Hessen:Verzwergt

Am Rande des Nationalparks Kellerwald könnte das Märchen von Schneewittchen entstanden sein.

Von Stefan Fischer

Über dem Eingang des Stollens steht, wie es guter Brauch ist: "Glück auf". Aber der Gruß und vor allem der Name Bergfreiheit, den das Dorf trägt nach seiner ehemaligen Mine, stehen in krassem Widerspruch zu der teilweise schauerlichen Historie dieses Bergwerks, das schon lange nicht mehr genutzt wird, das man aber besichtigen kann.

Manche tun die Geschichte, die Eckhard Sander im Verlauf vieler Jahre über Bergfreiheit und das Grafengeschlecht Waldeck recherchiert hat und die man sich bei einer Führung durch das Bergwerk erzählen lassen kann, selbst als Märchen ab. Doch Sander hat viele Belege und Indizien dafür gefunden, dass hier in Nordhessen, am Rand des Nationalparks Kellerwald-Edersee, die realen Vorbilder für das Märchen vom Schneewittchen zu finden sind. Und dass die sieben Zwerge in Bergfreiheit geschuftet haben, unter unmenschlichen Bedingungen. Die Bergleute haben Erz zutage gefördert, das der Graf benötigte, um seine Herrschaft zu finanzieren. Es gab drei Abbauphasen im 16., 17. und 18. Jahrhundert, die offenbar immer etwa drei Jahrzehnte währten - dann war mutmaßlich das Holz rundherum für die Verhüttung verbraucht. Der Name Kellerwald könnte sich von Köhlerwald herleiten. Wo sich jetzt der Nationalpark befindet, wurde der Wald nicht eingeschlagen. So ist einer der letzten Buchen-Urwälder in Deutschland erhalten geblieben.

Die Lohnlisten des Bergwerks sind gut erhalten. "Denen kann man entnehmen", sagt Eckhard Sander, "dass Kinder in dem Bergwerk gearbeitet haben", zum Teil im Alter von erst acht oder zehn Jahren. Helme gab es noch nicht, die Bergleute trugen Filzkappen. Und die schwere Arbeit unter Tage führte bei den Heranwachsenden zu Verkrüppelungen, Wachstumsstörungen und Frühvergreisung. Wenn die Heranwachsenden nach Tagen und Wochen ans Tageslicht zurückkehrten, konnte man sie durchaus für Zwerge wie jene im Märchen halten.

Wer Bergfreiheit besichtigt, erlebt die beklemmende Enge selbst in dem Teil, der Besuchern offensteht. Das Gangsystem führt aber noch ein paar Hundert Meter weiter in den Berg hinein. "Es gibt Überlegungen, den zugänglichen Bereich zu erweitern", sagt Sander. Bislang dringen nur Mitglieder des Bergwerksvereins hin und wieder weiter in die Mine vor, teilweise kriechend, um auch in entlegenere Stollen zu gelangen. "Besonders gefährlich ist das nicht", sagt Eckhard Sander, weil die Stollen nicht gesprengt worden sind - die Möglichkeit bestand damals noch nicht -, sondern von Hand aus dem Stein gehauen. Aber eben mühsam. "Mehr als zwei oder drei Leute kommen da im Moment nicht auf einmal durch."

Die romantisch-tragische Seite des Märchens von der schönen jungen Frau kann man in unmittelbarer Nähe erleben. Sander hat viele Parallelen zu Schneewittchens Geschichte gefunden in der Vita der Grafentochter Margaretha von Waldeck. Er hat darüber bereits in den 1990er-Jahren ein Buch geschrieben ("Märchen oder Wahrheit?") und seither immer weiter gestöbert. Da er von vielen Märchenforschern als Laie nicht sonderlich ernst genommen wird, erfüllt es ihn sichtlich mit Stolz, dass inzwischen die in den USA lehrende Germanistik-Professorin Claudia Schwabe seine Thesen stützt. Aufbereitet ist die Märchenrecherche im sogenannten Schneewittchenhaus. Es ist ein für die Region um Bad Wildungen herum typisches Einraumhaus, wie es sich in den ersten zeitgenössischen Illustrationen zur Schneewittchen-Version der Brüder Grimm findet. Auch das ist für Sander ein Indiz.

Bergfreiheit vermarktet sich als Schneewittchendorf, inzwischen, sagt Eckhard Sander, kommen auch immer mehr Besucher aus dem Ausland. Dennoch hat die Region einen Hinter-den-sieben-Bergen-Charme; fast alles, was sie sich in Bergfreiheit aufgebaut haben, ist ehrenamtlich geschehen. Aber es ist schließlich ein Ort, an dem Märchen wahr werden.

Reiseinformationen

Anreise: Vom Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe mit einem Mietwagen ins knapp 50 Kilometer entfernte Bergfreiheit bei Bad Wildungen.

Übernachtung: Buchbar über den Heimat- und Verkehrsverein Bergfreiheit, 34537 Bad Wildungen, Telefon: 07 00 / 07 99 37 43, E-Mail: schneewittchendorf@bergfreiheit.de, www.bergfreiheit.de; über die Website bekommt man auch alle Informationen zum Besucherbergwerk und zum Schneewittchenhaus.

Weitere Auskünfte: über den Nationalpark Kellerwald-Edersee: www.nationalpark-kellerwald-edersee.de; Nationalparkzentrum: Weg zur Wildnis 1, 34516 Vöhl-Herzhausen, www.nationalparkzentrum-kellerwald.de; über die Grimm-Heimat: www.nordhessen.de

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