Süddeutsche Zeitung

Insel San Pietro:Abgeschiedene Welt

Die Insel San Pietro vor Sardinien ist der westlichste Punkt Italiens - und näher an Tunesien als am Festland. Die Einwohner haben sich eine spezielle Sprache bewahrt und pflegen auch sonst so manche Eigenheit. Die Abgeschiedenheit bedauert hier niemand.

Von Helmut Luther

Das Geschäft von Mario Sandolo liegt am Ortsrand von Carloforte, dem einzigen Dorf auf der Insel San Pietro vor der Westküste Sardiniens. Der Laden ist zweigeteilt: Rechts befindet sich der Verkaufsraum für Fisch und Meeresfrüchte, links können Gäste auf neonfarbenen Plastikstühlen verzehren, was bei Mario ausgewählt und von seiner Frau auf zwei Gasflammen zubereitet wurde. "Kostet wenig, und frischer geht es nicht", sagt der Fischhändler.

Er werkelt gerade hinter der Theke, über seinem Kopf hängen Plakate mit Daten zur römischen Geschichte. "Unter Diokletian mussten die Söhne das Handwerk ihrer Väter erlernen", sagt er und zeigt auf eines der Plakate, auf dem die Jahreszahl 476 eingekreist ist - jenem Jahr, in dem Kaiser Romulus Augustulus abgesetzt wurde, dem Jahr, in dem das Römische Reich faktisch zu Ende ging. "Uns wird es nicht besser ergehen", grollt Sandolo. "Ist ja kein Wunder, dass die Krise kein Ende nimmt, wenn alle nur stöhnen, statt mehr zu arbeiten." Ein neuer Caesar muss her, das wünscht sich der stämmige Endfünfziger. Mehr Disziplin, mehr Söhne, die die Arbeit der Väter übernehmen. Sandolos Söhne schließen zwar bald ihr Hochschulstudium ab. "Aber draußen in Sardinien", sagt er und zuckt resigniert mit den Schultern.

Sardinien liegt in Sichtweite von San Pietro. Für die Überfahrt benötigt die Fähre nur etwas mehr als eine halbe Stunde. Nach Rom ist es von hier indes eine kleine Weltreise. Näher als das italienische Festland liegt die tunesische Küste mit dem Ort Tabarka. Das erklärt vielleicht, warum sich die Einwohner von San Pietro - sie nennen sich Tabarkini oder Carlofortini - weder als Sarden noch als hundertprozentige Italiener fühlen.

Auf der Vulkaninsel gibt es keinen Flughafen. Weil das Meer zwischen Sardinien und dem Eiland ziemlich flach ist, bleibt die Insel für große Schiffe unerreichbar. Carloforte, das 5000 Einwohner zählende Städtchen, besteht aus kubischen Häusern, die eine Hügelkuppe überziehen. Zwischen den verschachtelten Gebäuden erstreckt sich ein Labyrinth enger Gassen, steinerner Bögen und Treppenaufgänge.

Am Lungomare, wo die Fähren anlegen, wacht die überlebensgroße Marmorstatue von Carlo Emanuele III. Mit dem König von Savoyen beginnt 1738 die lokale Geschichte. Fischer aus Pegli bei Genua, die seit dem 15. Jahrhundert auf Tabarka gelebt hatten, erhielten 1738 von Carlo Emanuele III. die Erlaubnis zur Besiedlung des damals noch menschenleeren Eilands. "Ein kluger Schachzug", erläutert Nicolo Capriata, ein ehemaliger Biologielehrer, der mehrere Bücher über San Pietro verfasst hat und manchmal Besucher durch seinen Heimatort führt. "Geschützt vom Maestrale-Wind, entwickelte sich Carloforte bald zu einem der wichtigsten Häfen im westlichen Mittelmeer."

Dank jahrhundertelanger Abgeschiedenheit konnten sich die Insulaner ihre Kultur und Sprache erhalten, das Tabarkin. Bei der Sprache handle es sich um einen archaischen ligurischen Dialekt, sagt Capriata, "der mit zahlreichen arabischen Lehnwörtern durchsetzt ist." Ein Sprachwissenschaftler aus Genua arbeite gerade an einer Tabarkin-Grammatik, erzählt der 66-Jährige, der im Menschengewühl nur langsam vorankommt. Dauernd wird er mit "ciao prof" von ehemaligen Schülern begrüßt. Dann folgt ein Palaver, von dem Ortsfremde, auch wenn sie gut Italienisch können, kein Wort verstehen.

Über Steinstufen geht es zu den Überresten eines Kastells hinauf, nebenan im Dorfmuseum illustrieren alte Geräte und Fotos die Geschichte des Thunfischfangs. "Alles Vergangenheit. Das Wenige, was man heute noch fängt, wird sofort nach Japan geliefert", sagt Capriata, um wieder auf das Tabarkin zurückzukommen. "Der erste Band der Grammatik, ein 700-Seiten-Wälzer umfasst gerade mal die Anfangsbuchstaben A-C!" Dass San Pietro immer noch schwer erreichbar ist, findet Nicolo Capriata gut. "Könnten hier Kreuzfahrtschiffe anlegen oder würde uns eine Brücke mit Sardinien verbinden, veränderte sich der Inselcharakter." So hingegen bleibe auf San Pietro alles überschaubar. Es gebe kaum Kriminalität, die überlieferten Bräuche würden auch von den Jungen gepflegt.

Bedeutende Bauwerke oder andere kunstgeschichtlich relevante Sehenswürdigkeiten zeigt der pensionierte Lehrer auf dem Rundgang keine - es gibt sie nicht. Für den Rest des Tages empfiehlt Capriata "herumhängen", das machten die Einheimischen auch. Ohnehin kommen die meisten Inselgäste wegen den hübschen Strände oder zum Schnorcheln zwischen den Korallenriffen. Oder sie umrunden die etwa 50 Quadratkilometer umfassende Insel mit dem Fahrrad.

Am quirligen Lungomare mit seinen Bars und Andenkenläden weht stets ein erfrischender Wind. In den schattigen Seitengassen, unter einem Gewirr von Elektrokabeln und zum Trocknen aufgehängter Wäsche, sitzen Fischer in kleinen Gruppen zusammen, um Muschelfleisch auf ihre Angelhaken zu spießen. Auf einmal steht man vor dem sogenannten Palast des Proletariats, dem vielleicht schönsten Haus von Carloforte. Der mächtige, säulenverzierte Bau aus unverputztem Lavagestein gehöre dem Inselvolk, erzählt stolz der Barista, der Barkeeper, im Erdgeschoss des Palazzos. "Früher hatten hier die Gewerkschaften das Sagen, unsere Insel galt als rote Hochburg."

Heute flattert an der Fassade die Fahne der Reformkommunisten, aus einem geöffneten Fenster dringen aufgebrachte Männerstimmen. Ein Schild weist den Weg zum Parteisitz im Obergeschoss, wo man am Ende eines schummrigen Ganges plötzlich in einem karg möblierten Saal steht. Die sorgfältig gekleideten Herren, die hier die Faust auf den Tisch hauen und dazu wüste Flüche ausstoßen, planen jedoch keinen Umsturz. Sie spielen nur Karten. Und ignorieren das sonst im ganzen Land befolgte Rauchverbot.

Am Abend servieren die Restaurants am Lungomare ligurisch-tabarkinische Kost. Panzerotti zum Beispiel, das sind mit Spinat und Pecorino-Käse gefüllte Teigtaschen, Couscous oder Nudeln mit Pesto. Schon der Schriftsteller Ernst Jünger hat "Pietros Langusten und Fischsuppen" gefeiert, ebenso wie "die späten Gänge am Hafen und in den erleuchteten Gassen von Carloforte". Acht oder neun Mal hat der Insektenkundler die Insel besucht; er forschte nach dem hier endemischen Cicindela campestris saphyrina, einer Unterart des Feld-Sandlaufkäfers. Gefunden hat er ihn allerdings nicht.

Nicht nur Insekten, auch vom Aussterben bedrohte Vogelarten haben auf San Pietro Rückzugsgebiete. So turnt schon am Morgen eine mit Ferngläsern bewaffnete Gruppe auf den Klippen vor dem Capo Sandalo herum. Das Kap, eine einsame Gegend, wird von einem Leuchtturm überragt. Er markiert den westlichsten Punkt Italiens. Hier draußen, wo sich der salzige Duft des Meeres mit dem Aroma der Macchia vermischt, gibt es keine Häuser, nur ein paar verkrüppelte Sträucher und bizarre, von der Erosion scharf zugeschliffene Felsen.

Etwa 120 Eleonorenfalken-Paare, informiert eine bebilderte Tafel, ziehen in den Klippen am Kap Sandalo ihren Nachwuchs auf. Aber Stunden vergehen, ohne dass sich ein Falke blicken lässt. Als die Gruppe schließlich aufgibt und zum Parkplatz zurückkehrt, schreckt dort im Gestrüpp neben dem Wärterhäuschen ein graues Federvieh auf - der Laie denkt gelangweilt an einen Sperling. "Eine Sardengrasmücke!", flüstert hingegen der eilig herbeigelaufene Wärter.

Für solche Momente, sagt er, würden Ornithologen extra aus ganz Europa anreisen.

Informationen

Anreise: Flüge von München nach Cagliari hin und zurück ab ca. 300 Euro. Zur Isola di San Pietro am besten mit dem Leihauto. Fähren nach Carloforte verkehren von Portovesme oder Carloforte etwa im Stundenrhythmus, traghettifacile.it

Unterkunft: B&B Il Ghiro, an der Piazza Repubblica, DZ ab 70 Euro pro Nacht; Tel.: 0039/33 82 05 05 53, info@carlofortebedandbreakfast.it; Hotel California, Via Cavallera 15, DZ ab 80 Euro, Tel.: 0039/ 07 81 85 44 78, www.hotelcalifornia-carloforte.it

Weitere Auskünfte: Tourismusinformation an der Hafenpromenade: Tel.: 0039/07 81 85 40 09, www.prolococarloforte.it, auf der Insel werden geführte Touren zur Vogelbeobachtung angeboten: Tel.: 0039/ 33 82 77 63 07, oasi.carloforte@lipu.it

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SZ vom 16.05.2013/cag
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