Als Tourist kann man sich furchtbar leicht daneben benehmen. Und muss dabei nicht einmal schlechte Absichten haben. Ja, man muss noch nicht einmal sonderlich fremd sein, um unabsichtlich gegen herrschende Gepflogenheiten zu verstoßen: Die beiden irischen Großcousinen Edith Œnone Somerville und Violet Florence Martin beispielsweise haben eine Menge Unheil angerichtet, als sie in der westirischen Region Connemara unter heimische Tiere geraten sind.
Als da wären eine Herde Rinder und eine scheinbar herrenlose Bulldogge. Die beiden Damen, unterwegs auf einer Wanderung, hatten sich zuvor noch über die beiden phlegmatischen Hunde des Hotels unterhalten, in dem sie abgestiegen waren auf ihrer Rundreise durch Connemara im Sommer 1890. Und darüber, welchen zersetzenden Einfluss das Hotelleben habe, im Allgemeinen wie auch im Speziellen, bezogen auf diese zwei Hunde.
Nun, die Dogge war offenkundig kein Hotelhund, wirkte stattdessen bedrohlich auf Somerville und Martin. Weshalb Erstere den mitgeführten Revolver zückte, eine der Patronen, die sie neben ihren Lockenwicklern im Reisegepäck mit sich führte, in die Waffe fingerte und abdrückte. Statt des Hundes nahmen die Rinder Reißaus, was wiederum dem Hund suggeriert haben muss, der Knall sei der Beginn einer Hetzjagd. Weshalb er den Rindern nachsetzte und sich in der Nase von einem der Tiere verbiss.
Das Beste, was es über diesen Vorfall zu sagen gibt: Alle haben ihn überlebt. Darüber hinaus bietet er sich natürlich unbedingt an, um erzählt zu werden. Und darauf verstanden sich die unkonventionellen Großcousinen bestens. Sie waren - mindestens - in Arbeitsdingen ein Paar, veröffentlichten gemeinsam Romane, Kurzgeschichten, Zeitungsartikel sowie Reiseberichte wie diesen über Connemara, wo sie mit einem Eselkarren unterwegs waren. Schon dieser Umstand liefert eine ganze Reihe guter Anekdoten.
Somerville war hauptsächlich zuständig für die Illustrationen, Martin, die unter dem männlichen Pseudonym Martin Ross veröffentlichte, mehrheitlich fürs Schreiben. Gemeinsam waren sie Somerville & Ross. "Durch Connemara" ist ein sehr komisches, gewitztes kleines Buch. Denn in ihren Schilderungen schwanken die beiden Frauen zwischen einer sympathischen Form von Hybris und einem großen Maß an Selbstironie. Über Landschaften und Sehenswürdigkeiten erfährt man so gut wie nichts, dafür manches über Mentalitäten und Sitten. Und über Fragen der Haltung, die einem teilweise noch heute beim Unterwegssein unterkommen können. Etwa der, ob es nicht "unappetitlich, ja animalisch" sei, in fahrenden Zügen mitgebrachte Speisen zu essen.
Lieber aktuelle Geschichten als Altbewährtes von Nobelpreisträgern
Ganz der Gegenwart verhaftet ist unterdessen die von Paul McVeigh herausgegebene Anthologie "Irland. Eine literarische Einladung". Das ist insofern überraschend, als solche Sammlungen von Textauszügen in der Regel eher wahllos zusammentragen, was sich über die Jahrhunderte findet an Literatur über ein Land oder eine Region. Bei McVeigh jedoch: kein Yeats, kein Beckett, kein Böll. Keine Zeile also von den ersten beiden irischen Literatur-Nobelpreisträgern und dem assoziierten deutschen. Auch nicht von dem sträflich übergangenen Joyce. Lediglich ein Gedicht des dritten und jüngsten irischen Preisträgers, Seamus Heaney (1939-2013), hat Eingang gefunden: "Leuchtfeuer am 1. Mai". Ein Text, in dem Fremde und ihr Einfluss auf alles Einheimische willkommen geheißen werden.
Kanalinseln:Die Insel der weißen Igel
Weil den Tieren hier keine Gefahr droht, konnten sich auf Alderney hellhäutige Igel behaupten, die es ansonsten nur selten gibt. Besonders wohl fühlen sie sich auf einem Cricket-Platz.
Paul McVeigh hat für diesen Band beinahe ausschließlich Texte ausgewählt, die in den vergangenen drei, vier Jahren entstanden sind, einige speziell für diese Anthologie. Es sind literarische Texte, keine Reiseschilderungen. Und doch bereitet einen dieses Buch besser vor auf einen Besuch in Irland - inklusive Nordirland -, als es die meisten Reiseführer vermögen. Weil es im Kern immer um Geisteshaltungen auf der Insel geht, um die Wunden der Teilung, die Folgen des Brexit, um die Auswirkungen von wirtschaftlichen Aufschwüngen und Niedergängen der jüngeren Zeit. Es geht um Heimatverbundenheit vor dem Hintergrund einer Verödung des ländlichen Raums, den man als Tourist vielleicht pittoresk findet. Darum, dass Suizid und Homosexualität erst seit zwanzig Jahren entkriminalisiert sind, was die alte Ordnung zwar erschüttert, aber noch nicht automatisch dazu geführt habe, dass sich "der Griff ihrer Knochenhand um den Hals ihrer Jugend" rasch gelockert habe, wie Dave Lordan in "Memoir" schreibt.
In den Geschichten treffen aktuelle Lebenseinstellungen aufeinander und erzeugen Reibung. Spiegelt sich der Alltag der Menschen - und das, wofür Irland und Nordirland heute stehen.
Paul McVeigh (Hrsg.) : Irland. Eine literarische Einladung. Aus dem irischen Englisch von Hans-Christian Oeser u. a. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022. 144 Seiten, 19 Euro.
Somerville & Ross : Durch Connemara. Mit dem Eselskarren in Irland. Aus dem Englischen von Elvira Willems. Aviva Verlag, Berlin 2022. 168 Seiten, 20 Euro.