Ende des Tals geritten, wo es sich verzweigt und Gletschereis den Weg versperrt. Von dort aus holen sie die Schafe mit ihren Islandpferden zusammen: Nur solche Pferde dürfen mit, die sich gut führen lassen, selbst Spaß am Treiben haben, im steilen Gelände gut klettern können und den ganzen Tag lang durchhalten. Das Queren von Furten ist sowieso kein Problem, weder für Schafe noch Islandpferde. Etwa auf halbem Weg warten an den steilsten Berghängen die Menschen.

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Denn nicht alle Schafe wandern brav auf der Talsohle, sondern suchen ihr Heil auf den Hängen. Also stellen sich die Menschen dort so auf, dass sie wie ein wandernder, riesiger Trichter den Weg nach unten weisen.

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Dirigiert wird per Fernglas und Funk unten vom Auto aus, damit kein Treiber ein Schaf übersieht - die Abstände zwischen den zehn Leuten sind groß und nicht jedes Tier will in die richtige Richtung. "Besonders Schafe, die aus anderen Regionen über den Bergkamm übersiedelten, müssen wir dazu zwingen, mit uns zu kommen - da gibt es manchmal ganz schön störrische", erzählt Katharina Sommermeier. Doch die Menschen sind sturer, von Ehrgeiz und Jagdfieber gepackt, "springt man den Schafen durch die Felsen hinterher, braucht zum Klettern Hände und Füße, kommt selber fast nicht mehr vor oder zurück - aber dieses Schaf bringt man runter!". Die Stimmung sei gut, über Funk werde angefeuert und Mut gemacht - ein Gemeinschaftserlebnis, das verbindet. Nur wenn wieder mal ein Hund, der sonst höchstens den Hof bewacht, nicht weiß, wie Vollzeit-Hütehunde Schafe treiben und sie stattdessen wieder versprengt, kann es mal lauter werden.

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Manche Geschichten werden zu Heldengeschichten, manches vielleicht auch zu "Schaftreiber-Latein". Doch wo Generationen mitmachen, gehören Erzählungen von vergangenen Abenteuern mit dazu - und wenn sie am Tag zuvor erlebt wurden.

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Hinterher wird vielleicht auch die Anstrengung etwas verklärt, die aber zusammenschweißt. Tatsächlich ist das Treiben ein Knochenjob: Etwa acht Kilometer am steilen Hang, und wenn ein Canyon im Weg ist, muss hinunter und wieder hinauf geklettert werden. Aufgeben ist keine Option, "auch wenn wir fix und fertig und nass geschwitzt sind und die Füße bluten", erzählt Sommermeier. Niemand will die Kette unterbrechen - und keiner sich die Blöße geben, abzusteigen und mit dem Auto zurückgefahren zu werden.

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Doch es gibt Tiere, die unterwegs schlapp machen und mit der Herde nicht mehr mithalten. Diese Schafe werden im Jeep zum Pferch gebracht. Im Tal Kolbeinsdalur dauert der Abtrieb dank der besonderen Lage einen Tag, der versprengte Rest wird dann noch von Reitern und Jeep-Fahrern eingesammelt.

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In anderen Regionen, wo weder Berge noch Zäune die Schafe beieinander halten, suchen Reiter mitunter wochenlang nach allen Tieren.

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Doch nicht nur die Art des Abtriebs ändert sich: Früher schrien die Leiter im Tal den Treibern an den Hängen zu, wo sich ein Schaf davonmachen wollte - das war kaum zu verstehen, bis Walkie-Talkies die Sache erleichterten. Anderswo, berichtet Sommermeier, würden schon Drohnen mit Lautsprechern eingesetzt. Doch die Tradition, die in der Weite Islands ein so enges Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Bauern der Einsiedlerhöfe vermittelt, wird weniger durch Technik bedroht: "Die Preise für das Fleisch fallen, nur durch staatliche Zuschüsse werden die Kosten noch gedeckt", erzählt die Deutsche von den Sorgen ihrer Nachbarn.

Aus der Wolle werden zwar die typischen Isländerpullis gestrickt, doch "das meiste wird nur zum Wohl der Tiere abgeschoren, damit es nicht verfilzt, es ist nun kaum etwas wert". Immer mehr Bauern würden nur noch wenige Schafe halten und die blieben am Hof. Vor 20 Jahren hätten viermal so viele wie jetzt ihren Sommer im Tal verbracht. Auch das ist ein Grund, weshalb Katharina Sommermeier jedes Jahr mit beim Treiben ist und auch in anderen Regionen aushilft, "für mich gelebte Nostalgie". Nicht nur die Gesichter der Kinder leuchten vor Begeisterung, wenn die Schafe in Sicht kommen.

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"Für die Schafbauern ist es wie ein Erntedankfest": Sind alle zurückgekommen, wie groß sind die Lämmer? Im Monat nach dem Abtrieb geht es ans Scheren - und zum Schlachten. Nur wenige Lämmer bleiben als künftige Mutterschafe am Hof. "Aber dieses Fleisch kann ich mit so gutem Gewissen essen", sagt Sommermeier. Die Tiere lebten beinahe frei, hätten nur Gras und Kräuter gefressen und keine Medikamente bekommen - als "bio" sei es übrigens trotzdem nicht zertifiziert. Denn wegen des Klimas würden die Bauern auf den Feldern rund um die Höfe künstlichen Dünger verteilen. Hier weiden die Tiere im Frühling, im Winter bekommen sie Gras aus Silage.

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An den Hügeln haben wieder Reiter und Jeeps das Treiben übernommen, ein Zaun lenkt die Tiere auf das letzte Hindernis ihrer Wanderung zu - eine Straße.

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Diese ist manchen Tieren, die nur die Bergnatur kennen, so ungeheuer, dass sie versuchen, das Asphaltband mit einem riesigen Satz zu überwinden. Nur die Sprungstärksten schaffen es bis zur Mittellinie. Bis alle Tiere im Pferch sind, wird es schon langsam dunkel.

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Eine Nacht haben die Schafe Zeit, zur Ruhe zu kommen. Sollte ein Lamm seine Mutter verloren haben, finden sie sich hier wieder. Am Vormittag des zweiten Tages treffen sich die Schafbauern und ihre Familien um zehn Uhr am großen Pferch. In kleinen Gruppen werden Schafe in ein Rondell getrieben, von dem aus wie Tortenstücke andere Pferche abgehen. Nun beginnt das große Sortieren, Réttir. Und die Stunde der Kinder.

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Während die Tochter von Katharina Sommermeier, die zehnjährige Greta Berglind, in diesem Jahr mit auf den Berg durfte, hilft ihr siebenjähriger Bruder Anton Fannar nun bei der Zuordnung der Schafe - Vater Jakob Smári als Rückendeckung.

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Die Ohrmarken verraten, wer der Besitzer ist und durch welches Gatter das Tier zu führen, schieben oder ziehen ist.

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Nach ein paar Stunden und einigen Kaffeepausen, in denen Neues ausgetauscht und über vergangene Schafabtriebe erzählt wird, sind die Herden getrennt. Wenn ein Tier Glück hat, bleibt es am Hof, erlebt "Weihnachten im Schafstall", wenn die Böcke zu den künftigen Muttertieren gelassen werden. Und darf nach der Lammzeit im Mai den Sommer wieder hinauf nach Kolbeinsdalur, ins Tal der Schafe, zwischen Bergen und Gletschern.

Reisefotograf Nicola Odemann Island Iceland

Quelle: Nicola Odemann

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Lust auf noch mehr Island, wo Menschen oft nur Nebendarsteller sind? Nicola Odemann kennt das Island-Paradoxon: Wer die Insel bereist, bekommt noch mehr Sehnsucht nach ihr. Beweise? Diese Fotos aus der SZ-Serie Reisefotografen.

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