Süddeutsche Zeitung

Hotel in der Schweiz:Kraftwerk für Gäste

Anreise unterirdisch, Essen und Lage himmlisch: Das Grimsel Hospiz ist derart entlegen, dass man im Winter nur durch Stollen hinkommt. Oben herrscht eine ganz besondere Atmosphäre.

Von Titus Arnu

Wenn ein Hotel laut Selbstbeschreibung "verkehrsgünstig gelegen" ist, bedeutet das oft: direkt an der Durchgangsstraße oder neben einer Bahnstrecke. Das Grimsel Hospiz ist das extreme Gegenteil von "verkehrsgünstig gelegen". Es befindet sich zwar geographisch gesehen mitten in der Schweiz, aber zentral im Sinne von gut erreichbar liegt es wirklich nicht. Und das ist in diesem Fall eine wesentliche Qualität. Das historische Berghotel thront in knapp 2000 Metern Höhe auf einem Felssporn hoch über dem Grimselsee. Die Straße über den Grimselpass ist im Winter gesperrt. Wer ein Zimmer im Hospiz reserviert hat, hat eine sehr spezielle "Erlebnisanreise" vor sich, die man vorab für 74 Franken buchen muss.

Das wohl entlegenste Vier-Sterne-Hotel der Schweiz erreicht man nur in Begleitung eines eigens dafür ausgewiesenen Besucherführers. Die Gäste treffen sich am Parkplatz der Kraftwerke Oberhasli AG (KWO) in Innertkirchen im Berner Oberland. Das Grimsel Hospiz gehört der KWO, einem der wichtigsten Arbeitgeber der Region. Die Elektrizitätswerke produzieren mit einem weit verzweigten System von acht Staumauern, kilometerlangen Stollen, 13 Kraftwerken und 28 Turbinen jährlich 2400 Gigawattstunden Strom. Wer das Hotel im Winter erreichen will, muss zunächst einmal diese Kraftwerkswelt durch- unter- und überqueren - ein Abenteuer für sich.

Zuerst geht es mit dem Postbus auf der geräumten Straße bis zum Weiler Handeck, wo mehrere Stollen von fünf weiter oben gelegenen Stauseen zusammenkommen. Die Gäste steigen hier um in eine Luftseilbahn, die über die tief verschneite Passstraße hinweg bis zum Gerstenegg schwebt. Da in der Kabine nicht genug Platz ist für alle, wartet die zuerst eingeschwebte Gruppe in einem Pausenraum für Kraftwerksmitarbeiter. Sobald alle an der Station Gerstenegg sind, geht es ein Stück zu Fuß weiter, in den kühlen, feuchten Stollen, der so groß ist, dass Lastwagen und Maschinen hindurch passen. Die Gäste steigen in Kleinbusse, und die Fahrt geht weiter, bergauf durch den beleuchteten Tunnel.

Beim nächsten Umsteigehalt muss man etwas länger zu Fuß gehen, durch das Herz des Kraftwerks, wo der Boden vibriert und summt von den riesigen Turbinen, die sich im Untergrund drehen. Schließlich muss man ein paar Stahltreppen hochkraxeln und wieder in eine andere Gondelbahn umsteigen. Nach eineinhalb Stunden ist das Ziel erreicht: das Grimsel Hospiz.

Oben findet man sich einer anderen Welt wieder. Der Blick geht auf die steile Staumauer, den zugefrorenen Grimselsee, das markante Finsteraarhorn, mit 4274 Metern höchster Gipfel der Berner Alpen. Neben der Staumauer sind Kräne in den Felswänden verankert, während des Sommers wird hier gearbeitet: Die Staumauer wird durch einen Neubau ersetzt. Im Winter ist es absolut ruhig, man hört nichts außer dem Wind, der Schneewolken über den eisigen Boden der Aussichtsterrasse fegt.

Das Grimsel Hospiz ist in Sichtweite, es sind nur ein paar Schritte bis zum tief verschneiten Eingang. Rechts und links türmen sich meterhohe Schneeberge auf. Eisig kalte Böen zischen einem ins Gesicht, auf 2000 Metern Höhe im Winter ganz normal. Nicht ganz normal erscheint die erste Person, die einem hier oben begegnet: Ein Herr, der nur eine Badehose, eine Sonnenbrille und eine Pfeife im Mundwinkel trägt. Er dampft ganzkörperlich und schnauft freundlich "Grüezi!"

Es würde einen nicht wundern, tauchte hier ein Herr mit Gehrock und Zylinder auf

Neben dem historischen Hotel stehen eine fassförmige Sauna und ein Hot Pot, in dem das Wasser träge blubbert wie Käse in einem Fondue-Caquelon. Trotz Minustemperaturen und strammem Wind sonnen sich einige Badegäste genüsslich auf Liegestühlen, die mit Lammfellen gepolstert sind. Lange hält man es allerdings nicht aus auf dem Sonnendeck, zumal die Sonne schnell hinter den Viertausendern versinkt. Also nichts wie rein in das Hospiz, das einerseits wie eine luxuriöse Raumkapsel mitten im Hochgebirge steht, anderseits auch wie eine Zeitkapsel.

Wer das Gebäude betritt, spürt sofort die spezielle Zauberberg-Atmosphäre. Holzdielen knarren unter den Schritten der Gäste, im Kamin prasselt Feuer, von irgendwoher weht ein Hauch klassische Musik heran. Im Speisesaal decken die Kellner ein für das Abendmenü, im Salon sitzen Paare und blättern stumm in Büchern. Im Arvensaal im ersten Stock klappt jemand den Tastaturdeckel des Flügels auf, spielt dezent die ersten Takte eines Chopin-Preludes und klappt den Deckel wieder zu. Es würde einen nicht wundern, wenn gleich ein Herr mit Gehrock und Zylinder auftauchte, stattdessen taucht ein Herr im Bademantel auf, der gerade aus der Sauna kommt.

Den Betreibern des hoch gelegenen Berghotels ist es gelungen, die historische Grandezza mit modernem Charme zu verbinden. Das Grimsel Hospiz hat eine lange Geschichte, es wurde schon 1142 als erstes Gasthaus des Landes urkundlich erwähnt. Es war eine wichtige Station für Reisende, die zu Fuß oder mit der Postkutsche die Alpen überquerten. Im Sommer ist das Hospiz nach wie vor über die Passstraße zu erreichen. 1920 versank das alte Grimsel-Hospiz im Wasser des Stausees, der Neubau stammt aus dem Jahr 1925 und machte damals als erstes elektrisch beheizbares Hotel Europas Furore. Als Verbindung zwischen der Zentralschweiz und dem Wallis hat der Grimselpass spätestens seit dem Bau des Lötschberg-Basistunnels an Bedeutung verloren, und im Winter ist die Straße sowieso gesperrt. Warum sollte man diese absolute Abgeschiedenheit nicht kultvieren und nutzen? Das dachten sich auch die Betreiber und bieten seit 2015 in der Zeit von Weihnachten bis April exklusive Besuche in dem außergewöhnlichen Hotel an.

Ist die letzte Gondel ins Tal gefahren, kommt eine besondere Atmosphäre auf

Die Anreise zum Grimsel Hospiz mag unterirdisch sein, umso himmlischer ist das kulinarische Niveau dort oben. Im Felsenkeller lagern 300 verschiedene Weine, abends trägt Küchenchef Roman Crkon kreative Gerichte wie Ziegenfrischkäsemousse im Baumkuchenmantel, Emmentaler Entrecôte mit Haselnuss-Kohlrabi und Kaffee-Parfait mit Quitten-Chutney auf. Gastgeber Markus Meyer und seine Frau Maria legen Wert auf regionale und saisonale Elemente, wobei in der direkten Umgebung natürlich kaum etwas Verwertbares wächst außer Edelweiß, Flechten und Enzian. Der "Ice-Label"-Whisky, der in einer Eisgrotte auf dem Jungfraujoch in 3454 Metern reift, zählt ebenso zur regionalen Küche wie Swiss-Lachs aus dem Tessin.

"Wir wollen hier keinen Rummel, und wir wollen auch keine Bratwurst mit Pommes verkaufen", sagt Markus Meyer, der die Arbeit an diesem abgelegenen Platz schätzt: "Das ist ein Kraftort für mich." Selbst wenn alle 28 Zimmer belegt sind, nächtigen nie mehr als 50 Gäste im Grimsel Hospiz. Wenn gegen Abend die letzte Gondel ins Tal abgefahren ist, kommt eine ganz besondere Atmosphäre auf. Gäste und Personal verbringen ein bis zwei Tage gemeinsam auf dieser gediegenen Raumstation, man lernt sich ein bisschen kennen, aber lässt sich auch in Ruhe. Unternehmen kann man eigentlich nichts, und das ist auch gut so. Die Umgebung steht unter Naturschutz und ist komplett ungeeignet für Skitouren, Schneeschuhwanderungen und sonstige Ausflüge, das Gelände ist viel zu steil dafür. Gut, dann bleiben halt alle in der Komfortzone, auch nicht schlecht.

Grimsel Hospiz, geöffnet von Weihnachten bis Anfang April. DZ ab 215 Schweizer Franken, plus Transportpauschale von 74 Schweizer Franken, grimselwelt.ch

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