Hamburgs Schanzenviertel:Ein bisschen edel, aber noch derb genug

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Club-Sounds, Latte Macchiato und ein Rest von Anarchie: Die Hamburger Schanze hat die Reeperbahn als neuer Szenekiez abgelöst.

Jens Schneider

Raphael Marionneau wartet an der Bar im "Zoe". Er hält eine Flasche Astra in der Hand. Das Hamburger Bier, bei dem es zum derben Savoir-vivre gehört, aus der Flasche zu trinken. "Geht's dir gut?", fragt der Junge aus Nantes, der vor 15 Jahren nach Hamburg kam. "Setzen wir uns?"

Das letzte besetzte Haus Hamburgs - die Rote Flora prägte das Image der Schanze. (Foto: Foto: AP)

Das Café steht voll alter Polstermöbel, in die man einsinken muss, um nicht ganz verkrampft zu sitzen. Er schiebt seinen Rücken an die Lehne und beginnt im Plauderton zu erzählen, wie er vier Jahre nach einem Ort für "Perle noire" suchte, sein neues Projekt. Bis er aufs "Zoe 3" stieß, eine schwarz eingerichtete Bar, mit warmem Licht. Am Neuen Pferdemarkt, in der Schanze, hinter der Reeperbahn.

Auf der Reeperbahn hat er einst im Mojo-Club begonnen. Sein Cafe Abstrait war Hamburgs erster Chillout-Club. Mit einer Melange aus Klassik, Jazz und elektronischen Tönen prägte der DJ einen Stil. Hamburgs Club-Szene fand mit der Lounge-Musik international Beachtung.

Heute ist Marionneau in Konzertsälen unterwegs, produziert eigene CD-Reihen und Radio-Shows. Nun will er wieder einen kleinen Club groß rausbringen. "Aber der Kiez interessiert mich nicht mehr", sagt er über die Reeperbahn. Anders die Schanze, "die ist eine Marke geworden".

Es klingt, als ob er Chance sagt, wenn der Franzose den Namen des Viertels ausspricht. Zum Start kamen 400 Gäste, das hat sogar ihn überrascht.

Seine Musik ist wie ein Soundtrack zum Lebensgefühl der Latte-Macchiato-Generation. Die ideale Untermalung für den Wandel dieses Stadtteils zum neuen Hamburger Szene-Kiez. Das frühere Schlachthof-Viertel hinter dem St.Pauli-Stadion hat sich in wenigen Jahren zum exquisiten Quartier entwickelt.

"Wenn du sagst, du lebst in der Schanze, klingt das automatisch cool", sagt er. "Es wird zwar ein bisschen edel, aber es ist noch derb genug." Noch vor wenigen Jahren war es zu derb. Als sich eine offene Drogenszene ausbreitete, zogen Familien weg. Was halfen schöne Altbauten und Kneipen, wenn die Sandkiste erst nach alten Spritzen abgesucht werden musste.

Nebeneinander der Extreme

"Als Mutter musstest du dich rechtfertigen, weil du bliebst", erinnert sich Christiane Hollander, die als Rechtsanwältin für "Mieter helfen Mietern" aktiv ist. Heute hört sie andere Sätze, etwa: "Wow, wie bist du an die Wohnung gekommen!" Die wenigen freien Wohnungen könnten sich nur wenige leisten. "Der Bruch kam mit den Werbern." Sie meint die Kreativen aus PR-Agenturen, die den morbiden Charme des Viertels entdeckten. "Für die ist das der Sumpf, in dem ihre Blüten treiben können".

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Schanze zum nicht mehr geheimen Geheimtipp wurde.

Rund um die Rote Flora, dem letzten besetzten Haus Hamburgs im Herzen der Schanze, herrscht ein spannendes Nebeneinander der Extreme.

Vom Bahnhof Sternschanze geht es auf dem Weg zum Café unter den Linden, das zu Hamburgs schönsten zählt, vorbei an exzentrischen Läden, die zugleich originelle Schuhe und guten Wein anbieten, an einem riesigen bunten Stand mit Gemüse und Früchten.

Rundherum weitere Shops mit bizarren Schaufenstern, dazu Cafés und Bars, die alle ihren eigenen Stil suchen, mit Namen wie "Omas Apotheke" oder "Mutter".

An der Flora gibt es noch den linken Buchladen und das Jesus-Center, eine Zuflucht für Obdachlose, und einen der Plattenläden des Viertels. Der Handel mit Vinyl war hier nie ausgestorben.

Erst zogen die neuen Trend-Lokale nur Hamburgs Szene an. Heute ist die Schanze ein nicht mehr geheimer Geheimtipp, auch "die Pinneberger" kommen. So nennt man hier mit leichter Herablassung Vorstädter mit Großstadt-Sehnsucht.

In der Roten Flora erinnert sich Andreas Blechschmidt, ein Besetzer der ersten Stunde, wie alles anfing. Vor zwanzig Jahren sollte ein Musical das leerstehende Theater beleben. Junge Leute witterten Kommerz, sie besetzten das Haus. Der Investor musste in einen schmucklosen Neubau. Die Flora blieb besetzt und zog immer neue Generationen junger Linker an.

Der Protest machte das Viertel interessant

Manche heutige Designer entwickelten beim Erstellen von Streitschriften ihr Talent. Es gibt eine Fahrrad- und Motorradwerkstatt, Übungsräume für Bands. Die Konzerte mit "Noise Punk" darf man sich laut vorstellen. An der Fassade hängen Aufrufe zum Kampf gegen Mackertum und das Versprechen, dass keiner "Frieden mit den herrschenden Verhältnissen" schließen werde.

Früh haben die "Floristen" gewarnt: Im Viertel werde für Leute mit Geld saniert. Genau so sei es gekommen, sagt Blechschmidt. Und die Flora habe den Wandel paradoxerweise noch befeuert. Ihr Protest nährte das schräge Image des Viertels.

Mitunter gibt es noch Zoff mit der Polizei. Aber die Flora gilt längst als Hamburger Folklore, wie der Fischmarkt. Den Platz gegenüber hat die Stadtentwicklungsgesellschaft Steg fein saniert, er heißt jetzt Piazza. Ihr Sprecher nennt es "Innenstadt-Belebung wie aus dem Lehrbuch". Die Modernisierung des Quartiers habe den Absturz verhindert.

Lesen Sie auf der letzten Seite, warum auch ein gutbürgerlicher Bäckermeister sich im Viertel wohlfühlt.

Vis-à-vis der Flora bieten Bars wie das Transmontana Tapas an. Wenn die Floristen Publikum suchen, müssen sie hier nur eine deftige Demo anzetteln. Schräg gegenüber wirbt ein Naturkostladen für Brause mit dem Slogan "Nur Wasserwerfer machen wacher". Im Design neuer Läden spiegelt sich oft die schrille Ästhetik der Flora.

Auf dem Weg zum Kommerz

Im Viertel wird jeder neue Laden beäugt: Treibt er den Ausverkauf voran? Gerade gibt es Unruhe, weil Pläne für ein McDonald's-Restaurant bekannt wurden. "Wieder ein Zeichen auf dem Weg zum Kommerz", sagt die Anwältin Christiane Hollander. "Nichts für Leute von hier."

In einer Runde in der Kneipe Feldstern beschreibt sie, wie fremd sie sich manchmal vor der eigenen Haustür fühle. Im typisch ironischen Hamburger Ton sagt einer: "Die Lockerheit des Café-Publikums engt mich ein." Wie solle man leben, wenn Cafétische auf dem Gehsteig keinen Platz für Kinderwagen lassen? Oder wenn alte Nachbarn mit Rollwagen nicht durchkommen und beschimpft werden, wenn sie sich beklagen?

Die Gruppe hat eine Genossenschaft gegründet. Ihr "Centro Sociale" in einem alten Backsteinhaus des Schlachthofs soll, so Sprecherin Tina Fritsche, ein Forum werden, wo sich Nachbarn helfen, ohne dass alles Geld kostet. "Es macht weiter Spaß hier, und es ist doof zu sagen, alles war früher besser, als hier lauter Restposten-Läden einzogen", sagt Christiane Hollander. Sie hat gelernt, dass viele der Neuen im Viertel kein Fremdkörper bleiben wollen und "gar nicht unsolidarisch sind".

Man kennt viele Geschichten vom Sterben der urwüchsigen Quartiere in großen Städten. Manchmal aber sterben sie gegen alle Prognosen nicht, weil einfach zu viel Leben in ihnen ist.

"Alle gehören ins Viertel"

Wohl wenige kennen die Schanze so gut wie Norbert Stenzel. Er ist mit seinem Café und der Bäckerei seit 1972 am Schulterblatt. Direkt neben der Flora. Anderswo würde ein gutbürgerlicher Bäckermeister vielleicht schimpfen über Autonome.

Von ihm sagen sie, dass er das Typische der Schanze verkörpert, die Toleranz im Umgang. "Wir waren immer der Meinung, dass alle ins Viertel gehören", sagt er. Auch die Flora störte ihn nie. "Wir sollten uns über jeden freuen, der sich engagiert." In unruhigen Zeiten kaufen hier, erzählt er, Polizisten und Protestler ihre Brötchen.

Das Café mit dem schönen Kachelofen und Bildern von Hans Albers verbindet Schanzen-Gegensätze: Auf der Empore sitzen gern alte Herrschaften beim Kännchen Filterkaffee. Vorn wird es unterm prächtigen Leuchter moderner. "Wir haben immer darauf geachtet, dass wir ein bisschen der Schmelztiegel sind."

Rückblickend denkt Stenzel, dass die Schanze stets von jenen geprägt wurde, die nicht viel hatten. "Wer Geld hat, macht 'ne glatte, gerade Sache", sagt er. "Die anderen müssen sich was ausdenken." Daher sorgt ihn, dass sich zunehmend Filialisten breit machen. Aber Angst ums Quartier hat er nicht. "Die neuen Leute kommen ja", sagt er, "weil sie dieses Viertel mögen."

© SZ vom 27.11.2008/lpr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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