In der Wüste von Marokko:Zu Fuß durch die Stille

In der Wüste ist Schönes oft giftig, kann jeder Fußtritt und das Fotografieren des Sonnenuntergangs gefährlich werden. Warum eine Nacht im Sand dennoch wunderbar ist.

Thomas Becker

Als der Himmel mit seiner Sonnenuntergangsshow anfängt, haben wir andere Sorgen. Es steht 8:6 für die Gegner. Zwei Treffer noch bis zur Schmach, zur Niederlage im Duell Barfuß gegen Bergstiefel. Hier die teutonischen Rumpelkicker in klobigen Tretern, da die geschmeidigen, blankfüßigen Hausherren. München gegen Marrakesch, drei gegen drei, ausgetragen im Irgendwo der marokkanischen Wüste, kurz vor der algerischen Grenze, in einem knochentrockenen Wadi, in dessen holprigen Bänderrissrinnen der Ball springt, wohin er gerade will. Die fünf Fans haben uns schon den Rücken gekehrt, richten die Kameraobjektive lieber auf den Sonnenuntergang, den alten Angeber. Wir sind allein, Marrakesch führt. Und jetzt kommt auch noch die Nacht. Diese unbedingte, lautlose Tiefschwarznacht.

Es war ein weiter Weg bis zu diesem Spiel. Elf Stunden für 450 Kilometer von Marrakesch über den schneebedeckten Atlas, vorbei an den Kasbahs im Draa-Tal, hinein in die Welt der Dünen. Dort, in Mhamid am Rand der Sahara, wo sich das dünne Asphaltband der N 9 im Sand verliert, haben die Jeeps erst einmal Pause. Jetzt werden in einer windgeschützten Mulde die Zelte aufgebaut, und es wird Abendessen zubereitet. Mit der Dunkelheit kehrt Ruhe ein. Kein Handy-Empfang. Kein Stadtgeräusch. Überhaupt kein Ton mehr. Die letzte größere Siedlung hieß Ouarzazate, was "ohne Lärm" bedeutet. Nur der Himmel beginnt zu rumoren. Ein heftiges Unwetter mit Blitz und Donner erleuchtet die Gebirgskette. Dennoch: Der Schlaf in der ersten Zeltnacht kommt schnell, trotz des heftigen Windes draußen. Zu anstrengend waren die Stunden im Jeep.

Am nächsten Morgen geht es zu Fuß weiter, was anstrengend ist. Schuld an all dem ist Hieronymus Jerome Blösser, ein drahtiger Mittvierziger mit Kinnbärtchen aus Berlin. Seit zehn Jahren stiefelt der Mann durch die Wüsten dieser Welt: Nordafrika, Mauretanien, Namibia, aber auch China und Indien. Er war auch schon mit Motorrad, Lkw und Geländewagen unterwegs, doch zu Fuß gehen, sagt er, sei die einzig adäquate Art des Reisens in der Wüste. Seit ein paar Jahren lässt Blösser andere an diesen Erfahrungen teilhaben, aber nie mehr als zehn auf einmal. Massenkarawanen sind nicht sein Ding. Die meisten seiner Gäste suchen ein seltenes Gut: Stille. Und davon bekommt man in der Tat reichlich. Was umso intensiver wirkt, wenn man es am Auftakt der Reise misst: Marrakesch.

Eine Million Einwohner, Pferdekutschen und Eselgespanne, Mopeds, Dieselmotoren, schreiende Händler, Gaukler, Wunderheiler und Schlangenbeschwörer, dröhnende Werkstätten und gackernde Hühner veranstalten ein Lärmen und Gewimmel, dass einem schwindlig wird. Einzig die Störche auf den Dächern strahlen so etwas wie Ruhe aus. So stellt die Wüste schon am zweiten Tag alles in den Schatten, was Marrakesch an Aufregungen zu bieten hat.

Spuren der Gefahr

Das Zeltaufbauen fällt am zweiten Abend aus: Wir schlafen im Freien. Diesmal ist kein Gewitter in Sicht, nur tiefstes Schwarz. Erst als die ersten Sterne ihre Arbeit aufnehmen und brav zu leuchten beginnen, bekommen die neben dem Wadi aufragenden Dünen Konturen. Unfassbar, wie viele Nachtarbeiter da oben an jedem Flecken der Erde Dienst tun und meist doch nur vom Großstadtsmog verdeckt bleiben. Jerome und der Guide Mahmoud kennen eine Menge von ihnen, nur ist es nicht so einfach, dieses Wissen weiterzugeben: "Ihr seht ja den ganz Hellen da", sagt Jerome, "von da aus schaut ihr jetzt nach rechts hinten, und der bildet wiederum mit dem da drüben..."

Und so ist der schönste Teil des Wüstenabends der, wenn die Teller geleert, die Lagerfeuerlieder gesungen und die Schlafsäcke auf dem weichen Wüstensand ausgerollt sind. Wenn man im T-Shirt in der lauen Nacht auf dem Rücken liegt, den Fußball als Kopfkissen, und ins All schaut; sich mit jeder Minute mehr entspannt und fast nicht mehr an die Schlangen- und Skorpion-Geschichten denkt. Schon gar nicht an die lästige Angewohnheit dieser Tiere, es sich im ausgezogenen Schuhwerk der Wüstenwanderer bequem zu machen. Die muffigen Kickstiefel werden sie ja hoffentlich davon abhalten. Irgendwann rollt dann der Ball weg, der Kopf sinkt in den Sand und der Mensch in den Schlaf.

Einschlafen mit dem Mond - aufwachen mit den ersten Strahlen der Sonne. "Wir müssen zeitig losmarschieren, bevor es zu heiß wird", ordnet Karawanenführer Jerome an. Wir sind nicht alleine unterwegs: Ein paar Dromedare scheinen den gleichen Weg zu haben, von Horn- und Sandvipern sehen wir zum Glück nur Spuren im Sand, ebenso vom Fennek, einem Wüstenfuchs.

Wir lernen, wie man in der Wüste navigiert, und dass es auch recht gespenstische Nomadenfriedhöfe mit spitzen, senkrechten Steinen im Sand gibt. Wir erfahren, dass der birkenähnliche Oscher-Baum, auch Sodomsapfel genannt, im immergleichen Sand zwar eine nette Erscheinung abgibt, aber ein giftiges Wolfsmilchgewächs ist. Und dass Tee ohne Schaum für Berber in etwa so ist, wie ohne Czech, ihren Turban, in die Wüste zu gehen: undenkbar. Wir wundern uns, wie Raben und silberne Ameisen hier überleben können, und wie die Natur es hinkriegt, immer wieder neue, messerscharfe Bügelfalten in die gewaltigen Dünen zu zaubern.

Nach vier Stunden, neun Kilometern und 500 Höhenmetern dünauf, dünab sind wir platt, kriechen ins schattenspendende Zelt und warten auf die Nacht, die Wunderbare. Nur ein paar Unentwegte stiefeln mit den Kameras noch einmal los: Sonnenuntergang fotografieren. Das ist nicht ganz ungefährlich, denn in der schnell hereinbrechenden Dämmerung sieht eine Düne aus wie die andere, und schnell ist die Orientierung verloren.

Wenn dann alle wieder von ihren Ausflügen zurück sind, der Wind gestorben ist, sämtliche Kichererbsen und Linsen der Harira-Suppe vom Teller geschleckt sind und man wieder weich liegt, den gestirnten Himmel über sich, alle Ruhe der Welt in sich, dann kommen sie tatsächlich: die Sternschnuppen. Hundertfach, stundenlang. Bis einem die Wünsche ausgehen. Na ja, fast.

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