Süddeutsche Zeitung

Im Schatten der Eiger-Nordwand:Auf den Hörnern der weißen Riesen

Lesezeit: 6 min

Nur versierte Bergsteiger sollten sich an die Eiger-Nordwand wagen, zu unberechenbar sind die Bedingungen an dem Koloss. In Sichtweite jedoch kann man auf den Lobhörnern trainieren. In märchenhafter Landschaft.

Von Titus Arnu

Noch eine Seillänge bis zur Zipfelmütze. Stephan Siegrist reibt sich kurz die Hände warm, schnappt sich das Seil und klettert los. Scheinbar mühelos zieht er sich die glatten Felsen hoch, nutzt schmale Bänder als Tritte und winzige Kanten als Griffe. Nach zwei Minuten ist Siegrist außer Sichtweite, ein paar Minuten später hallt seine Stimme von den gegenüberliegenden Felswänden wider: "Okay! Stand!" Er ist schon oben an der Zipfelmützen-Spitze.

Die Zipfelmütze sieht exakt so aus, wie sie heißt: Es handelt sich um einen langen, oben etwas schräg hängenden Zipfel aus weiß-grauem Fels, dem eigentlich nur ein plüschiger Bommel fehlt. Der 2480 Meter hohe Gipfel gehört zu einer Gruppe von fünf Bergen im Berner Oberland, die wie die Zacken einer Riesenechse auf einem Rücken hoch über dem Lauterbrunnental sitzen. Sie sehen aus, als gehörten sie eigentlich nicht hierher, sondern eher in die Dolomiten - oder in einen Fantasy-Film. Daumen, Zipfelmütze, Kleines und Großes Lobhorn, so heißen die Zacken. Über die steinernen Hörnchen hinweg führt eine technisch mittelschwere (bis Grad 5-), ziemlich lange Kletterroute. Die Kraxelei über Daumen und Zipfelmütze bis zum Großen Lobhorn dauert drei bis vier Stunden.

Als die anderen Kletterer oben bei Stephan Siegrist ankommen, wabern Nebelschwaden um die bizarr geformten Kalk-Zacken. Weiter unten, beim Zustieg von Sulwald, hatte es noch genieselt, jetzt setzt sich die Sonne durch. Der Blick von der Zipfelmütze geht über eine watteartige Wolkendecke zum berühmten Dreigestirn Eiger-Mönch-Jungfrau. Beim Klettern durch die märchenhafte Landschaft hat man stets die Eiger-Nordwand als Kulisse im Hintergrund. Es ist fast so, als würde man an einem bizarr geformten Zwergen-Gebirge herumklettern, während drei weiße Riesen einem dabei stumm zuschauen. Die Lobhörner stehen zwar im Schatten der Eiger-Nordwand, doch unterschätzen sollte man sie nicht.

Kaum einer kann das besser beurteilen als Stephan Siegrist. Der 42-jährige Alpinist aus Ringgenberg bei Interlaken gilt als eine Art Hausmeister der Eiger-Nordwand, er hat dort mit Ueli Steck neue Routen erschlossen, Geschwindigkeits-Rekorde aufgestellt und die Felswand im Winter wie im Sommer gemeistert. Zu den Leistungen seiner bisherigen Bergsteigerkarriere gehören Erstbesteigungen auf verschiedenen Kontinenten, er war an den schwersten Bergen Nordamerikas, der Antarktis und Patagoniens unterwegs. Siegrist gilt als alpinistisches Universaltalent, er kennt sich im Bouldern und Sportklettern ebenso gut aus wie mit dem Bigwall-, Eis- und Mixedklettern. Zu seinen Spezialitäten gehören zudem Hochseilakte auf der Highline. So balancierte Siegrist zum Beispiel vom Schweizer Matterhorn-Gipfel zum italienischen Gipfel, in 4470 Meter Höhe.

Dennoch ist Siegrist auch bei einer für ihn ziemlich einfachen Tour wie der Lobhörner-Überschreitung hoch konzentriert. Nebenbei hat er genug Puste, um über Parallelen zwischen Nordwand und Lobhörnern zu reden. Die Überschreitung der Zacken ist im Winter eine beliebte Eingehtour für die Eiger-Nordwand. Der Kalkfelsen ist ähnlich glatt und hart, man muss gut auf den Füßen stehen und kann das Klettern an steilen Wänden mit Steigeisen üben, und das alles ohne die großen Gefahren, die in der Eiger-Nordwand drohen: Steinschlag und fallende Eisbrocken kommen an den Lobhörnern eher selten vor.

Verglichen mit den lustig anmutenden Namen der Hörnchen machen einem manche Namen der Schlüsselstellen in der Eiger-Nordwand schon Angst: Schwieriger Riss, Bügeleisen, Weiße Spinne, Wasserfallkamin. Die Eiger-Nordwand erhebt sich 1800 Meter hoch über der Kleinen Scheidegg bei Grindelwald, sie gehört zu den schwersten Wänden der Alpen. Obwohl Stephan Siegrist in einem Dorf bei Bern aufgewachsen ist und schon als junger Sportkletterer wichtige große Nordwände der Alpen wie Grandes Jorasses, Matterhorn und Große Zinne gemacht hatte, wagte er sich erst im Alter von 20 Jahren an den Eiger. Bei seiner ersten Durchsteigung der Wand, einer Winterbegehung, wäre Siegrist fast gescheitert, weil seine ausgeliehenen Schuhe zwei Nummern zu groß waren.

Als er die Eiger-Nordwand zum 30. Mal für ein Projekt seines Sponsors Mammut bewältigte, passten die Schuhe, Phasen des Aufstiegs wurden sogar mit einer Panoramakamera auf dem Helm aufgezeichnet. Die Aufnahmen machen die legendäre Heckmair-Route Schritt für Schritt virtuell erlebbar. Der Nutzer blickt in die Höhe oder Tiefe und kann den Verlauf der Route der Erstbesteiger studieren ( www.project360.mammut.ch). Beim Betrachten der Aufnahmen hat man den Eindruck, als stehe man selbst mitten in der Wand.

Im Vergleich dazu müssten einem die zwei Seillängen zur Zipfelmütze geradezu lächerlich vorkommen. Tun sie aber nicht. Und das sei auch richtig so, sagt Stephan Siegrist. Er achtet in jeder Situation darauf, nicht den Respekt vor dem Berg zu verlieren. Das gilt besonders für die Eiger-Nordwand. Obwohl er dieses 1800 Meter hohe Bollwerk aus Fels und Eis durch seine vielen Aufstiege sehr gut einzuschätzen weiß, hat er immer noch große Achtung vor den Tücken der Wand. "Erfahrung hilft natürlich schon", sagt Stephan Siegrist, aber auf frühere erfolgreiche Begehungen kann man sich nicht verlassen. Die Verhältnisse sind jedes Mal anders: "Manchmal kommt es mir supereasy vor, so als könnte ich mit den Händen in den Hosentaschen hochlaufen", scherzt Stephan Siegrist, "ein anderes Mal kommt man in einen Föhnsturm und hat extrem harte Bedingungen." Plan- und beherrschbar ist dieser Berg nie: "Die Natur zeigt dir immer die Grenzen auf, das ist ja gerade das Spannende daran."

Anderl Heckmair, Mitglied der deutsch-österreichischen Vierer-Seilschaft, der 1938 die Erstbegehung der Eiger-Nordwand gelang, schrieb einige Jahre danach: "Wer mit Sicherheit eine solche Wand durchklettern kann, muss sich wohl erhaben fühlen über alle menschlichen Kleinigkeiten." Stephan Siegrist sieht das nicht so, er würde kaum behaupten, dass menschliche Kleinigkeiten dadurch unbedeutend werden. Fest steht trotzdem, dass die Wand nur sehr guten Alpinisten vorbehalten ist: "Für die Nordwand braucht man nicht nur ein großes Selbstvertrauen", sagt Stephan Siegrist, "sondern vor allem hohes technisches Können." Wer sich an diesen Berg heranwagt, muss ein abgerundeter, vielseitig talentierter Bergsteiger sein. Man muss mit Steigeisen klettern können, und zwar bis zum sechsten Schwierigkeitsgrad, man muss sicher und ausdauernd aufsteigen, sich in extrem steilen Gelände gut orientieren und geeignete Routen finden können, notfalls auch im Abstieg.

Am Ende entschweben wir mit Nordwand-Blick

Ab und zu kommt es dennoch vor, dass Leute, die diese Voraussetzungen nicht mitbringen, in die Eiger-Nordwand steigen und es einfach mal probieren. Die meisten von ihnen müssen relativ schnell einsehen, dass diese Wand ein paar Nummern zu groß ist für sie. Im Vergleich zu Bergen mit ähnlich großen Namen gibt es aber relativ wenig Unfälle, da die klettertechnischen Hürden bei der Eiger-Nordwand einfach zu hoch sind. In manchen Jahren mit schlechten Bedingungen schaffen es nur eine Handvoll Seilschaften durch die Wand, es gibt aber auch Tage mit perfekten Bedingungen, an denen fünf bis sechs Seilschaften unterwegs sind. Im Vergleich zum Matterhorn oder zum Mont Blanc, wo während der Saison bis zu 300 Leute täglich auf den Gipfel wollen, ist das wenig.

An den Lobhörnern könnten die Bedingungen nicht besser sein, es ist nicht zu kalt und nicht zu warm, der Fels ist trocken, nur der Nebel verschleiert manchmal den Blick auf die Viertausender. Aber was sind gute Verhältnisse in der Heckmair-Route am Eiger? "Viel Schnee im unteren Bereich", erklärt Stephan Siegrist, "weil man im kompakten Schnee schneller steigen kann als auf rutschigem Fels." Im Schwierigen Riss sollte es möglichst trocken sein. Weiter oben auf der Rampe und dem Götter-Quergang darf der Schnee nicht zu pulvrig sein, je besser der Schnee mit dem Felsen verbunden ist, desto leichter geht es. Dazu kommt noch das Timing: Je nach Sonnenstand wächst die Lawinengefahr in bestimmten Bereichen der Wand. Wer es nicht rechtzeitig schafft, muss in der Wand biwakieren - ein Erlebnis mit spektakulärer Aussicht auf den Thuner See, Interlaken und das Flachland.

Oben auf der Zipfelmütze wünscht man sich, fliegen zu können. Wäre es nicht märchenhaft, jetzt einfach abzuheben und hinunter zu schweben nach Interlaken? Solche Gedanken kommen Stephan Siegrist, der ansonsten mit beiden Beinen fest auf dem Felsboden steht, während seiner Routen häufiger. Gerne kombiniert er verschiedene Techniken zu einem Gesamtprojekt, wie bei der Route "Magic Mushroom" in der Eiger-Nordwand. 2009 gelang ihm zusammen mit Thomas Senf und Ralf Weber die erste freie Begehung dieser extrem schweren Route am Pilz, einem Felsvorsprung in der Nordwand; anschließend sprang er mit einem Basejumping-Schirm vom Pilz aus in die Tiefe.

"Es war immer mein Traum, die zwei Elemente Erde und Luft miteinander zu verbinden", sagt Siegrist. Dazu kommt noch der verlockende Gedanke, den anstrengenden Abstieg durch einen Flug zu verkürzen. Diese Idee denkt er nach der Kletterei über die Lobhörner konsequent zu Ende: Am Fuß des Großen Lobhorns warten Gleitschirm-Piloten mit Tandem-Schirmen. Nachdem sich der Nebel verzogen hat und eine geeignete Wiese gefunden ist, schweben wir sanft aus dem zackigen Märchenland - hinunter an den Thuner See, mit Blick auf die Eiger-Nordwand.

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Quelle:
SZ vom 11.09.2014
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