Individualreisen:Mit dem Auto über die Anden

Hinter der Teerstraße geht's weiter: Auf uralten Pfaden unterwegs zwischen Argentinien und Chile.

Daniel Veith

Bloß wieder lebend von diesem Pass herunterkommen - dieser Gedanke schießt einem durch den Kopf, wenn man die rauschenden Wasser einer weiteren Furt mit dem Pick-up zerpflügt. Der von der mineralienhaltigen Erde in vielen Ocker- und Brauntönen gehaltene Gletscherbach scheint von Mal zu Mal immer tiefer und steiniger zu werden. Bisweilen schwappt das trüb-lehmige Wasser sogar über die Kühlerhaube und spritzt zinnoberrote Tränen an die Windschutzscheibe. Überall dort, wo die enge Hochgebirgsschlucht das Flussbett zu einer scharfen Kurve zwingt, stauen sich körnige Eisschollen und begraben unter sich die am Bachrand sprießenden Büschelgräser und Moose, die letzten Fragmente organischen Lebens.

So gestaltet sich die Lage in etwa 3500 Metern Höhe auf einer gottverlassenen Schotterpiste mitten in den Zentralanden. Anvisiertes Ziel: das Dach Amerikas. Hier, in den Provinzen La Rioja und Catamarca im Nordwesten Argentiniens, türmt sich das steinerne Rückgrat des Kontinents zu seinen gewaltigsten Gipfeln empor; hier, im Grenzbereich zu Chile, stößt man auf das höchstgelegene Gebiet außerhalb des Himalaya.

Zum Pircas-Negras-Pass führt eine von nur zwei mühevoll der unwegsamen Landschaft abgerungenen, notdürftig in die schroffen Berghänge und zerklüfteten Täler hineingescharrten Trassen. Diese führen über die zyklopische Gebirgsbarriere von Argentinien nach Chile . Unión, ein kleines argentinisches Provinzstädtchen, ist Ausgangspunkt dieser Hochanden-Expedition.

Vor anderthalb Jahren erst wurde das Nest aus seinem Dauerschlaf geweckt. Seither kommen fast täglich Fünf-Sterne-Reisebusse aus Buenos Aires, Rosario oder Córdoba angerauscht mit verwöhnten Touristen, die im brandneuen Luxushotel die Nacht verbringen.

Am folgenden Tag wird man das Valle de la Luna oder den um die Ecke gelegenen Talampaya-Canyon besichtigen. "U-Boot", "Pilz" und "Sphinx" sind nur drei jener seltsamen, von Wind und Wetter modellierten Steingebilde, die in jedem Reiseprospekt vermarktet werden.

In Erwartung all dieser bekannten Natursehenswürdigkeiten nehmen ihn die meisten gar nicht erst wahr: jenen in weiter Ferne am Ende des Tals flimmernden, sich noch weit über den kargen Hauptwall der Anden hinausreckenden Eisgiganten, den fast 7000 Meter hohen Vulkan Bonete.

Mit dem Auto über die Anden

Selbst wenn man als gruppenscheuer Individualreisender und Bergenthusiast gerne einen Ausflug dorthin unternehmen wollte, würde man die Idee nach einem Blick auf die Landkarte doch schnell wieder aufgeben: Eine akzeptable Teerstraße führt zwar bis zu der siebzig Kilometer nördlich von Villa Unión gelegenen Ortschaft San José de Vinchina; eine weitere gestrichelte Linie schlängelt sich von dort aus noch einmal vierzig Kilometer gen Westen, endet aber dann im Nichts - viel zu weit noch von dem Bergriesen entfernt.

Vom Massentourismus noch unentdeckt

Nur die Einheimischen wissen, dass es trotzdem noch weitergeht: Auf uralten Pfaden gelangt man durch die Anden hinüber zum Pazifik. Im vorigen Jahrhundert wurde der Gebirgspass vor allem von Hirten benutzt, die auf ihm Rinder und Schafe ins benachbarte Chile trieben.

Zeugnis dafür, dass die Geschichte dieses vom Massentourismus noch unentdeckten Transandenwegs sogar bis in präkolumbianische Zeit zurückreicht, ist ein mysteriöses Relikt vergangener indigener Kulturen am Ortsausgang von Vinchina.

Links von der Straße sieht man einen von sechs in dieser Gegend gefundenen, nach den hier lebenden Ureinwohnern benannten "Diaguita-Sternen": kreisförmige, künstliche Hügel aus roter Erde, auf die mit violetten, schwarz-blauen und weißen Kieseln ein sternförmiges Mosaik gelegt wurde. Sie dienten vermutlich als Opferstätten.

Ein Ersatzkanister zur Sicherheit

Wer mit dem Auto nach Chile fahren will, sollte in Vinchina nochmals nachtanken und zur Sicherheit einen Ersatzkanister mitnehmen; die nächste Tankstelle kommt erst nach fast vierhundert Kilometern in der chilenischen Wüstenoase Copiapó. Hinter dem Diaguita-Stern holpert man auf einer erbärmlichen Rüttelpiste hinein in den Cordón de los Colorados.

Durch dieses schorfige Vorgebirge hat der mit Schmelzwassern aus den Anden genährte Río de la Troya eine atemberaubende Schlucht gefräst. An einer Stelle beschreibt der Fluss eine Hundertachtzig-Grad-Drehung und lässt in der Mitte eine kühn gezackte Insel aus Jahrtausende alten Erdschollen stehen.

Mit dem Auto über die Anden

Mitten in einer zwischen dem Los-Colorados-Kamm und der eigentlichen Anden-Hauptkette sich ausbreitenden, staubigen Ebene gelangt man in das aus wenigen Lehmhütten bestehende Dorf Alto Jagüé. Die Hauptstraße ist das körnige Bett eines ausgetrockneten Flusses, das sich während den sommerlichen Regenfällen mit Wasser füllt und immer tiefer ausgehöhlt wurde, so dass es heute drei Meter unter dem Niveau der Häuser verläuft.

Von Juni bis Oktober - also im Winter der südlichen Hemisphäre - bleiben die Andenpässe offiziell gesperrt. Keine Straße sei in dieser Zeit des Jahres passierbar, sagt der Zöllner. Außerdem gebe es in Alto Jagüé nur Maultiere, mit denen man Tage brauche, um zum Pass hinaufzukommen.

Geteiltes Gebirge

Die Laguna Brava ist ein auf mehr als 4000 Metern Höhe am Fuß des Vulkans Bonete liegender Gletschersee. Vor zwanzig Jahren hat man die Umgebung des Gewässers zum Schutz seiner vielen dort lebenden Vicuñas - den graziöseren Verwandten des Lamas - zum Naturreservat erklärt.

Der Pircas-Negras-Pass durchquert das Gebiet und markiert zugleich die Südgrenze jener Zone, welche einen bedeutenden geografischen Knotenpunkt bildet: Die sich bei Feuerland im äußersten Süden des Kontinents aus dem Atlantik erhebenden Anden teilen sich hier in eine Ost- und Westkordillere, um zwischen sich einer "Puna" oder "Altiplano" genannten Hochebene mit unzähligen Salzseen Platz zu machen.

Je weiter man in die abweisende Ungewissheit der Anden vorstößt, je höher man sich also auf dem gewundenen Schotterband hinaufschraubt, desto beunruhigender und aufreibender wird die Szenerie: In großer Höhe bricht ein Klotz aus der Wand und entfesselt eine Lawine. Immer unangenehmer werden auch die Sandlöcher, in denen das Auto stecken bleiben könnte.

Hinter dem Refugio El Peñón, einem der steinernen Schutzquartiere, die im 19. Jahrhundert von der argentinischen Regierung als Unterschlupf für die Hirten gebaut wurden, geht es steil bergauf. Das Farbspektrum reicht von Dunkelrot und Kaffeebraun, Preußischblau und Schwefelgelb bis Aschgrau und Graugrün und Violett.

Mit dem Auto über die Anden

Immer schmaler und brüchiger wird der Weg über den abschüssigen Berghang, bis er in den weiten Schuttfeldern endet, die sich in sanft-flaumigen Wellen zum tiefblauen, fast wolkenlosen Horizont ausdehnen.

Hinter der ersten Passhöhe liegt die Laguna Brava wie ein langgestreckter, blendend weißer Spiegel vor der monumentalen Kulisse eines Hochgebirgspanoramas: Bonete, Pissis, Reclus, Los Gemelos und allen voran, der elegante Kegel des Veladero - fünf der mächtigsten Vulkane der Erde, ein jeder mehr als sechstausend Meter hoch. Zusammen mit zehn weiteren, in Catamarca und Chile liegenden Sechstausendern - sieben der fünfzehn höchsten Gipfel Amerikas - bilden sie eine phantastische vom ewigen Eis ummantelte Krone. Die höchste Erhebung ist der Ojos del Salado, welcher nach neuesten Satellitenmessungen dem Aconcagua als höchstem Berg der Südhalbkugel den Titel streitig macht.

Nur dem Orientierungssinn nach

4300 Meter über dem Meeresspiegel - fast so hoch wie das Matterhorn - sind an der Laguna Brava aber noch lange nicht der Rekord: Richtung Norden ginge es jetzt, über Stock und Stein, ohne Wegweiser und Straßen, nur dem Orientierungssinn nach - noch einmal vierzig Kilometer weiter und weitere 1200 Meter höher. Dort oben, im Zentrum des von Veladero, Bonete und Pissis gebildeten Dreiecks, öffnet sich eine fast kreisförmige, fünf Kilometer breite Depression.

Es ist ein vor Urzeiten durch eine vulkanische Explosion entstandener Krater, in dem sich türkisfarbenes Schmelzwasser gesammelt hat: die Corona del Inca, die "Krone des Inka". Der Weg dorthin führt vierzig Kilometer ins weglose Nichts, immer nur dem Himmel entgegen. Bleibt man beim Überqueren der Geröllfelder stecken, so droht eine fatale Nacht bei höchstens minus dreißig Grad Celsius. Das Benzin wird beim Heizen der Fahrerkabine ausgehen, und die beiden Ersatzkanister halten auch nicht ewig.

Die letzten Strahlen des Tages werden bereits von den höchsten Andenspitzen zurückgedrängt, als der Fahrer die Vorkordilleren hinter sich lässt, und allmählich kommt man wieder in die greifbare Nähe menschlicher Siedlungen.

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