Interview:Lockruf der Wildnis

Die Hirschbrunft, die Ende September ihren Höhepunkt erreicht, ist ein großes Spektakel - besonders im Schweizerischen Nationalpark.

Von Hans Gasser

Im Val Trupchun, einem Hochtal des Schweizerischen Nationalparks, geht es gerade zur Sache: Bis zu 450 Hirsche versammeln sich dort jedes Jahr zum Brunftspektakel. Das zieht an Wochenenden schon mal bis zu 800 Schaulustige an, denn nirgends sonst in den Alpen kann man als Tourist die sonst äußerst scheuen Tiere am helllichten Tag so gut beobachten. Hans Lozza, Hirschliebhaber und Leiter der Öffentlichkeitsarbeit beim Nationalpark, erklärt, warum diese Tiere so große Faszination ausüben, und wie man den Besucherandrang managt.

SZ: Herr Lozza, was macht das Val Trupchun so attraktiv für Hirsche?

Hans Lozza: Das ist die Geologie, der Boden. Wir haben hier sonst vor allem Dolomitgestein, auf dem nicht so viel wächst. Im Val Trupchun hingegen gibt es Kalk und fruchtbaren Schiefer, dadurch sehr viel nahrhaftes Gras und andere Pflanzen, die die Hirsche vor dem Winter gut gebrauchen können. Und die Brunft ist für die Hirschstiere natürlich sehr anstrengend.

Beobachten der Hirschbrunft

Bis zu 180 Kilo schwer und voller Hormone: Nur selten kommt man einem Hirsch so nahe wie zur Brunftzeit.

(Foto: Hans Lozza/Schweizerischer Nationalpark)

Warum machen die das?

Schuld daran ist der im September steigende Hormonspiegel bei den Stieren. Die dominanten Hirsche suchen sich dann eine Gruppe von Hirschkühen, die sie decken wollen und gegen Nebenbuhler verteidigen. Deshalb röhren sie, um zu zeigen: Das ist mein Harem, hier brauchst du nicht herzukommen.

Und dann kämpfen sie?

Nein, es kommt nicht so oft zum Kampf, wie man denkt. Dringt ein anderer Hirsch ein, laufen die zwei erst einmal parallel am Hang entlang, das kann man gut beobachten. Da entscheidet sich, ob sie wirklich mit dem Geweih aufeinander losgehen, was ja hohe Verletzungsgefahr bedeutet. Oft dreht der schwächere Hirsch schon vorher ab.

Und in der Brunft verlieren sie ihre Scheu vor Menschen?

Nicht ganz, aber einen großen Teil davon. Während Rotwild unter dem Jahr selten zu sehen ist, weil es Menschen schon auf zwei Kilometer wittern kann, kommt manch brunfttoller Hirsch im Val Trupchun schon mal bis auf 20 Meter heran. Das ist dann sehr eindrücklich, noch dazu, wenn sie röhren in dem engen, widerhallenden Tal, da schlägt bei manchen Besuchern die Faszination auch mal in Angst um. Die normale Beobachtungsdistanz hier ist aber eher 400 Meter. Man steht auf der einen Seite des Tals und schaut auf den anderen Hang hinüber.

Hans Lozza

Hans Lozza, 54, arbeitet seit 24 Jahren beim Schweizerischen Nationalpark: „Einmal hat mich fast ein brünftiger Hirsch überrannt.“

(Foto: Schweizerischer Nationalpark)

Ist das Spektakel schon in vollem Gang?

Nein, noch nicht. Bisher war es zu warm, da sind die Hirsche weniger aktiv. Jetzt wird es kühler und regnerischer, dann legen sie sich mehr ins Zeug. Deshalb sind warme sonnige Tage zur Beobachtung gar nicht so gut, sondern eher etwas kälteres Wetter.

Wie leiten Sie die Besuchermassen?

Wir haben im Schweizerischen Nationalpark ganz strikte Regeln. Niemand darf die Wege verlassen. Falls das doch passiert, werden hohe Bußgelder verhängt. Unsere Mitarbeiter sind jetzt immer draußen. Es gibt jeden Donnerstag und Freitag geführte Touren, die Guides haben Fernrohre dabei. Vom Parkplatz geht man etwa zwei Stunden bis auf die Alp Trupchun, auf etwa 2000 Meter.

So hoch?

Ja, Hirsche sind keine reinen Waldtiere. Im Sommer halten sie sich auf bis zu 2700 Metern auf, nur im Winterhalbjahr leben sie vor allem in den Wäldern. Und sie sind auch nicht von Natur aus nachtaktiv. Dies ist nur eine Folge der menschlichen Störung, die hier im Nationalpark gering ist.

Rundherum findet gerade die Jagd statt. Flüchten die Hirsche in den Park?

Eigentlich nicht, denn es gibt auch außerhalb Wildschutzzonen. Aber, ja, in Graubünden gibt es etwa 5500 Jäger, das ist schon viel. Allerdings dürfen die großen Kronenhirsche nur an zwei Tagen in der Saison geschossen werden. Die sind wichtig für eine gesunde, starke Population, deshalb gibt es diese Regelung.

Beobachten der Hirschbrunft

Es kommt nicht so häufig vor, aber wenn zwei kapitale Hirsche kämpfen, ist die Verletzungsgefahr hoch.

(Foto: Hans Lozza/Schweizerischer Nationalpark)

Und kommen zu Ihnen viele Fotografen, um die kapitalen Hirsche abzulichten?

Ja, die kommen, müssen sich aber natürlich auch an das Wegegebot halten. Ich selbst fotografiere auch seit Langem Hirsche, oft allerdings außerhalb des Nationalparks, wo man in Verstecken ausharrt und das Sozialverhalten der Tiere gut beobachten kann. Die Kühe führen ja noch die Kälber von diesem Jahr und oft auch noch eins vom vergangenen Jahr. Sie kommunizieren dauernd miteinander. Dazu kommen die Stiere, bis zu 180 Kilo schwer. Das hat schon manchmal was von Serengeti ...

Was für Tiere sieht man hier noch?

Es gibt viele Gämsen, auch Steinböcke und Rehe. Dazu Steinadler und vor allem Bartgeier, die sehr erfolgreich wieder eingebürgert wurden. Die Chance, den größten Vogel der Alpen hier zu sehen, ist relativ hoch. Im und rund um den Schweizerischen Nationalpark gibt es mittlerweile zehn Brutpaare, auch im Val Trupchun wurde in diesem Jahr erfolgreich ein junger Bartgeier aufgezogen. Die Vögel ernähren sich von den Knochen verendeter Tiere, und da es bei uns so viel Wild und unzugängliche Gebiete gibt, finden sie hier genug Futter.

Beobachten der Hirschbrunft

Bis zu 800 Naturinteressierte kommen an einem schönen Tag während der Hirschbrunft auf die Alp Trupchun.

(Foto: Hans Lozza/Schweizerischer Nationalpark)

Ist der Nationalpark Wildnisgebiet?

Ja, absolut. Wir greifen hier überhaupt nicht ein, entnehmen keine Pflanzen und keine Tiere. Die Natur hat freien Lauf. Nur die Menschen müssen wir eben ein wenig anleiten, damit sie die Wildnis nicht beeinträchtigen. Es ist ein interessantes Naturexperiment.

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