Individualreisen in China:"Darf ich Ihr Bein streicheln?"

Wer auf eigene Faust durch China reist, muss auf einiges gefasst sein - auch auf die Neugier und Hilfsbereitschaft der Chinesen.

Henrik Bork

Da standen sie nun, Catherine und Maxime, gerade in Peking gelandet, und schon schauten sie ein wenig hilflos und verloren aus der Wäsche. Im Internet hatte das junge Paar aus Montreal ein Kezhan gebucht, ein chinesisches Billighotel für Rucksacktouristen. Aber der Taxifahrer hatte keine Ahnung, wo es sein könnte. Schließlich hatte er sie einfach vor einer anderen Herberge abgesetzt, dem "Dream Hostel" in der Nähe der Südlichen-Trommel-und-Gong-Gasse.

Vielleicht gehört diese "Traumherberge" ja dem Onkel einer Cousine der Nichte des Taxifahrers. Oder er war einfach nur nett und wollte den Ausländern helfen. So genau wissen Catherine und Maxime das bis heute nicht. Wer nicht Chinesisch kann und als Individualtourist nach China reist, der versteht nicht sofort alles, was da so vor sich geht, und das ist vielleicht auch ganz gut so.

An der Rezeption versuchten die beiden, doch noch ihr vorbestelltes Hotel ausfindig zu machen. "Alle waren wahnsinnig nett, versuchten uns zwei Stunden lang zu helfen, aber am Ende haben wir unser Hotel doch nicht gefunden", sagt Catherine. "Wir haben dann beschlossen, einfach im Dream Hostel zu bleiben", sagt Maxime. Es gibt Schlimmeres, als da auf einer Bank vor dem Hotel zu sitzen, den Verkehr in einer Hutong zu beobachten, einer Pekinger Altstadtgasse, und erst mal ein kaltes Bier aus der Flasche zu trinken. Eines von vielen ganz persönlichen China-Abenteuern hat begonnen.

Auch zwei Jahre nach den Olympischen Spielen, für die angeblich alle Pekinger Taxifahrer Englisch gelernt haben, jedenfalls war damals davon viel zu lesen, auch zwei Jahre danach also bleibt die Verständigung das größte Problem für alle, die sich auf eine Individualreise durch China einlassen.

Knapp zwölf Millionen ausländische Touristen haben im vergangenen Jahr China besucht, eine Million weniger als 2008. Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise hat auch in diesem Bereich China nicht verschont. Allerdings macht die Nationale Touristenbehörde keine Unterscheidung zwischen Gruppen- und Einzelreisenden.

Auch wenn der Großteil der Ausländer weiterhin eine Gruppenreise nach China bucht, die Zahl der Individualreisenden nimmt zu. Die Volksrepublik könnte schon in ein bis zwei Jahrzehnten das meistbesuchte Land der Erde sein, wie Professor Haivan Song von der Hong Kong Polytechnic University prognostiziert. Er geht von mehr als einer Verdoppelung der Ankünfte in China in den nächsten fünf Jahren aus.

Hilfsbereit gegenüber Wildfremden

Eloi ist jetzt schon unterwegs, ganz allein. Der 22-jährige Student aus Barcelona stand Anfang dieses Monats auf einer Landstraße von Lanzhou nach Longnan, "in the middle of nowhere" also, wie die internationale Bruderschaft der Rucksacktouristen das gerne nennt. Nehmen chinesische Autofahrer Anhalter mit? Eloi hatte keine Ahnung. Aber ausprobieren wollte er es schon.

Zuerst hielt niemand an. Dann kam ein Polizist, der ihn zum Busbahnhof fahren wollte. Eloi konnte ein paar Brocken Chinesisch und machte ihm mit einiger Mühe klar, dass er lieber trampen wollte, einfach so, gar nicht mal aus Geldmangel. "Da schaltete der Polizist sein Blaulicht ein, hielt mit der Kelle einen Autofahrer nach dem anderen an, bis wir einen gefunden hatten, der mich mitnahm", sagt Eloi.

Beispiele für die Hilfsbereitschaft der Chinesen, für die Wärme, mit der sie wildfremden Ausländern begegnen, ziehen sich wie ein roter Faden durch fast alle Gespräche mit Chinareisenden.

Zum Beispiel mit Darrel Eikenberry aus Camden, USA, 60 Jahre alt. Er reiste mit dem Bus nach China ein, aus Alma-Ata in Kasachstan über abenteuerliche Straßen bis nach Urumqi in der chinesischen Nordwestprovinz Xinjiang. Im Bus lernte er zwei junge Chinesen kennen, die nur ein paar Worte Englisch konnten, "vielleicht Bruder und Schwester, genau weiß ich es nicht".

Als Darrel in Urumqi ein Ticket für den Überlandbus nach Peking kaufen wollte, hatte er nicht genug Geld in der Tasche. 1006 Yuan, umgerechnet 116Euro, sollte die Reise kosten. "Bevor ich auch nur wusste, was geschah, hatten meine neuen Freunde das Ticket für mich bezahlt, einfach so", erzählt Darrel. "Vielleicht täusche ich mich, aber ich glaube einfach nicht, dass so etwas bei uns daheim in den USA passieren könnte."

Vor knapp 30 Jahren, als China dank der "Reform- und Öffnungspolitik" des inzwischen verstorbenen Altpolitikers Deng Xiaoping seine Grenzen nicht nur für Croissants aus Paris, für Models und Modeschauen und Volkswagenwerke aus Wolfsburg, sondern auch für oft bärtige und kauzige Rucksacktouristen aus aller Welt zu öffnen begann, da waren Reisen mit dem Überlandbus noch meist die einzige Option.

Komfort statt Akrobatik

Die Züge waren oft so überfüllt, dass man beispielsweise auf einer zehnstündigen Fahrt von Xining nach Lanzhou buchstäblich nicht ein einziges Mal mit den Füßen den Boden berühren konnte. Man "schwebte" stattdessen, eingequetscht zwischen anderen Reisenden, während das Gepäck über deren Köpfen allmählich woanders hinwanderte. Die Pioniere des Alleinreisens in China erzählen, wie sie damals manchmal ihre Hosen herunterlassen und ihr nacktes Hinterteil aus dem Fenster eines Busses oder Zuges in den Fahrtwind halten mussten, weil die Toilette unerreichbar oder nicht vorhanden war.

Heute ist solche Akrobatik kaum noch erforderlich. China hat in den vergangenen Jahren ein effizientes und weit gespanntes Netzwerk von Eisenbahnlinien aufgebaut. Viele neue Hochgeschwindigkeitszüge rauschen mit mehr als 300 Stundenkilometern durch das Land. So etwa von Peking in die rund 100 Kilometer entfernte Hafenstadt Tianjin. "Exakt vier Lieder auf dem iPod" habe es gedauert, da war sie auch schon am Ziel, erzählt eine Reisende. Und für die mehr als 700 Kilometer lange Strecke von Wuhan nach Guangzhou braucht der neue Zug nur noch etwas mehr als drei Stunden, früher waren es zehn.

Doch Zugreisen in der Provinz können immer noch ein Abenteuer sein, das oft in der Begegnung mit der bäuerlichen Bevölkerung besteht. In den Berichten in den Reiseblogs im Internet sind genügend Erlebnisberichte zu finden, die das belegen. Da fragt etwa ein chinesischer Mann einen kurze Hosen tragenden Ausländer, ob er einmal dessen Beine streicheln dürfe, weil er noch nie Körperhaare gesehen habe. Er habe sich ein wenig "wie ein Affe" gefühlt, berichtete der Reisende.

Die meisten Individualreisenden sagen, dass sie sich in China sicher fühlen. "Du kannst auch nachts herumlaufen", sagt Welly Gandiri-Mhuri aus Harare in Simbabwe. "In anderen Ländern müsstest du da Angst haben, totgeschlagen zu werden." Trotzdem passieren natürlich auch in China schreckliche Dinge, und hier und da ist auch von Individualreisenden zu lesen, die es erwischt hat.

Während der Olympischen Spiele vor zwei Jahren ging ein Chinese vor einer der größten Touristenattraktion Pekings, dem Trommelturm, mit einem Messer auf zwei Familienangehörige des Trainers des US-Volleyballteams los. Eines der Opfer starb, eines wurde schwer verletzt. Tom Dawson, ein 24-jähriger Brite, der wochenlang allein durch China gereist war, wurde im Oktober 2002 mit durchgeschnittener Kehle und mehreren Kopfwunden auf der Großen Mauer bei Peking gefunden. Alles in allem aber sind solche Berichte selten - auch wenn nicht ganz klar ist, ob das teilweise an der chinesischen Pressezensur liegt.

Die meisten China-Abenteuer aber sind von eher harmloser Natur: ein Schock beim Anblick blutender Yakhaxen auf einem Marktstand in Tibet. Eine stinkende öffentliche Toilette irgendwo in der Provinz Gansu, die bei ihrem Besucher dauerhafte olfaktorische Erinnerungen zurücklässt. Eine Ansage im auf der Landebahn wartenden Flugzeug, dass ein Teil der Steuerung kaputtgegangen und der Pilot gerade losgelaufen sei, um ein Ersatzteil zu kaufen. Ein geklautes Portemonnaie. Solche Dinge.

Die meisten Reisenden sagen am Ende Sätze wie Maxime aus Montreal, als er mit seiner Bier auf der Bank vor dem "Dream Hostel" sitzt: "China ist großartig. Ich weiß jetzt schon, dass ich unbedingt wiederkommen will."

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