Süddeutsche Zeitung

Hütten in den Alpen: Blaueishütte:Raphael am steilen Hang

Die Blaueishütte im Berchtesgadener Land war ständiger Veränderung unterworfen - die Wirtsfamilie jedoch ist seit drei Generationen dieselbe.

Florian Sailer

Es gibt wohl nur wenige gleichzeitig so hübsche und so nahrhafte Flecken in den Berchtesgadener Alpen wie die Terrasse der Blaueishütte: Auf dem Tisch stehen zum Beispiel hausgemachte Kuchen, von denen die Stammgäste überzeugt sind, dass es auf und über 1680 Metern Meereshöhe keine besseren zu kaufen gibt.

Und fast direkt hinter der Kaffeetasse ragt der Hochkalter auf, ein eindrucksvoller Berg und überlebenswichtiger Schattenspender für den Blaueis, den nördlichsten Gletscher der Alpen. Die Kulisse stimmt, die Verpflegung auch.

In erster Linie ist die Hütte aber ein Schutzhaus im Hochgebirge mit einer ganz besonderen Geschichte: 1928 konnte Raphael "Raphe" Hang die Blaueishütte, damals ein einfaches Selbstversorgerhaus unterhalb des Hochkalter, erstmals pachten und bewirtschaften.

In der kommenden Saison 2010 übernimmt nun dessen 30-jähriger Enkel Raphael III. die Hütte von seinen Eltern Brigitte und Raphael II. Dann ist die Blaueishütte seit 82 Jahren und drei Generationen in Familienhand. Der Wirt hieß immer und heißt weiterhin: Raphael Hang.

Während Berghütten normalerweise einige Pächtergenerationen überleben, ist es in diesem Fall die Hütte, die es mit der Treue nicht immer so genau nahm. Schon die Ur-Hütte musste Lawinenabgänge über sich ergehen lassen. Unter Raphael I. wurde erstmals erweitert, er baute das Verpflegungsangebot aus und bemühte sich um eine Alkoholkonzession.

Nach Kriegsende überrollten ausgebombte Städter die Alpen und das Blaueisgebiet auf der Suche nach Erholung und Lebensmitteln ohne Bezugsschein.

Deshalb bereitete die Alpenvereinssektion Hochland den Umzug in die unterhalb gelegene, größere und nutzlos gewordene Wehrmachtshütte vor. Diese brannte allerdings im Mai 1946 bis auf die Grundmauern nieder: Brandstiftung.

In einem Gerichtsprozess, dem das Nachrichtenmagazin Der Spiegel 1953 drei Seiten widmete, wurde der damalige Forstmeister Georg Küsswetter des Verbrechens überführt. Der Forstmeister, so das Protokoll, habe sich mit dubiosen Methoden und einem patriarchalischen Führungsstil rund um Ramsau sein eigenes kleines Königreich geschaffen.

Bis 1918 war die Talgemeinde Ramsau nämlich bayerisches Hofjagdgebiet gewesen. Der "Ramsauer Nero" Küsswetter und einige Jäger sahen sich offenbar weiter in dieser exklusiven Tradition und ihre historischen Pfründe durch touristischen "Bergpöbel" (Küsswetter) in Gefahr.

Außerdem fürchtete der Forstmeister die Umtriebe der Amerikaner am Blaueiskar sowie eine erneute Annexion des ehemals salzburgischen Ruperti-Winkels durch Österreich. Er stachelte sein Gefolge zur Brandstiftung an.

Die Prozessunterlagen lesen sich wie das Drehbuch für einen Heimatfilm. Um den Wiederaufbau der Wehrmachtshütte zu verhindern, ließ Küsswetter die verbrannten Mauern zusätzlich sprengen.

Anstelle des Umzugs in die größere Wehrmachtshütte blieb für die Sektion Hochland und die Wirtsfamilie Hang also nur der Ausbau der alten Blaueishütte. Im Zuge dessen wurde der Giebel um 90 Grad gedreht, um die Hütte lawinensicher zu machen. "Die haben gedacht, die Lawine nimmt die Hütte dann als Sprungschanze", sagt Raphael II. Der Plan ging nicht auf.

Nach Weihnachten 1955 meldet Hermann Buhl, Wahl-Ramsauer und Erstbesteiger von Nanga Parbat und Broad Peak, die Blaueishütte sei verschwunden. Eine Staublawine hatte sich ganz offensichtlich nicht ablenken lassen.

Die Hütte am Blaueiskar aufzugeben, kam für Raphael I. trotz dieser Rückschläge nie in Frage. "Es hat immer weitergehen müssen, das war klar", erinnert sich Raphael II. Sein Vater improvisierte mit einem Zelt aus Balken und Planen, auf einem Lagerfeuer kochte er für Helfer und Bergsteiger. Aus brauchbaren Resten entstand rasch eine Nothütte.

Die Sektion Berchtesgaden übernahm das Gebiet und ließ die Blaueishütte an ihrem heutigen Standort neu aufbauen, 300 Meter Luftlinie vom alten entfernt und diesmal wirklich lawinensicher.

Im Jahr 1976 übergab Raphael I. die Hütte nach fast fünf Jahrzehnten an seinen Sohn und dessen Frau Gitti. Für Hüttenruhe zu sorgen, war für die jungen Pächter anfangs nicht leicht: "Ich konnte als junges Mädel die alten Bergsteiger nicht ins Bett schicken. Manche sind einfach mit der Taschenlampe hocken geblieben", sagt Gitti Hang. Heute ist das anders. Die Wirtin versteht inzwischen bei abendlichen Sitzenbleibern keinen Spaß mehr.

Der Liebe wegen war sie einst aus Westfalen nach Bayern gezogen. Das extreme Leben zwischen Berg und Tal hat ihr fast immer viel Freude bereitet: "Die meisten Bergsteiger sind ja nette Leute, die ihren Frust schon beim Aufstieg abgebaut haben", sagt sie. "Manchmal frag' ich mich aber schon, wie das nächstes Jahr wird, wenn ich nicht mehr um fünf aufstehen, Frühstück richten und Kuchen backen muss." Bis zu 15 Kuchen können es an einem Wochenende sein.

Vorwiegend Kletterer im Gästebuch

Kamen früher überwiegend erholungssuchende Wanderer aus der Stadt, sind die Gäste der Blaueishütte mittlerweile vorwiegend Kletterer. "Wir sind heute zu 80 Prozent eine Ausbildungshütte", sagt Juniorchef Raphael III.. Der DAV Summit Club veranstaltet seit mehr als 30 Jahren Alpinlehrgänge auf der Blaueishütte.

Mehr als 5000 Übernachtungen kommen in einer Saison zusammen. Erfahrene Alpinisten treffen auf der Gletscherblick-Terrasse auf Alpin-Neulinge, die am nächsten Morgen ihre erste gechalkte Hand an eine Felswand legen. Die Nacht im Matratzenlager endet zeitig mit geschäftigem Karabinergeklimper und Funktionsjackengeraschel.

Das Blaueisgebiet reicht vom einfachen Klettergarten bis zu Mehrseillängentouren in der Nähe des X. Grades. Mit dem benachbarten Watzmann ist der Hochkalter ohnehin schwer vergleichbar: Drüben geht es meistens um einen großen Namen im Gipfeltagebuch, herüben steht alpines Erfahrungsammeln und Lernen im Vordergrund.

Ein dicker Ordner mit Routenprofilen in der Umgebung gibt reichlich Anregung. Unter einigen Touren steht als Entdeckername Raphael Hang. Vor der Hütte liegen außerdem reichlich Kalkbrocken herum: Anspruchsvolle Boulder mit guter Sicht auf den hausgemachten Apfelstrudel.

Die alpine Leidenschaft hat der Opa an den Vater und der Vater an den Sohn weitergegeben. Auch der dritte Raphael ist Bergführer und bei der Bergwacht aktiv. Wie seine Vorgänger ist er ein drahtiger Sportler, der lieber klettern geht, als große Reden zu schwingen.

Auch er ist den Sommer über in der ruhigen Umgebung am Blaueiskar aufgewachsen und im Tal zur Schule gegangen. "Die Hütte ist meine Heimat", sagt er. Dass er dieser Heimat und der Familientradition treu bleiben will, war ihm schnell klar. Zeit, die Welt anzuschauen, nimmt er sich im Winter, wenn die Hütte zu ist. "Aber ein Berg sollte schon in der Nähe sein", sagt er.

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Quelle:
SZ vom 6.8.2009/dd
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