Hitze-Chaos bei der Bahn:"Ziehen Sie die Notbremse!"

Die Klimaanlage im Zug streikt, Menschen kollabieren: Joachim Kemnitz vom Fahrgastverband Pro Bahn über die Möglichkeiten und Rechte der Passagiere.

Katja Schnitzler

Joachim Kemnitz, Berater und ehemaliges Vorstandsmitglied des Fahrgastverbandes Pro Bahn, über die Möglichkeiten und Rechte der Fahrgäste, wenn im Zug die Klimaanlage streikt und wie am Wochenende ein Hitzekollaps droht. Etliche Passagiere mussten sogar ins Krankenhaus eingeliefert werden.

Hitze-Chaos bei der Bahn: Helfer versorgen am Samstag im Bahnhof Bielefeld Schüler, die in einem ICE wegen defekter Klimaanlage kollabiert waren. Nun ermittelt die Bundespolizei wegen fahrlässiger Körperverletzung gegen die Bahn.

Helfer versorgen am Samstag im Bahnhof Bielefeld Schüler, die in einem ICE wegen defekter Klimaanlage kollabiert waren. Nun ermittelt die Bundespolizei wegen fahrlässiger Körperverletzung gegen die Bahn.

(Foto: dpa)

sueddeutsche.de: Am Wochenende saßen Passagiere in Zügen der Deutschen Bahn fest, deren Klimaanlage ausgefallen waren. Drei ICE mussten evakuiert, etliche Menschen mit Kreislaufkollaps ins Krankenhaus gebracht werden. Was kann man tun, wenn man in einem überhitzten Zug mitfährt?

Joachim Kemnitz: Viele Menschen sind ja wegen Flüssigkeitsmangel zusammengebrochen, also sollte man sich bei Reisen im Sommer immer selbst genügend zu trinken einpacken. Zwar will die Bahn nun ihren Vorrat an nichtalkoholischen Getränken nach dem Vorfall aufstocken - aber wenn der Schaffner damit beschäftigt ist, Informationen zu beschaffen oder mit der Leitstelle spricht und nicht aufzufinden ist, sollte man selbst etwas zur Hand haben.

sueddeutsche.de: Eine Schwangere und eine Frau mit Kleinkind sollen so verzweifelt gewesen sein, dass sie versucht haben, mit dem Notfallhammer eine Fensterscheibe einzuschlagen. Das ist ihnen nicht gelungen. Wie kann das sein?

Kemnitz: Vielleicht sollte man eine aufgeregte Mutter mit einem kollabierenden Kind, die nicht ihre volle Aufmerksamkeit auf das Zertrümmern der Scheibe richten kann, nicht als Maßstab heranziehen. Ich würde sowieso nicht die Fensterscheibe zerschlagen, sondern bei Gefahr für Leib und Leben die Notbremse ziehen.

sueddeutsche.de: Was bringt das, wenn der Zug schon steht?

Kemnitz: Dann muss der Zugführer die Türen öffnen. So kommt wenigstens ein wenig Luft herein, das Kind kann man an die Tür setzen. Da muss die Deutsche Bahn auch ihre Regeln überdenken. Natürlich besteht auf freier Strecke die Gefahr, dass es bei offenen Türen zu Unfällen mit dem Gegenverkehr kommt. Aber dann müsste die Leitstelle diese Strecke eben für den Gegenverkehr sperren. Hier geht das gesundheitliche Wohl vor, auch wenn es zu Verspätungen kommt.

sueddeutsche.de: Was ist, wenn auch im Bahnhof die Türen verschlossen bleiben?

Kemnitz: Wenn hier das Aussteigen verweigert werden würde, hätte man vor Gericht wohl gute Chancen. Das wäre Freiheitsberaubung. Aber zu konkreten Fällen gibt es noch keine Rechtssprechung.

sueddeutsche.de: Haben betroffene Passagiere nach so einem Hitze-Martyrium Anspruch auf Entschädigungen, die über die normalen Leistungen hinausgehen?

Kemnitz: Normalerweise erhalten sie nach dem normalen Fahrgastrecht bei Verspätungen von einer Stunde 25 Prozent, bei zwei Stunden die Hälfte des Ticketpreises zurückerstattet - das ist in so einem Fall nicht viel. Wer gesundheitlich geschädigt wurde, müsste auch über Gerichte gehen und als Unfallopfer klagen. Zum Teil werden das aber die Krankenkassen machen, wie bei anderen Unfällen auch. Doch auch da gibt es noch keine Präzedenzfälle.

sueddeutsche.de: Bleibt das Ticket gültig, wenn Passagiere am Bahnhof aussteigen, weil sie es im Zug gesundheitlich nicht mehr aushalten?

"Die Bahn wird ihre Lehren ziehen"

Kemnitz: Ich würde sagen, dass dann immer noch ein Anspruch auf Weiterbeförderung besteht. Weigert sich die Bahn, sollte man sich an die Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr (SÖP) wenden.

sueddeutsche.de: Alle drei ICE, in denen die Klimaanlagen ausfielen und Menschen zusammenbrachen, sind vom Typ 2 ...

Kemnitz: ... der bisher eigentlich recht zuverlässig gefahren ist. Aber die Züge sind schon 15 Jahre alt, da muss wohl mehr Sorgfalt auf die Wartung gelegt werden. Die Bahn wird sicher Lehren aus den Vorfällen ziehen.

sueddeutsche.de: Am Wochenende musste auch eine Schulklasse von einem defekten Zug in den nächsten Zug mit ausgefallener Klimaanlage umsteigen, der schon völlig überfüllt war.

Kemnitz: Das war auch schon im Winter ein Problem, als so viele Züge wegen der Kälte nicht fuhren. Im Winter musste sogar die Bahnpolizei überzählige Passagiere aus den Waggons holen, was wieder zu Verspätungen führte. Das ist ein zweischneidiges Schwert. Als Fahrgast sollte man unbedingt beim Buchen einen Platz reservieren - gibt es da schon keine freien Sitzplätze mehr, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass dieser Zug überfüllt ist. Dann sollte man sich noch mal überlegen, ob man genau zu dieser Zeit fahren will.

sueddeutsche.de: Was sollte man alles dabei haben, um mit der Bahn sicher ans Ziel zu kommen?

Kemnitz: Im Sommer auf jeden Fall etwas zu trinken. Und man sollte sich so anziehen, dass man auch Kleidung ablegen kann, ohne nackt dazustehen. Sonst kann man nicht viel zusätzlich mitnehmen. Man will sich ja nicht wie für eine Expedition ausrüsten, wenn man mit der Bahn fährt.

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