Mitten im Schneesturm bleibt Maxime Poncet stehen und ruft: "Hier essen wir zu Mittag." Wir blicken uns um. Schneeschwaden schießen über das geriffelte Eis, dicke Flocken wirbeln von allen Seiten heran, der Blick reicht keine 20 Meter weit. Aus einer Spalte steigen Dampfwolken auf, doch die heiße Quelle darunter wärmt uns nicht. Poncet schnallt die Ski ab und holt eine Plane aus seinem Rucksack, ein Notzelt. Wir ziehen es unter den Hintern, setzen uns auf die Rucksäcke und rutschen eng zusammen. Mit klammen Fingern kramen wir Brote und Thermosflaschen heraus. "Ich mag das", sagt Poncet, 36 Jahre alt, der französische Guide. "Den Wind, den driftenden Schnee. Es gibt einem das Gefühl einer arktischen Tour."
Eine Woche Langlaufen in Island, ohne Internet, ohne Dusche, dafür fast jeden Tag Schneegestöber: Näher dürften die meisten Mitteleuropäer einer Polarexpedition nicht kommen. Dabei hat es drei Tage zuvor noch übertrieben gewirkt, als der riesige Geländewagen mit den Monsterreifen vor dem Hotel in Reykjavík vorgefahren ist - aber nur solange, bis der Fahrer nach einer Stunde auf der Ringstraße, vorbei an zotteligen Islandpferden, dampfenden Geothermie-Kraftwerken und hell erleuchteten Gewächshäusern, nach links abgebogen ist, Richtung Landmannalaugar. Das Hochland ist die drittgrößte geothermale Region der Welt, voller Vulkane, heißer Quellen und Fumarolen, aus denen Wasserdampf strömt. Im Sommer kommen Zigtausende Touristen hierher, um auf dem berühmten Trekkingweg Laugavegur zu wandern und in Naturpools zu baden. Aber jetzt, im Frühjahr, wird der Schnee mit jedem Meter immer tiefer. Irgendwann stoppt Hákon, der Fahrer, und lässt Luft aus den Reifen, "um mehr Grip zu haben", wie er sagt. Der Geländewagen schaukelt weiter, vorbei an einem Warnschild mit der Aufschrift: unbefahrbar. Hákon fährt daran vorbei.
"In Island zu reisen, ist immer ein Abenteuer", erklärt Poncet noch im Wagen. "Heute wissen wir nicht mal, ob wir die Hütte erreichen." Noch denken alle, er scherzt. Doch kurz darauf stecken wir fest. Hákon setzt zurück, versucht es an einer anderen Stelle. Meter um Meter gräbt sich der Wagen durch den Schnee. Bis Poncet plötzlich sagt: "Ok, lasst uns losgehen."
Alle zwölf Reisenden, die in den kommenden Tagen Schlafsaal und Küche teilen werden, quetschen sich aus dem Wagen. Die Gruppe ist bunt gemischt: ein französischer Autoingenieur, 55 Jahre alt, der auf Ski den Baikalsee überquert hat und jetzt mit seiner Tochter ein neues Abenteuer sucht. Ein junges Paar aus England, das dreimal pro Woche Ausdauersport treibt. Eine New Yorker Yoga-Anhängerin. Aber auch zwei Damen mittleren Alters, deren Skierfahrung und Fitness sich in Grenzen halten. Es ist Maxime Poncets Job, sie alle durch Blizzards und über eisige Grate zu bringen. Der Franzose arbeitet seit zwölf Jahren als Guide in Island. Zuvor hat er in den Alpen Bergsteiger geführt und in Bolivien neue Kletterrouten erschlossen. Mit einer malaysischen Expedition hat er in fünf Wochen im Winter Grönland durchquert. Die Langlauftour ist für ihn Routine, er hat sie schon Dutzende Male geführt. "Aber sie ist jedes Mal anders", sagt er, abhängig von Wetter und Schnee, Fitness und Wünschen der Kunden.
Poncet spurt voran, zunächst entlang der Strommasten, die wie eine Kolonne breitschultriger Roboter auf einem Eisplaneten aussehen. Aber nach der ersten Hügelkette ist ringsum nichts mehr als weiße Wildnis. Wer der Fantasyserie "Game of Thrones" verfallen ist, denkt sofort: wie jenseits der Mauer. Tatsächlich wurden viele Szenen in Island gedreht, allerdings in einer andere Ecke der Insel.
Vorsichtig rutschen wir hinab in einen Talkessel, der aussieht wie eine riesige Caldera. Die Schneedecke ist makellos glatt, nur die Kämme der Berge sind schwarz gefleckt. Am Horizont ragt aus Wolken die Hekla auf. Der Vulkan bricht seit 1947 ungefähr alle zehn Jahre aus. Die letzte Eruption war im Jahr 2000. "Die Hekla ist überfällig", sagt Poncet.
Fahl glimmt die Sonne hinter der Wolkenglocke; sie scheint stillzustehen wie die Zeit. Tal um Tal durchqueren wir, bis zu einem Bach. Schneebögen hängen wie maurische Arkaden über dem Wasser, dahinter ragen gezackte schwarze Türme auf. Es dämmert schon, als wir über das Holzbrückchen gleiten und die Landmannalaugar-Hütte erreichen. Fünfeinhalb Stunden reine Laufzeit zeigen die Uhren des Fitness-Pärchens an. "Das war härter, als wir erwartet hatten", sagen die beiden, als sie endlich die Schuhe ausziehen.
Unser Basislager ist halb unter Schnee vergraben. Der Weg auf die Toilette führt durch die Kälte zur Waschhütte. Manchmal muss erst die Tür von frischem Triebschnee freigeschaufelt werden. Im Inneren der Haupthütte aber ist es warm und hell. Solarpaneele und Dieselgeneratoren erzeugen den Strom, in Rohren wird das heiße Wasser der Quelle durch die Zimmer gepumpt. Der Tausendsassa, der alles sauber hält und die Maschinen repariert, ist eine Frau und erst 28 Jahre alt. Elíza Lífdís Óskarsdóttir hütet seit einem Jahr die Hütte. Im Winter ist sie oft ganz allein hier draußen. Wenn vor ihrem Fenster tagelang der Schneesturm heult, strickt sie Pullover und liest. "Es ist wundervoll, diesen Ort Zuhause zu nennen", sagt sie.
Óskarsdóttir ist mit ihrer Familie zum Angeln hierher gekommen, seit sie drei Jahre alt war. "Ich wusste, worauf ich mich einlasse." Im Sommer hat die Einsamkeit ein Ende, dann fallen an manchen Tagen mehr als 2000 Touristen ein, bis zu 400 übernachten in den Matratzenlagern und in Zelten. Wenn ein Reisebus ankommt, springt Óskarsdóttir hinein, checkt die Wanderausrüstungen und erklärt die Baderegeln: Der Pool ist 24 Stunden geöffnet, kein Trinkglas im Wasser, Bekleidung ist optional.
Der Pool ist eigentlich ein Bach und der Hauptgrund, warum immer mehr Besucher Landmannalaugar besuchen. Heiße und kalte Quellen fließen hier zusammen und mischen sich zu einer angenehmen Badewannentemperatur. Die Einstiegsstelle ist leicht zu finden: 100 Meter in Badehose und Stiefeln durch den Schnee - bis zur Holzplattform, von der Stufen ins seichte Wasser führen. Kurzer Test mit dem großen Zeh: zu warm, um wahr zu sein. Mit wohligen Ohs und Ahs sinken wir ins Wasser. Über den Dampfschwaden glitzert ein phantastischer Sternenhimmel. Nur das Polarlicht ist nicht zu sehen, trotz bestem Willen und Whisky aus Plastikbechern.
"Ich bin lieber im Winter hier als im Sommer", sagt Maxime Poncet beim Abendessen an der langen Tafel. "Ist viel entspannter." Traditionell ist Urlaub in Island eine Sommerveranstaltung. Aber seit Kurzem kommen auch im Winter immer mehr Touristen. Sie buchen Busausflüge, Skitouren, Heli-Skiing und Polarlicht-Touren. "Island wird Opfer seines Erfolgs", sagt Poncet. "Im Sommer ist es jetzt schon zu voll, vor allem an den Orten, die im Reiseführer und in den Magazinen stehen." Der Laugavegur sei stellenweise schon fünf Meter breit ausgetrampelt. "Es gibt in Island kaum Regeln, wie man sich in der Natur verhält", erklärt Poncet. "Viele Wege sind nicht markiert, und die Leute gehen überall hin."
Vor drei Jahren noch war Poncet in den kälteren Monaten fast immer alleine in der Hütte, jetzt ist meist noch eine weitere Gruppe da. Diesmal sitzen junge Belgier am Nebentisch. Sie wollen in einer Woche auf Schneeschuhen den gesamten Laugavegur gehen. Gepäck und Vorräte ziehen sie auf Schlitten, 54 Kilometer weit. Dagegen fühlt sich unsere All-inclusive-Variante plötzlich mickrig an. Hákon hat das Gepäck hierher gefahren, und jeden Nachmittag kehren wir nach dem Skiausflug zur Landmannalaugar-Hütte zurück. Stern- statt Weitwandern. Den meisten ist auch diese Variante abenteuerlich genug.
Die Sonne schiebt sich gerade über die Bergspitzen, als wir am nächsten Morgen den Hang hinter der Hütte hinaufsteigen. Windhosen wirbeln über die weiße Ebene des Laugahraun-Lavafelds. Die Morgensonne zeichnet harte Schatten in den Faltenwurf der Hügel, dahinter stechen orange-braune Zacken aus den glitzernden Schneebergen. Poncet spurt in ein Tal hinein, das immer enger wird. Schwefeldampf steigt aus heißen Quellen auf, der Gestank fauler Eier kriecht in die Nase. Vondugil heißt dieser Ort, böse Schlucht.
Vor einem Bach schnallt Poncet die Ski ab und stakst über die bläulichen, orangefarbenen und gelben Steine. Sie seien Rhyolithe, erklärt er, so wie alle Felsen und Berge in der Gegend. Das Vulkangestein ist aus Lava entstanden, die schnell abgekühlt ist. Ähnlich wie der glänzende, schwarze Brocken, den Poncet herumreicht: Obsidian, Vulkanglas. Oder Rabenstein, wie die Isländer sagen.
In einer Spalte im Hang blubbert Wasser. "Hier seht ihr einen Geysir in der Entstehung", sagt Poncet. Das Wasser ist reich an Silikat, das sich beim Überschwappen um die Quelle ablagert. Langsam wächst so ein Schlot. "Wenn er zwölf bis 15 Meter hoch ist, wird es ein richtiger Geysir", erklärt Poncet. "Aber das wird hier noch Jahrhunderte dauern."
Als wir aus der Schlucht zurückgehen, pfeift ein eisiger Wind. Schnell sind die dicken Handschuhe aus dem Rucksack gefischt, Skibrille auf- und Kapuze übergezogen, dazu ein Tuch über Mund und Nase. Eisregen prasselt auf die Brille, Sturmböen schubsen von der Seite, dann brüllt der Blizzard. Mit dem Gleiten ist es vorbei, mühsam schieben wir uns voran. Blind geht es hinter dem Vordermann durchs weiße Chaos.
In der Hütte sitzen schon die Belgier und spielen Karten. Sie mussten umkehren, zu stark war der Sturm. Die nächsten eineinhalb Tage werden wir gemeinsam durchs Fenster das Inferno beobachten. Lesen, essen, dösen, warten. Wir werden zum Pool rennen, wenn der Sturm für eine Stunde nachlässt. Und wir werden sofort versöhnt sein, als am Morgen darauf wieder die Sonne hinter den Bergen aufgeht.
Poncet spurt über die Brücke hinaus in die Eiswüste, gewellt wie die Sahara, und durch einen Skulpturenpark aus schwarzem Fels. Die überirdische Schönheit entschädigt für alles. Und man ahnt, dass Polarexpeditionen süchtig machen können.